Sonntag, 18. August 2019

Vernunft stammt nicht aus christlicher Offenbarung; doch dem Islam ist sie ganz fremd.


aus nzz.ch, 14.8.2019

Das Christentum hat es einfacher als der Islam 
Voraussetzung einer mit dem Pluralismus verträglichen Auslegung religiöser Quellen ist die Annahme einer dem Menschen bereits vor der religiösen Offenbarung eingesenkten Vernunft. Im Christentum lässt eine die Vernunft Gottes spiegelnde Schöpfungsordnung den Menschen partizipieren. Nur wenn im Islam diese Art der Relecture gelingt, wird er mit anderen Religionen auf dem gleichen Territorium friedlich koexistieren können. Eine Replik auf Laila Mirzo 

von Martin Grichting
Laila Mirzo hat kürzlich die These vertreten, ein aufgeklärter Mensch könne sich nur von Mohammed und damit vom Islam distanzieren. Es dürfte ein frommer Wunsch bleiben, dass dies massenweise geschehen wird. Denn realistisch kann ein friedliches Zusammenleben mit Muslimen nicht dadurch erreicht werden, dass diese auf- hören, solche zu sein. Vielmehr muss das Bemühen innerhalb der muslimischen Gemeinschaften, aber auch der Umgang mit ihnen, darauf abzielen, zu einer pluralismusverträglichen Auslegung ihrer religiösen Quellen zu gelangen. Vor diesem Problem stand auch die Christenheit nach der Katastrophe des Dreissigjährigen Kriegs.

Worum es geht, hat im Jahr 1686 der Frühaufklärer Pierre Bayle in seinem Kommentar zur Toleranz dargelegt. Er vertraute darauf, dass dem Menschen vom Schöpfer ein natürliches Licht der Vernunft geschenkt sei. Dieses lasse ihn zweifelsfrei die Grundsätze vernünftigen Denkens und der Unterscheidung von Gut und Böse erken- nen. Deshalb gelte ausgehend von der Bibel: «Wenn man aufgrund einer wortgetreuen Auslegung dem Men- schen aufträgt, Verbrechen zu begehen oder (. . .) Handlungen, die das natürliche Licht, die Vorschriften des Dekalogs und die Sittenlehre des Evangeliums uns verwehren, dann kann man ganz gewiss sein, ihm eine falsche Bedeutung zu geben und dem Volk anstelle der göttlichen Offenbarung seine eigenen Vorstellungen, seine Leidenschaften und seine Vorurteile zu unterbreiten.» 

Die Vernunft Gottes 

Voraussetzung einer mit dem Pluralismus verträglichen Auslegung religiöser Quellen ist also die Annahme einer dem Menschen bereits vor der religiösen Offenbarung eingesenkten Vernunft. Sie ist die den religiösen Quellen vorgelagerte Richterin, die bestimmt, dass das, was gegen ihre Grundsätze verstösst, nicht wahr und nicht gut ist. Das Christentum hatte es hierbei zweifellos einfacher als der Islam, weil es vor der biblischen Wortoffenba- rung von einer «säkularen» Schöpfungsordnung ausgeht, der die natürliche Vernunft angehört. Diese wird nicht aufgehoben von der später erfolgenden Selbstoffenbarung Gottes durch die Propheten und Jesus Christus. Denn Gott selbst ist ja der «Logos», also die Vernunft, an der er den Menschen partizipieren lässt. Eine solche die Vernunft Gottes spiegelnde Schöpfungsordnung aus den Quellen des Islam zu destillieren, gehört deshalb zu den Bedingungen der 

Möglichkeit einer pluralismusfähigen Auslegung seiner Texte.

Nur wenn diese Relecture gelingt, wird der Islam mit anderen Religionen auf dem gleichen Territorium friedlich koexistieren können. Sonst wird sich stets die Frage stellen, ob man eine intolerante Religion tolerieren dürfe. Es war ebenfalls Bayle, der sich schon hundert Jahre vor der Französischen Revolution damit auseinanderge- setzt hat. Sein Urteil war klar: «Eine Gruppierung, die, wenn sie die stärkste wäre, keine andere tolerieren und Gewissenszwang ausüben würde, darf nicht toleriert werden.» Als von Frankreich nach den Niederlanden exi- lierter Hugenotte fügte er hinzu: «Nun, eine solche ist die katholische Kirche. Also ist sie nicht zu tolerieren.»

Zu diesem Ergebnis kommt, gemünzt auf den Islam, auch Laila Mirzo. Die Beispiele der katholischen Kirche sowie vorrevolutionärer protestantischer Orthodoxien zeigen jedoch, dass ein mit dem Licht der Vernunft ge- tätigtes Neubedenken der eigenen Quellen möglich ist. Bekanntlich hat das gedauert, auch bedingt durch die Vermischung von Staat und Kirche, verwirklicht in der Amalgamierung von Adel und katholischer Kirchenhier- archie sowie in kommunalisierten Christentümern im anglikanisch-protestantischen Bereich des vorrevolutionä- ren Europa. Letztlich muss man heute darauf hoffen und hinarbeiten, dass eine ähnliche Entwicklung im Islam in Gang kommt. In den ersten Jahrhunderten seiner Existenz gab es sehr wohl Ansätze dazu. Auch diesbezügli- che Bemühungen des Imam von Bordeaux, Tareq Oubrou, wären hier zu nennen. 

Aufgabe der Christen 

Eine solche Evolution wäre übrigens durchaus im Sinne Bayles. Als Lessing avant la lettre hat er hundert Jahre vor «Nathan dem Weisen» geschrieben: «Wenn jeder die Toleranz pflegen würde, für die ich eintrete, würde in einem aus zehn verschiedenen Sekten zusammengesetzten Staate dieselbe Eintracht herrschen wie in einer Stadt, in der sich Gewerbe verschiedener Art wechselseitig stützen. Alles, was sich daraus ergeben könnte, wäre ein ehrlicher Wettbewerb darüber, wer sich in Frömmigkeit, guten Sitten und der Wissenschaft am meisten auszeichnen würde; eine jede (Religion) würde sich in der Bezeugung eines grossen Fleisses, gute Werke zu verrichten, rühmen, die beste Freundin Gottes zu sein.» Aus christlicher Sicht kann man sich dem heute an- schliessen. Denn es stimmt mit dem Gleichnis Jesu vom Weizen und vom Unkraut überein (Matthäus 13, 24–30). Letzteres soll ja nicht vor der Zeit ausgerissen werden. Man soll beides wachsen lassen bis zur Ernte und damit das Urteil Gott überlassen. Aufgabe der Christen ist es in dieser Welt und Zeit, sich als Weizen zu erweisen. Und das ist schwierig genug.

Martin Grichting ist Generalvikar des Bistums Chur.


Nota. - Das ist die spezifische Differenz, die das Abendland von allen andern Kulturräumen unterscheidet und vor allen Kulturräumn auszeichnet: dass dem Menschen ein eigenes und nicht bloß durch priesterliche Vertre- tung ausgeborgtes Urteilsvermögen zugeschrieben wird. Doch keineswegs hat das Christentum 'ursprünglich' die Teilnahme von Gottes Geschöpf an der Vernunft seines Schöpfers gelehrt. Die in andern Sprachen übliches Ableitung der Vernunft von lat. ratio* - mehr Rechnung als Erkennen - zeigt an, dass es sich um eine recht späte und wenig anschauliche Wortbildung handelt. Im Deutschen haben wir in der 'Vernunft' einen stimmungsvolle- ren und scheinbar elementaren Ausdruck, denn sie stammt, wie der "Eleat" Herbart zu Recht einwendet, von vernehmen; Vernehmen von was? Vom Raunen des wahren Wesens, versteht sich. 

Das germanisch-tiefsinnige Vernehmen wurde jedoch erst von dem rationalistischen Aufklärungsphilosophen Christian Wolff als deutsche Übersetzung der lateinischen raison eingeführt. Der Gedanke einer ursprünglichen Teilhabe des Menschen an der göttlichen Einsicht ist allerdings ein unterschwelliges deutsches Erbe; zuerst aus- gesprochen** von Meister Eckhart in der Idee vom seelenfünklîn. Eckhart wurde aber von seinem Papst der Ketzerei bezichtigt, das zwang seine Lehre in den Untergrund, wo sie freilich überdauerte.

Ihren Siegeszug begann die Idee aber nicht auf theologischem, philologischem oder sonstwie gelehrten Weg, sondern auf den Schlachtfelderen des 30jährigen Krieges, mehr noch in Diplomatenstuben und Friedenskon- gressen. Der Siegesszug des Vernunftprinzips verdankt sich nicht den Philosophen, sondern dem Westfälischen Frieden. Hugo Grotius war eben nur zur Stelle, als er am dringendsten gebraucht wurde.

Pierre Bayle gilt als Begründer des neuzeitliche Skeptizismus, was ihm bis heute einen schlechten Ruf eintrug. Doch ist Skeptizismus nicht sein erster, sondern sein zweiter, aus dem ersten abgeleiteter Gedanke: Der  Grund- gedanke ist, dass uns in der Vernunft ein Maßstab gegeben sei, an dem wahr und falsch zu unterscheiden sind. Das ließ sich in keiner der widerstreitenden Konfessionen vertreten; doch da sie eben stritten, ließ es sich im- merhin öffentlich vertreten, wenn auch nur in Holland und manchmal nur anonym. Öffentlichkeit ist die Heim- statt der Vernunft, nirgend anders kann sie sich entfalten und zu einer selbstständigen Macht neben und schließ- lich über den feindlichen Glaubensrichtungen ausbilden, und Gottgegebenheit muss sie schon gar nicht mehr beanspruchen; vielmehr müssen jene sich vor ihr rechtfertigen

Es ist offenkundig, dass nichts Vergleichbares im islamischen Raum geschehen ist. Das Große Schisma zwi- schen Sunna und Shia hat mit theologischen Fragen nichts zu tun, sondern lediglich mit dem zufälligen histo- rischen Ereignis der Absetzung Alis zugunsten von Mo'awwiya. In beiden  Parteien finden sich religiöse Rich- tungskämpfe in der Spannung zwischen Buchstabenorthodoxie und mystischer Erlebnisreligion und zwischen Rechtsschulen und Freigeistern. Wenn überhaupt argumentiert wird, so über Entzifferungen von Wortlauten, nicht aber über Vernunfturteile.  Ansonsten predigt ein jeder seine Wahheit und schlagen sei einander die Schädel ein..

Vernunft war kein originäres Erbe der christlichen Offenbarung.*** Sie ist im Abendland politisch an die Stelle der Kirchenlehren getreten und hat sich zu deren Bedingungsrahmen gefestigt. Das hat viel Blut gekostet, doch nun ist es einmal so. In der muslimischen Kultur ist Vernunft überhaupt kein legitimer Bestandteil. Statt als ulti- mativer Maßstab anerkannt zu sein, muss sie dort ums Überleben kämpfen.

*) Es handelt sich um den mystischen Elementargedanken; aber öffentlich ausgesprochen wurde er vor Eckhart nicht - und auch nicht mehr danach.
**) Descartes versteht unter Raison ausdrücklich den Geist der Geometrie. 
***) Ratiocinatio - 'Verstand' eher als Vernunft - wurde dank der aristotelischen Logik zum Medium der schola- stischen Philosophie; doch an eine Beurteilung der Kirchendogmen durfte sie sich nicht wagen.
JE 

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