Freitag, 9. August 2019

Was lehrt uns die Geschichte?

aus nzz.ch,  

Geschichte ist ein Aufbruch ins Unbekannte
Auch wer die Vergangenheit kennt, sieht nicht voraus, was auf ihn zukommt 

Was die Zukunft bringt? Welche Wege das Weltgeschehen nimmt? Wir können es nicht vorhersagen. In der Geschichte gibt es Ähnlichkeiten, aber keine Analogien – auch wenn Historiker immer wieder das Gegenteil behaupten.

von Volker Reinhardt

Im Spätsommer 1513 tauschen zwei Florentiner brieflich ihre Meinung über die Eidgenossenschaft aus. Den einen von ihnen namens Niccolò Machiavelli haben die Medici nach ihrer Rückkehr an die Macht in Florenz soeben kalt- und unter Überwachung gestellt; der andere, Francesco Vettori, steht bei ihnen in Gunst, hat als Botschafter von Florenz in Rom allerdings nichts Sinnvolles zu tun, da Florenz nach der Wahl Giovanni de’ Medicis zu Papst Leo X. im März 1513 ohnehin von Rom aus regiert wird.

Gegen Frustration, Langeweile und weitere Symptome der Midlife-Krise gibt es nur ein probates Heilmittel: die Diskussion über Politik, in Italien und Europa. Und da ist für beide die Schweiz das Top-Thema. Sie hat in jüngster Zeit reichlich von sich reden gemacht. Im Vorjahr haben ihre scheinbar unbesiegbaren Infanteriever- bände im Auftrag von Papst Julius II. die Franzosen aus Italien vertrieben. Danach bekamen sie – so Machiavelli – Appetit auf mehr: Sie begannen damit, auf eigene Rechnung zu erobern, und nahmen Mailand ein, das sie in der gloriosen Schlacht von Novara vor knapp drei Monaten gegen ein überlegenes französisches Heer erfolgreich verteidigt hatten.


Die grosse Frage lautet jetzt, wie es weitergeht. Für Machiavelli steht die Antwort unerschütterlich fest, denn sie leitet sich für ihn aus der Geschichte ab. Geschichte aber ist das sicherste Beweismaterial auf Erden, wenn es der Historiker, der ihre Gesetze verstanden hat, nur zum Sprechen bringt: Die Schweizer, so Machiavelli, werden es wie die alten Römer machen, denn so diktiert es «necessità», der notwendige Verlauf der Ereignisse. 

Die Macht des Zufalls

Schon jetzt haben sie zwei Vasallen, den Herzog von Mailand und den Papst. Den Rest Italiens werden sie gleichfalls erst zu Bundesgenossen machen und dann, wie die Römer der Republik 1800 Jahre zuvor, nach und nach in demütigende Abhängigkeit herabdrücken. Dagegen erhebt Francesco Vettori entschiedenen Einspruch. Für ihn hinkt der Vergleich Roms mit der Eidgenossenschaft an allen Enden, denn diese ist ein lockerer Verbund von souveränen Orten, die sehr unterschiedliche Interessen verfolgen; dauerhafte Herrschaftsbildung in Italien aber gehört nicht dazu.


Zudem, so weiter Vettori, lässt sich Geschichte nicht vorhersagen. Zu viele Unsicherheitsfaktoren stehen dem entgegen. Der wichtigste von ihnen ist, dass die Mächtigen selbst irrational, impulsiv und oft genug widersprüchlich handeln. Dadurch wird das Diagramm der ausschlaggebenden Kräfte so komplex, dass selbst Insider mit ihren Vorhersagen danebenliegen. Hinzu kommt die Macht des Zufalls, die alle vorausschauenden Kalkulationen ad absurdum führt: Chaostheorie der Historie anno 1513.

Damit hat sich die briefliche Stammtischdiskussion unvermittelt zu einer Generaldebatte erweitert, die bis heute fortdauert (allerdings selten auf diesem Niveau): Kann man aus der Geschichte lernen? Genauer: Lassen sich durch präzises Studium der Vergangenheit konstante Entwicklungslinien aufzeigen, die sich verallgemeinern und als Deutungsmuster auf Gegenwart und Vergangenheit übertragen lassen? Falls ja, ist Geschichte fraglos eine der wichtigsten Wissenschaften auf Erden, der Physik und der Chemie mindestens ebenbürtig, denn dann lassen sich die Fehler der Vergangenheit durch deren exakte Analyse und die Bereitschaft, diese Resultate auch umzusetzen, künftig vermeiden. 

Ein Zauberstab, der die Welt erklärt

Für die führenden Historiker der Aufklärung war das wie schon für Machiavelli keine Frage. So stellte der Engländer Edward Gibbon in einem vielgelesenen Monumentalwerk das römische Weltreich auf den Prüfstand: Warum musste ein so mächtiges Imperium untergehen? Dahinter stand die Frage aller Fragen: Könnte sich ein solcher Verfall auch heute noch wiederholen, also dem in frischer Ausbildung befindlichen britischen Empire widerfahren?

Gibbon gab im Wesentlichen Entwarnung: Der beruhigende Unterschied bestand für ihn darin, dass das Prinzip der Vernunft im 18. Jahrhundert viel weiter verbreitet, damit im Gegensatz zur Antike unverlierbar geworden war und ein Rückfall Europas in die Barbarei damit weitgehend ausgeschlossen schien. Die Geschichte als Lehrmeisterin des Lebens hatte gesprochen – heute ist das Empire Geschichte, und die Zeit der schlimmsten Barbarei liegt gerade einmal ein Menschenalter zurück.

Obwohl die solch kühnen Epochenvergleichen zugrunde liegende Methode in den 1830er Jahren von Leopold von Ranke, dem Begründer der akademischen Disziplin Geschichte, vehement bestritten und die Eigengesetzlichkeit der Vergangenheit betont wurde, feierte ihre Basisidee, die Bildung von Analogien, im 19. und im 20. Jahrhundert weiterhin fröhliche Urständ. Ja, die Analogie wurde geradezu zum Zauberstab, mit dem sich scheinbar alles sinnvoll zueinander in Beziehung setzen liess. Die Geschichte Alexanders des Grossen und seiner Nachfolger, der Diadochen, erhellte auf einmal den Aufstieg Preussens zur Grossmacht zweitausend Jahre später, und die Kämpfe zwischen Cäsar und Pompeius machten auf nicht minder wundersame Weise die Auseinandersetzungen zwischen Liberalen und Konservativen im Europa des 19. Jahrhunderts verständlich. 

Und wenn der Mensch sich zum Gott macht?

Auch im Zeitalter der Digitalisierung hat die Analogie nichts von ihrer Faszination verloren: kein Verlagstermin, an dem nicht eine «wissenschaftliche» Neuerscheinung den Aufstieg und Untergang von Weltreichen, des römischen, des spanischen und, natürlich, des amerikanischen, gesetzmässig entschlüsselt zu haben beansprucht. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich diese vermeintlichen Entdeckungen als Banalitäten: Überdehnung von Herrschaftsbereichen, Sich-Ausruhen auf vermeintlichen Lorbeeren, Arroganz der Macht.

Doch für solche «Erkenntnisse» braucht man nicht die Geschichte, dafür reicht der Konfirmandenunterricht aus. Selbst diese kühnen Versprechungen haben sich kürzlich noch als steigerungsfähig erwiesen: In nicht allzu ferner Zukunft wird der Mensch durch die Perfektionierung künstlicher Intelligenz zum Schöpfer einer neuen Welt, also gottgleich, mit allen nur denkbaren Annehmlichkeiten und Schrecknissen, die aus diesem schwindelerregenden Aufstieg folgen – so die aufsehenerregendste aller jüngeren Prophezeiungen.

Dabei wäre, was die Vorhersageleistungen der Historiker angeht, Bescheidenheit angebracht. Den Sturz der «realsozialistischen» Systeme anno 1989 hatte kaum einer von ihnen auf der Rechnung, um nur ein einziges Beispiel zu zitieren. Machiavelli seinerseits sah sich nach der Niederlage der Eidgenossen bei Marignano im September 1515 genötigt, seine hochfliegende Einschätzung von 1513 zu revidieren. Er machte es mit einem Taschenspielertrick, nämlich durch die Behauptung, dass die Schweizer nie dauerhaft in Italien erobern wollten. 

Es gibt keinen Weg zurück

Dabei lag der Grundfehler seiner Argumentation – wie Machiavellis jüngerer Zeitgenosse Francesco Guicciardini hellsichtig erkannte – darin, dass es die historische Analogie gar nicht gibt. Was sich bei oberflächlicher Betrachtung als sinnstiftende Ähnlichkeit, wenn nicht gar als geschichtsleitender roter Faden darstellt, entpuppt sich bei genauerer Untersuchung als unvergleichbar, kommt doch auf jede scheinbare Übereinstimmung eine Fülle von abweichenden Faktoren.

Mehr noch: Die Geschichte wiederholt sich nicht nur nicht, sondern alles wandelt sich, nicht zuletzt der Geschmack, die Weltsicht, die Religion. Das schliesst jede Rückkehr zu einer besseren Vergangenheit aus, wie sie etwa die Reformatoren mit ihrer Hoffnung auf Wiederanknüpfung an die Urkirche anstrebten. Und alle vermeintlichen Rezepte, die sich als Heilmittel gegen Fehlentwicklungen ableiten lassen, erweisen sich als Selbsttäuschungen, schlimmer noch: als Irreführungen. Sie mögen für die eine Zeit, in der sie entworfen wurden, tauglich sein, doch schon wenig später wirken sie nicht mehr, weil sich die Verhältnisse grundlegend gewandelt haben.

Selbst die Kategorien von Gut und Böse werden für Guicciardini immer unsicherer, ist ihre Umkehr ins Gegenteil doch sehr häufig zu beobachten. So entsteht aus dem asketisch weltabgewandten Papsttum der Frühzeit die Machtkirche der Renaissance mit ihren weltumspannenden Herrschaftsansprüchen und Kriegen. So bleibt nur eine Konsequenz: Geschichte ist Aufbruch ins Unbekannte. 

Die Lebenslüge der Geschichte

Bis heute sind die meisten Historiker dieser Erkenntnis nicht gefolgt. Stattdessen dienen sie sich den Mächtigen wie die Humanisten des 15. Jahrhunderts mit der Formel an: Wir bewahren euch vor Rückfällen in die Katastrophen der Vergangenheit und zeigen euch den Weg in eine bessere Zukunft! Diese Lebenslüge des historischen Metiers findet ihre regelmässige Spiegelung in Politiker-Statements, die immer dasselbe Mantra gebetsmühlenartig wiederholen: Nur wer die Geschichte kennt, ist davor bewahrt, ihre Schrecken zu wiederholen.

Zumindest in diesem Punkte darf getrost Entwarnung gegeben werden: Sie wiederholt sich nicht. Anders ausgedrückt: 2019 ist nicht 1933, und auch der «Westen» ist nicht im Namen der Geschichte von akutem Zerfall bedroht. So ehrenhaft und moralisch vorbildlich solche Sonntagsreden sind, die vor der Wiederholung des geschichtlich Bösen warnen: Sie fokussieren nicht nur die Hoffnungen, sondern auch die Gefahren falsch. Denn das Unheimliche, da Unberechenbare der Geschichte besteht darin, dass sich ihre Erscheinungsformen stets verändern.

Eine Neuauflage des «Faschismus» kann es also nicht geben – nicht nur, weil sich die Lebensumstände und Bewusstseinshorizonte der Menschen fundamental verändert haben, sondern auch, weil dieser Begriff die tiefgreifenden Unterschiede zwischen den Diktaturen Mussolinis und Hitlers nivelliert. Doch das ist keine Garantie gegen neue, gleichermassen menschenverachtende Totalitarismen in neuem Gewande. Dazu ist der Wille, andere zu bevormunden und zu ihrem Besten umzuerziehen, im Menschen zu tief verwurzelt.

Selbst die verstörendste Idee Guicciardinis vom Wandel der moralischen Vorzeichen ist nicht vom Tisch, schliesslich entwickelte sich aus der Parole «Nie wieder Faschismus!» in der DDR ein neues, ganz anders geartetes System der Unterdrückung, dem Nationalsozialismus gewiss nicht vergleichbar, doch auch auf Unfreiheit gegründet.

Ist Geschichte mit dieser Entzauberung überflüssig? Im Gegenteil: Der notwendigerweise rückwärts gerichtete Blick des Historikers allein kann erklären, warum die Gegenwart so geworden ist, wie sie ist. Daraus folgt: sich auf keine vermeintlichen Erfolgsformeln, erst recht nicht auf ein vorgegebenes Telos, Ziel, der Geschichte zu verlassen und stattdessen den Sprung ins Dunkel mit dem Wissen um die damit verbundenen Unwägbarkeiten zu wagen. Und welche Wissenschaft hat schon mehr zu bieten?

Volker Reinhardt ist Professor für allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg i. Ü. Ende August erscheint bei C. H. Beck sein neues Buch «Die Macht der Schönheit. Kulturgeschichte Italiens».

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