aus nzz.ch, 14.8.2019
Das Christentum hat es einfacher als der Islam
Voraussetzung einer mit dem Pluralismus verträglichen Auslegung religiöser Quellen ist die Annahme einer dem Menschen bereits vor der religiösen Offenbarung eingesenkten Vernunft. Im Christentum lässt eine die Vernunft Gottes spiegelnde Schöpfungsordnung den Menschen partizipieren. Nur wenn im Islam diese Art der Relecture gelingt, wird er mit anderen Religionen auf dem gleichen Territorium friedlich koexistieren können. Eine Replik auf Laila Mirzo
von Martin Grichting
Worum
es geht, hat im Jahr 1686 der Frühaufklärer Pierre Bayle in seinem
Kommentar zur Toleranz dargelegt. Er vertraute darauf, dass dem Menschen
vom Schöpfer ein natürliches Licht der Vernunft geschenkt sei. Dieses
lasse ihn zweifelsfrei die Grundsätze vernünftigen Denkens und der
Unterscheidung von Gut und Böse erken- nen. Deshalb gelte ausgehend von
der Bibel: «Wenn man aufgrund einer wortgetreuen Auslegung dem Men- schen
aufträgt, Verbrechen zu begehen oder (. . .) Handlungen, die das
natürliche Licht, die Vorschriften des Dekalogs und die Sittenlehre des
Evangeliums uns verwehren, dann kann man ganz gewiss sein, ihm eine
falsche Bedeutung zu geben und dem Volk anstelle der göttlichen
Offenbarung seine eigenen Vorstellungen, seine Leidenschaften und seine
Vorurteile zu unterbreiten.»
Die Vernunft Gottes
Voraussetzung
einer mit dem Pluralismus verträglichen Auslegung religiöser Quellen
ist also die Annahme einer dem Menschen bereits vor der religiösen
Offenbarung eingesenkten Vernunft. Sie ist die den religiösen Quellen
vorgelagerte Richterin, die bestimmt, dass das, was gegen ihre
Grundsätze verstösst, nicht wahr und nicht gut ist. Das Christentum
hatte es hierbei zweifellos einfacher als der Islam, weil es vor der
biblischen Wortoffenba- rung von einer «säkularen» Schöpfungsordnung
ausgeht, der die natürliche Vernunft angehört. Diese wird nicht
aufgehoben von der später erfolgenden Selbstoffenbarung Gottes durch die
Propheten und Jesus Christus. Denn Gott selbst ist ja der «Logos», also
die Vernunft, an der er den Menschen partizipieren lässt. Eine solche
die Vernunft Gottes spiegelnde Schöpfungsordnung aus den Quellen des
Islam zu destillieren, gehört deshalb zu den Bedingungen der
Möglichkeit
einer pluralismusfähigen Auslegung seiner Texte.
Nur
wenn diese Relecture gelingt, wird der Islam mit anderen Religionen auf
dem gleichen Territorium friedlich koexistieren können. Sonst wird sich
stets die Frage stellen, ob man eine intolerante Religion tolerieren
dürfe. Es war ebenfalls Bayle, der sich schon hundert Jahre vor der
Französischen Revolution damit auseinanderge- setzt hat. Sein Urteil war
klar: «Eine Gruppierung, die, wenn sie die stärkste wäre, keine andere
tolerieren und Gewissenszwang ausüben würde, darf nicht toleriert
werden.» Als von Frankreich nach den Niederlanden exi- lierter Hugenotte
fügte er hinzu: «Nun, eine solche ist die katholische Kirche. Also ist
sie nicht zu tolerieren.»
Zu diesem Ergebnis kommt, gemünzt auf den Islam, auch Laila Mirzo. Die Beispiele der katholischen Kirche sowie vorrevolutionärer protestantischer Orthodoxien zeigen jedoch, dass ein mit dem Licht der Vernunft ge- tätigtes Neubedenken der eigenen Quellen möglich ist. Bekanntlich hat das gedauert, auch bedingt durch die Vermischung von Staat und Kirche, verwirklicht in der Amalgamierung von Adel und katholischer Kirchenhier- archie sowie in kommunalisierten Christentümern im anglikanisch-protestantischen Bereich des vorrevolutionä- ren Europa. Letztlich muss man heute darauf hoffen und hinarbeiten, dass eine ähnliche Entwicklung im Islam in Gang kommt. In den ersten Jahrhunderten seiner Existenz gab es sehr wohl Ansätze dazu. Auch diesbezügli- che Bemühungen des Imam von Bordeaux, Tareq Oubrou, wären hier zu nennen.
Zu diesem Ergebnis kommt, gemünzt auf den Islam, auch Laila Mirzo. Die Beispiele der katholischen Kirche sowie vorrevolutionärer protestantischer Orthodoxien zeigen jedoch, dass ein mit dem Licht der Vernunft ge- tätigtes Neubedenken der eigenen Quellen möglich ist. Bekanntlich hat das gedauert, auch bedingt durch die Vermischung von Staat und Kirche, verwirklicht in der Amalgamierung von Adel und katholischer Kirchenhier- archie sowie in kommunalisierten Christentümern im anglikanisch-protestantischen Bereich des vorrevolutionä- ren Europa. Letztlich muss man heute darauf hoffen und hinarbeiten, dass eine ähnliche Entwicklung im Islam in Gang kommt. In den ersten Jahrhunderten seiner Existenz gab es sehr wohl Ansätze dazu. Auch diesbezügli- che Bemühungen des Imam von Bordeaux, Tareq Oubrou, wären hier zu nennen.
Aufgabe der Christen
Eine
solche Evolution wäre übrigens durchaus im Sinne Bayles. Als Lessing
avant la lettre hat er hundert Jahre vor «Nathan dem Weisen»
geschrieben: «Wenn jeder die Toleranz pflegen würde, für die ich
eintrete, würde in einem aus zehn verschiedenen Sekten zusammengesetzten
Staate dieselbe Eintracht herrschen wie in einer Stadt, in der sich
Gewerbe verschiedener Art wechselseitig stützen. Alles, was sich daraus
ergeben könnte, wäre ein ehrlicher Wettbewerb darüber, wer sich in
Frömmigkeit, guten Sitten und der Wissenschaft am meisten auszeichnen
würde; eine jede (Religion) würde sich in der Bezeugung eines grossen
Fleisses, gute Werke zu verrichten, rühmen, die beste Freundin Gottes zu
sein.» Aus christlicher Sicht kann man sich dem heute an- schliessen.
Denn es stimmt mit dem Gleichnis Jesu vom Weizen und vom Unkraut überein
(Matthäus 13, 24–30). Letzteres soll ja nicht vor der Zeit ausgerissen
werden. Man soll beides wachsen lassen bis zur Ernte und damit das
Urteil Gott überlassen. Aufgabe der Christen ist es in dieser Welt und
Zeit, sich als Weizen zu erweisen. Und das ist schwierig genug.
Martin Grichting ist Generalvikar des Bistums Chur.
Nota. - Das ist die spezifische Differenz, die das Abendland von allen andern Kulturräumen unterscheidet und vor allen Kulturräumn auszeichnet: dass dem Menschen ein eigenes und nicht bloß durch priesterliche Vertre- tung ausgeborgtes Urteilsvermögen zugeschrieben wird. Doch keineswegs hat das Christentum 'ursprünglich' die Teilnahme von Gottes Geschöpf an der Vernunft seines Schöpfers gelehrt. Die in andern Sprachen übliches Ableitung der Vernunft von lat. ratio* - mehr Rechnung als Erkennen - zeigt an, dass es sich um eine recht späte und wenig anschauliche Wortbildung handelt. Im Deutschen haben wir in der 'Vernunft' einen stimmungsvolle- ren und scheinbar elementaren Ausdruck, denn sie stammt, wie der "Eleat" Herbart zu Recht einwendet, von vernehmen; Vernehmen von was? Vom Raunen des wahren Wesens, versteht sich.
Das germanisch-tiefsinnige Vernehmen wurde jedoch erst von dem rationalistischen Aufklärungsphilosophen Christian Wolff als deutsche Übersetzung der lateinischen raison eingeführt. Der Gedanke einer ursprünglichen Teilhabe des Menschen an der göttlichen Einsicht ist allerdings ein unterschwelliges deutsches Erbe; zuerst aus- gesprochen** von Meister Eckhart in der Idee vom seelenfünklîn. Eckhart wurde aber von seinem Papst der Ketzerei bezichtigt, das zwang seine Lehre in den Untergrund, wo sie freilich überdauerte.
Ihren Siegeszug begann die Idee aber nicht auf theologischem, philologischem oder sonstwie gelehrten Weg, sondern auf den Schlachtfelderen des 30jährigen Krieges, mehr noch in Diplomatenstuben und Friedenskon- gressen. Der Siegesszug des Vernunftprinzips verdankt sich nicht den Philosophen, sondern dem Westfälischen Frieden. Hugo Grotius war eben nur zur Stelle, als er am dringendsten gebraucht wurde.
Pierre Bayle gilt als Begründer des neuzeitliche Skeptizismus, was ihm bis heute einen schlechten Ruf eintrug. Doch ist Skeptizismus nicht sein erster, sondern sein zweiter, aus dem ersten abgeleiteter Gedanke: Der Grund- gedanke ist, dass uns in der Vernunft ein Maßstab gegeben sei, an dem wahr und falsch zu unterscheiden sind. Das ließ sich in keiner der widerstreitenden Konfessionen vertreten; doch da sie eben stritten, ließ es sich im- merhin öffentlich vertreten, wenn auch nur in Holland und manchmal nur anonym. Öffentlichkeit ist die Heim- statt der Vernunft, nirgend anders kann sie sich entfalten und zu einer selbstständigen Macht neben und schließ- lich über den feindlichen Glaubensrichtungen ausbilden, und Gottgegebenheit muss sie schon gar nicht mehr beanspruchen; vielmehr müssen jene sich vor ihr rechtfertigen
Es ist offenkundig, dass nichts Vergleichbares im islamischen Raum geschehen ist. Das Große Schisma zwi- schen Sunna und Shia hat mit theologischen Fragen nichts zu tun, sondern lediglich mit dem zufälligen histo- rischen Ereignis der Absetzung Alis zugunsten von Mo'awwiya. In beiden Parteien finden sich religiöse Rich- tungskämpfe in der Spannung zwischen Buchstabenorthodoxie und mystischer Erlebnisreligion und zwischen Rechtsschulen und Freigeistern. Wenn überhaupt argumentiert wird, so über Entzifferungen von Wortlauten, nicht aber über Vernunfturteile. Ansonsten predigt ein jeder seine Wahheit und schlagen sei einander die Schädel ein..
Vernunft war kein originäres Erbe der christlichen Offenbarung.*** Sie ist im Abendland politisch an die Stelle der Kirchenlehren getreten und hat sich zu deren Bedingungsrahmen gefestigt. Das hat viel Blut gekostet, doch nun ist es einmal so. In der muslimischen Kultur ist Vernunft überhaupt kein legitimer Bestandteil. Statt als ulti- mativer Maßstab anerkannt zu sein, muss sie dort ums Überleben kämpfen.
*) Es handelt sich um den mystischen Elementargedanken; aber öffentlich ausgesprochen wurde er vor Eckhart nicht - und auch nicht mehr danach.
**) Descartes versteht unter Raison ausdrücklich den Geist der Geometrie.
***) Ratiocinatio - 'Verstand' eher als Vernunft - wurde dank der aristotelischen Logik zum Medium der schola- stischen Philosophie; doch an eine Beurteilung der Kirchendogmen durfte sie sich nicht wagen.
JE
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