Samstag, 31. August 2019

Der Islam war nicht immer nur eine Gesetzesreligion.

aus nzz.ch,

«Den» Islam gibt es nicht
Muslime kennen viele Wege zur geistigen Erneuerung
Der Mainstream-Islam ist heute ein Diktat der Politik. Dabei werden Muslime als Opfer fremder Mächte dargestellt – eine Sicht, die sich viele muslimische Communitys längst zu eigen gemacht haben. Das muss sich ändern.

von Lamya Kaddor  

Unter Muslimen hat sich eine geistige Bequemlichkeit eingeschlichen. Statt die Mühen des eigenständigen Denkens auf sich zu nehmen, verweilen zu viele von ihnen in der Bequemlichkeit der Nachfolge. Sie haften sich an die Glaubensdarstellungen der eigenen Familie, der eigenen kulturellen Gruppe oder der Moscheegemeinde, in der sie sozialisiert wurden, ohne dabei freilich vom absoluten Wahrheitsanspruch abzulassen.

Islamexperten haben sich lange darum bemüht, Nichtmuslimen zu erklären, dass es «den» Islam nicht gibt. Viel wichtiger indes wäre es, unter Muslimen selbst diesen Gedanken stärker zu verankern. Islam ist nicht gleich Islam, und wer von der eigenen Vorstellung und Praxis abweicht, ist nicht gleich ein schlechterer Muslim. Den einen «wahren» Islam mag es aus einer göttlichen Perspektive geben, aber kein Mensch kann sich anmassen, ihn ebenfalls zu kennen. Das beanspruchen nur Fundamentalisten, dünkelhafte Gelehrte und blasierte Imame für sich.

Anfällig für deren Avancen ist man vor allem dann, wenn man einen Leitfaden fürs eigene Leben sucht – mit klaren Anweisungen. Man läuft vermeintlich weisen Männern hinterher in der Hoffnung, die eigene Verantwortung im Zweifelsfall auf sie abwälzen zu können. «Gehorchen ist leichter als befehlen», wusste schon Friedrich Maximilian Klinger. 

Viele Versionen des Islams

Sich von vertrauten Gewissheiten aus der Kindheit abzunabeln, bedeutet Abschied von Bequemlichkeit und Akzeptanz von Ungewissheit. Der Islam ist eine anspruchsvolle Religion, die entgegen landläufigen Vorstellungen keine einfachen Antworten liefert.

Weder der Koran ist eindeutig noch die Erkenntnisse über das Leben des Propheten Mohammed. Unzählige Schriften aus 1400 Jahren Islam zeugen davon. Somit ist der Koran an sich ebenso wenig wie Mohammed das Problem – das Problem ist der Anspruch einiger «auserwählter» Menschen, die glauben, die islamischen Quellen allein wahrheitsgemäss auslegen zu können.

Mangels allgemeiner oberster Autorität gibt es in der islamischen Geschichte bereits seit dem Ableben Mohammeds divergierende Auffassungen von der «wahren» Religion. Inzwischen gilt der Islam vielen als «Gesetzreligion», in der es primär um das Einhalten von Geboten und Verboten geht. Doch das ist nur ein Verständnis vom Islam, das sich insbesondere in den vergangenen 150 Jahren vielerorts durchgesetzt hat.

Es wird zumeist von solchen propagiert, die Machtinteressen mit Glaubensfragen verknüpfen; weshalb Islamisten oft zugleich Fundamentalisten sind. Der Mainstream-Islam ist heute vor allem ein Diktat der Politik. Überall auf der Welt spielen politische Interessen in die gelebte Religion hinein.

Am deutlichsten wird das in dem Versuch, den Niedergang der glorreichen alten Welt im Kampf mit dem Westen wieder wettzumachen. Die Losung der Islamisten, wonach der Islam die Lösung aller Probleme sei, prägt seit Generationen das Denken zu vieler Musliminnen und Muslime – vor allem dort, wo es ihnen im Alltag nicht so gut geht, also in etwa 90 Prozent der islamischen Welt.

Viele von ihnen fliehen vor diesen Zuständen in den Westen, wo sie sich trotz vielfachen Dissonanzen Freiheit und Wohlstand erhoffen, und bringen ihre religiösen Prägungen mit. Sofern noch nicht geschehen, müssen sich Muslime unbedingt davon befreien, Religion von Politik reinigen und den Zwang abstreifen, sich permanent als Opfer böser fremder Weltmächte zu fühlen, die angeblich «den» Islam schwächen und «die» Muslime kleinhalten wollten. 

Schuld sind nicht die anderen

Auch dieses islamistische Narrativ ist inzwischen tief in die muslimische Community weltweit eingesickert – mit dem Ergebnis: Die Schuld wird zuerst bei anderen gesucht. Um Teil der Religion des Islams sein zu können, bedarf es eines hohen Masses an Toleranz für andere Positionen. In der Vergangenheit hatten gläubige Muslime das vergleichsweise gut eingeübt. Daran sollten sie anknüpfen und wieder mehr Selbstbewusstsein im Umgang mit dem Koran, dem Leben des Propheten Mohammed und dem Gelehrtenwissen aufbringen. Dazu bedarf es Mündigkeit, Emanzipation, Vernunft.

Damit sind die Schlagworte, die aufs Zeitalter der Aufklärung in Europa hinweisen, gefallen. Dennoch ist «Aufklärung» hier der falsche Begriff, weil er falsche Assoziationen weckt. Hört auf, den Islam und andere Religionen durch die christliche Brille zu betrachten!

Die Entwicklung der muslimischen Gemeinschaft ist eine andere als die der katholischen Kirche. Hier versuchte eine Macht, der Vatikan im Pakt mit weltlichen Führern, die Gläubigen zu beherrschen. Dort scheiterte ein vergleichbarer Anspruch spätestens während der Abbasiden-Dynastie, weil der Kalif zunehmend zum Grüssaugust degradiert wurde.

Im Islam gibt es stattdessen einzelne Gruppierungen, konfessionelle Abspaltungen, theologische Schulen, Rechtsschulen, Sekten, die mehr oder weniger Dominanz für sich beanspruchen. Hinzu kommen vielfältige kulturelle Unterschiede, die die Religionsvorstellungen zwischen Hindukusch und Andalusien geprägt haben. In Indien etwa arrangierten sich Muslime ungeachtet anderslautender Koranverse mit den sogenannten «Götzendienern», während Muslime auf der Arabischen Halbinsel bis heute eher eine radikale Ablehnung gegen sie predigen.

Solche grundlegenden Differenzen verhindern es, die europäische Aufklärung eins zu eins auf andere Kulturräume zu übertragen. Um das hervorzuheben, habe ich schon des Öfteren betont: «Der» Islam braucht keine Aufklärung im europäischen Sinn, aber Muslime müssen wieder Herr und Herrin über ihre Vernunft werden und ihren Verstand in religiösen Fragen einsetzen.

Das wäre keine Neuerung, dafür gibt es vielfältige Anknüpfungspunkte in der Geschichte – etwa in Gestalt der Philosophen Alpharabius alias Abu Nasr al-Farabi (gestorben 950) oder Averroes alias Ibn Ruschd (gest. 1198), des religionskritischen Arztes und Freidenkers Rhazes alias Abu Bakr al-Razi (gest. 925), des Korankommen- tators Fakhr al-Din al-Razi (gest. 1210), des Dichters al-Ma’arri (gest. 1057) – ein Skeptizist, der heute als religions- bzw. islamfeindlich verfemt würde – oder in Gestalt späterer Persönlichkeiten wie des islamischen Humanisten Murtada al-Zabidi (gest. 1791) oder des ägyptischen Beinah-Literaturnobelpreisträgers Taha Husain (gest. 1973).

Selbst der Koran wird von Muslimen an verschiedenen Stellen so verstanden, dass er Rationalität von den Menschen einfordert: «Und er lässt (seinen) Zorn auf jene herab, die ihre Vernunft (dazu) nicht gebrauchen wollen.» (Sure 10, Vers 100) Oder: «Wahrlich, darin liegen Zeichen für die Leute, die Verstand haben.» (16, 12)

Lamya Kaddor ist Islamwissenschafterin und Publizistin.


Nota. - Der Islam steht wegen seiner theologischen Vieldeutigkeit - oder Leere, wie man's nimmt - vor dem Dilemma, 'mit sich identisch sein' zu können nur entweder als strikte Gesetzeslehre oder als eine Religion der reinen Innerlichkeit.

Als Gesetzeslehre kann er sich nicht 'aus der Politik lösen', er wird von der Politik beherrscht sein und die Po- litik beherrschen wollen - einen andern Inhalt hätte er dann ja nicht. Als Religion der Innerlichkeit wird er sich als Lehre (die er eo ipso gar nicht zu sein beanspruchen könnte) mit der Politik nicht einlassen. Dass der einzel- ne Muslim in der Welt wirksam wird, ist ja dabei nicht ausgeschlossen. Mystisch bewegte Gläubige haben, wie die höchstverschiedenen Meister Eckhart und der Emir Abd el-Kader, den Weg in die Öffentlichkeit gesucht und gefunden; auf seine Art auch al-Halladsch, der Vater der islamischen Mystik.

Allerdings neigen mystische Bewegungen dazu, einen Messias hervorzubringen, wie den Juden Sabbatai Zvi oder den sudanesischen Mahdi, dessen Bewegung nicht nur ein Aufstand gegen die britischen Fremdherrscher war, sondern auch eine sehr blutige fundamentalisische Gewaltorgie. Das ist das Eigentümliche mystischer Be- geisterung, dass sie keinen Lehrern folgt, sondern unberechenbaren Propheten. Eine rein innerliche Frömmig- keit hingegen wird den zeitgenössischn fanatischen Gestzeshütern wenig entgegensetzen können, nämlich nicht auf deren Terrain, der Öffentlichkeit.
JE



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen