Geschichte ist ein Aufbruch ins Unbekannte
Auch wer die Vergangenheit kennt, sieht nicht voraus, was auf ihn zukommt
Was
die Zukunft bringt? Welche Wege das Weltgeschehen nimmt? Wir können es
nicht vorhersagen. In der Geschichte gibt es Ähnlichkeiten, aber keine
Analogien – auch wenn Historiker immer wieder das Gegenteil behaupten.
Die
grosse Frage lautet jetzt, wie es weitergeht. Für Machiavelli steht die
Antwort unerschütterlich fest, denn sie leitet sich für ihn aus der
Geschichte ab. Geschichte aber ist das sicherste Beweismaterial auf
Erden, wenn es der Historiker, der ihre Gesetze verstanden hat, nur zum
Sprechen bringt: Die Schweizer, so Machiavelli, werden es wie die alten
Römer machen, denn so diktiert es «necessità», der notwendige Verlauf
der Ereignisse.
Die Macht des Zufalls
Schon jetzt haben sie zwei Vasallen, den Herzog von Mailand und den
Papst. Den Rest Italiens werden sie gleichfalls erst zu Bundesgenossen
machen und dann, wie die Römer der Republik 1800 Jahre zuvor, nach und
nach in demütigende Abhängigkeit herabdrücken. Dagegen erhebt Francesco
Vettori entschiedenen Einspruch. Für ihn hinkt der Vergleich Roms mit
der Eidgenossenschaft an allen Enden, denn diese ist ein lockerer
Verbund von souveränen Orten, die sehr unterschiedliche Interessen
verfolgen; dauerhafte Herrschaftsbildung in Italien aber gehört nicht
dazu.
Zudem,
so weiter Vettori, lässt sich Geschichte nicht vorhersagen. Zu viele
Unsicherheitsfaktoren stehen dem entgegen. Der wichtigste von ihnen ist,
dass die Mächtigen selbst irrational, impulsiv und oft genug
widersprüchlich handeln. Dadurch wird das Diagramm der ausschlaggebenden
Kräfte so komplex, dass selbst Insider mit ihren Vorhersagen
danebenliegen. Hinzu kommt die Macht des Zufalls, die alle
vorausschauenden Kalkulationen ad absurdum führt: Chaostheorie der
Historie anno 1513.
Damit
hat sich die briefliche Stammtischdiskussion unvermittelt zu einer
Generaldebatte erweitert, die bis heute fortdauert (allerdings selten
auf diesem Niveau): Kann man aus der Geschichte lernen? Genauer: Lassen
sich durch präzises Studium der Vergangenheit konstante
Entwicklungslinien aufzeigen, die sich verallgemeinern und als
Deutungsmuster auf Gegenwart und Vergangenheit übertragen lassen? Falls
ja, ist Geschichte fraglos eine der wichtigsten Wissenschaften auf
Erden, der Physik und der Chemie mindestens ebenbürtig, denn dann lassen
sich die Fehler der Vergangenheit durch deren exakte Analyse und die
Bereitschaft, diese Resultate auch umzusetzen, künftig vermeiden.
Ein Zauberstab, der die Welt erklärt
Für
die führenden Historiker der Aufklärung war das wie schon für
Machiavelli keine Frage. So stellte der Engländer Edward Gibbon in einem
vielgelesenen Monumentalwerk das römische Weltreich auf den Prüfstand:
Warum musste ein so mächtiges Imperium untergehen? Dahinter stand die
Frage aller Fragen: Könnte sich ein solcher Verfall auch heute noch
wiederholen, also dem in frischer Ausbildung befindlichen britischen
Empire widerfahren?
Gibbon
gab im Wesentlichen Entwarnung: Der beruhigende Unterschied bestand für
ihn darin, dass das Prinzip der Vernunft im 18. Jahrhundert viel weiter
verbreitet, damit im Gegensatz zur Antike unverlierbar geworden war und
ein Rückfall Europas in die Barbarei damit weitgehend ausgeschlossen
schien. Die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens hatte gesprochen –
heute ist das Empire Geschichte, und die Zeit der schlimmsten Barbarei
liegt gerade einmal ein Menschenalter zurück.
Obwohl
die solch kühnen Epochenvergleichen zugrunde liegende Methode in den
1830er Jahren von Leopold von Ranke, dem Begründer der akademischen
Disziplin Geschichte, vehement bestritten und die Eigengesetzlichkeit
der Vergangenheit betont wurde, feierte ihre Basisidee, die Bildung von
Analogien, im 19. und im 20. Jahrhundert weiterhin fröhliche Urständ.
Ja, die Analogie wurde geradezu zum Zauberstab, mit dem sich scheinbar
alles sinnvoll zueinander in Beziehung setzen liess. Die Geschichte
Alexanders des Grossen und seiner Nachfolger, der Diadochen, erhellte
auf einmal den Aufstieg Preussens zur Grossmacht zweitausend Jahre
später, und die Kämpfe zwischen Cäsar und Pompeius machten auf nicht
minder wundersame Weise die Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und
Konservativen im Europa des 19. Jahrhunderts verständlich.
Und wenn der Mensch sich zum Gott macht?
Auch
im Zeitalter der Digitalisierung hat die Analogie nichts von ihrer
Faszination verloren: kein Verlagstermin, an dem nicht eine
«wissenschaftliche» Neuerscheinung den Aufstieg und Untergang von
Weltreichen, des römischen, des spanischen und, natürlich, des
amerikanischen, gesetzmässig entschlüsselt zu haben beansprucht. Bei
näherem Hinsehen entpuppen sich diese vermeintlichen Entdeckungen als
Banalitäten: Überdehnung von Herrschaftsbereichen, Sich-Ausruhen auf
vermeintlichen Lorbeeren, Arroganz der Macht.
Doch
für solche «Erkenntnisse» braucht man nicht die Geschichte, dafür
reicht der Konfirmandenunterricht aus. Selbst diese kühnen
Versprechungen haben sich kürzlich noch als steigerungsfähig erwiesen:
In nicht allzu ferner Zukunft wird der Mensch durch die Perfektionierung
künstlicher Intelligenz zum Schöpfer einer neuen Welt, also gottgleich,
mit allen nur denkbaren Annehmlichkeiten und Schrecknissen, die aus
diesem schwindelerregenden Aufstieg folgen – so die aufsehenerregendste
aller jüngeren Prophezeiungen.
Dabei
wäre, was die Vorhersageleistungen der Historiker angeht,
Bescheidenheit angebracht. Den Sturz der «realsozialistischen» Systeme
anno 1989 hatte kaum einer von ihnen auf der Rechnung, um nur ein
einziges Beispiel zu zitieren. Machiavelli seinerseits sah sich nach der
Niederlage der Eidgenossen bei Marignano im September 1515 genötigt,
seine hochfliegende Einschätzung von 1513 zu revidieren. Er machte es
mit einem Taschenspielertrick, nämlich durch die Behauptung, dass die
Schweizer nie dauerhaft in Italien erobern wollten.
Es gibt keinen Weg zurück
Dabei
lag der Grundfehler seiner Argumentation – wie Machiavellis jüngerer
Zeitgenosse Francesco Guicciardini hellsichtig erkannte – darin, dass es
die historische Analogie gar nicht gibt. Was sich bei oberflächlicher
Betrachtung als sinnstiftende Ähnlichkeit, wenn nicht gar als
geschichtsleitender roter Faden darstellt, entpuppt sich bei genauerer
Untersuchung als unvergleichbar, kommt doch auf jede scheinbare
Übereinstimmung eine Fülle von abweichenden Faktoren.
Mehr
noch: Die Geschichte wiederholt sich nicht nur nicht, sondern alles
wandelt sich, nicht zuletzt der Geschmack, die Weltsicht, die Religion.
Das schliesst jede Rückkehr zu einer besseren Vergangenheit aus, wie sie
etwa die Reformatoren mit ihrer Hoffnung auf Wiederanknüpfung an die
Urkirche anstrebten. Und alle vermeintlichen Rezepte, die sich als
Heilmittel gegen Fehlentwicklungen ableiten lassen, erweisen sich als
Selbsttäuschungen, schlimmer noch: als Irreführungen. Sie mögen für die
eine Zeit, in der sie entworfen wurden, tauglich sein, doch schon wenig
später wirken sie nicht mehr, weil sich die Verhältnisse grundlegend
gewandelt haben.
Selbst
die Kategorien von Gut und Böse werden für Guicciardini immer
unsicherer, ist ihre Umkehr ins Gegenteil doch sehr häufig zu
beobachten. So entsteht aus dem asketisch weltabgewandten Papsttum der
Frühzeit die Machtkirche der Renaissance mit ihren weltumspannenden
Herrschaftsansprüchen und Kriegen. So bleibt nur eine Konsequenz:
Geschichte ist Aufbruch ins Unbekannte.
Die Lebenslüge der Geschichte
Bis
heute sind die meisten Historiker dieser Erkenntnis nicht gefolgt.
Stattdessen dienen sie sich den Mächtigen wie die Humanisten des
15. Jahrhunderts mit der Formel an: Wir bewahren euch vor Rückfällen in
die Katastrophen der Vergangenheit und zeigen euch den Weg in eine
bessere Zukunft! Diese Lebenslüge des historischen Metiers findet ihre
regelmässige Spiegelung in Politiker-Statements, die immer dasselbe
Mantra gebetsmühlenartig wiederholen: Nur wer die Geschichte kennt, ist
davor bewahrt, ihre Schrecken zu wiederholen.
Zumindest
in diesem Punkte darf getrost Entwarnung gegeben werden: Sie wiederholt
sich nicht. Anders ausgedrückt: 2019 ist nicht 1933, und auch der
«Westen» ist nicht im Namen der Geschichte von akutem Zerfall bedroht.
So ehrenhaft und moralisch vorbildlich solche Sonntagsreden sind, die
vor der Wiederholung des geschichtlich Bösen warnen: Sie fokussieren
nicht nur die Hoffnungen, sondern auch die Gefahren falsch. Denn das
Unheimliche, da Unberechenbare der Geschichte besteht darin, dass sich
ihre Erscheinungsformen stets verändern.
Eine
Neuauflage des «Faschismus» kann es also nicht geben – nicht nur, weil
sich die Lebensumstände und Bewusstseinshorizonte der Menschen
fundamental verändert haben, sondern auch, weil dieser Begriff die
tiefgreifenden Unterschiede zwischen den Diktaturen Mussolinis und
Hitlers nivelliert. Doch das ist keine Garantie gegen neue,
gleichermassen menschenverachtende Totalitarismen in neuem Gewande. Dazu
ist der Wille, andere zu bevormunden und zu ihrem Besten umzuerziehen,
im Menschen zu tief verwurzelt.
Selbst
die verstörendste Idee Guicciardinis vom Wandel der moralischen
Vorzeichen ist nicht vom Tisch, schliesslich entwickelte sich aus der
Parole «Nie wieder Faschismus!» in der DDR ein neues, ganz anders
geartetes System der Unterdrückung, dem Nationalsozialismus gewiss nicht
vergleichbar, doch auch auf Unfreiheit gegründet.
Ist
Geschichte mit dieser Entzauberung überflüssig? Im Gegenteil: Der
notwendigerweise rückwärts gerichtete Blick des Historikers allein kann
erklären, warum die Gegenwart so geworden ist, wie sie ist. Daraus
folgt: sich auf keine vermeintlichen Erfolgsformeln, erst recht nicht
auf ein vorgegebenes Telos, Ziel, der Geschichte zu verlassen und
stattdessen den Sprung ins Dunkel mit dem Wissen um die damit
verbundenen Unwägbarkeiten zu wagen. Und welche Wissenschaft hat schon
mehr zu bieten?
Volker Reinhardt
ist Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an
der Universität Freiburg i. Ü. Ende August erscheint bei C. H. Beck sein
neues Buch «Die Macht der Schönheit. Kulturgeschichte Italiens».
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