Donnerstag, 1. April 2021

Des Kaisers Aufbruch in die Moderne.

 

aus Süddeutsche.de, 31. 3. 2021                   Polizisten erlernen 1911 das Telegrafieren an Morseapparaten.

Hedwig Richters Buch "Aufbruch in die Moderne": 
Die hässlichen Seiten der Belle Époque 
Hedwig Richter wurde mit Thesen über die Fortschrittlichkeit des deutschen Kaiserreichs zur umstrittensten Historikerin des Landes. Nun erscheint ihr neues Buch zum Thema.

Von Georg Simmerl

Hedwig Richters Versuch aus dem vergangenen Jahr, den Deutschen die Genese ihrer Demokratie als Fortsetzungsgeschichte des Fortschritts mit vermutlich gutem Ausgang näherzubringen, hat sie populär gemacht - und zur umstrittensten Historikerin des Landes. Doch während Richter, Professorin an der Münchner Universität der Bundeswehr, mit "Demokratie. Eine deutsche Affäre" in den Sachbuch-Bestenlisten landete und den "Anna-Krüger-Preis" für verständliche Wissenschaftssprache erhielt, attestierten ihr Journalistinnen und Journalisten, auch gerade sprachlich den Abgründen deutscher Geschichte nicht gewachsen zu sein. Und auch unter den Ordinarien der Geschichtswissenschaft wurden die Reaktionen zunehmend gereizter.

Der Marburger Historiker Eckart Conze etwa profilierte im Januar in der Zeit das Kaiserreich als autoritären Obrigkeitsstaat. Richters weichgezeichnetem Bild, so Conze, fehle jene kritische Distanz zum Kaiserreich, die bislang ein Zeichen für die Liberalisierung der Bundesrepublik gewesen sei. Beim Aufeinandertreffen der beiden im SWR-2-Radio warf ihm wiederum Richter vor,"Pickelhaubengeschichten" zu schreiben. Mit "der Exotisierung des Kaiserreichs" müsse aber endlich Schluss sein.

Richtig zur Sache ging es dann jedoch auf den Rezensionsportalen des Fachs. Auf H-Soz-Kult unterzog der Trierer Geschichtsprofessor Christian Jansen Richters Demokratiebuch in einer Rezension mit dem Titel "Gefühlte Geschichte" einer so polemischen wie peniblen Durchsicht, bei der er vor allem popularisierende Verkürzungen monierte. Auf Sehepunkte sprach Andreas Wirsching, als Direktor des Instituts für Zeitgeschichte einer der mächtigsten Historiker der Republik, sogar von einem "durch und durch unseriösen Buch", mit dem Richter "systematisch all jene wissenschaftlichen Standards" unterlaufe, die in Proseminaren vermittelt würden.

Schwächt der Stil ihrer Gegner auch die vorgebrachten Einwände?

Damit erreichte die Kritik an Richter und ihren Thesen eine außergewöhnliche Schärfe. Der Stil der jüngsten Angriffe lässt keinen Zweifel daran, dass hier Zunftgrößen einer in der breiteren Öffentlichkeit erfolgreichen Kollegin mit allen Mitteln ihr fachliches Renommee nehmen wollen. Aber schwächt der Stil auch die vorgebrachten Einwände?

Durch einen mitunter eigenwilligen Umgang mit Forschungsliteratur und manch leichtfertige Formulierungen gelangt Richter in ihrem Demokratiebuch tatsächlich immer wieder zu tendenziell beunruhigend geschichtsrevisionistischen Standpunkten. Wirsching etwa sieht gegenwärtig die demokratische Grundordnung bedroht und wirft - wie Conze - Richter vor, unabsichtlich neo-nationalistischen Bestrebungen zuzuarbeiten. Dieser Vorwurf betrifft Richters Neigung, deutsche Demokratiegeschichte von Anfang an in eine internationale Geschichte des "Westens" einzugemeinden statt sie auf den Nationalsozialismus zulaufen zu lassen. Für das Selbstverständnis aufrechter Demokraten scheint es auch eine Provokation zu sein, wenn Richter darauf hinweist, dass der Nationalsozialismus demokratische Wurzeln hatte und nicht aus obrigkeitsstaatlichen Überhängen, sondern aus einem demokratischen Gemeinwesen hervorging.

Hedwig Richter: Aufbruch in die Moderne - Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 175 Seiten, 16 Euro.

Vielleicht wäre es jetzt aber dennoch an der Zeit, aus einer maßlosen Kontroverse um eine Person zu einem neuen Historikerstreit zu kommen. Verkniffene Repetitoren, die sich damit begnügen, am Ende doch wieder nur die autoritären Grundzüge des Kaiserreichs durchzunehmen, leisten dazu aber kaum einen Beitrag. Zumal die Positionen genau besehen gar nicht so gegensätzlich sind. Selbstredend stehen alle auf der Seite der liberalen Demokratie. Die Frage ist bloß: Wie in ihrem Dienst an das Kaiserreich erinnern?

Der Bonner Historiker Christoph Nonn, der Richters Position nahesteht, sieht im Kaiserreich die Potenziale sowohl einer "hellen" als auch einer "dunklen Moderne" angelegt. Eckart Conze wiederum malte in seinem Buch "Der lange Schatten des Kaiserreichs" zwar vor allem das zweite Potenzial aus, er wirbt ansonsten (wie übrigens Bundespräsident Steinmeier) aber eigentlich auch für einen differenzierten Blick.

Produktive Streit um das Kaiserreich hat im Fach zudem Tradition: Hans-Ulrich Wehler erkannte im Kaiserreich seinerzeit eine vor allem ökonomisch hochdynamische Gesellschaft, die sich im verkrusteten Obrigkeitsstaat nur nicht voll entfalten konnte und so eine Vielzahl schwelender "Krisenherde" gebar. Und auch für seinen Antipoden Thomas Nipperdey war das Kaiserreich zwar in vielerlei Hinsicht "modern, bürgerlich, liberal", im "Kernbereich der Herrschaftsordnung aber autoritär". Richter, die sich an Nipperdey orientiert, gesteht dies ebenfalls ohne Weiteres zu.

Die Formulierungen sind dieses Mal weitgehend präzise

Wenn es nun einen produktiven Streit geben soll, dann reicht es allerdings nicht, bloß die hellen und die dunklen Aspekte des Kaiserreichs einander gegenüberzustellen. Für einen interessanten Streit müssen "Grautöne" kenntlich gemacht werden. Ebendies forderte Richter auch im Radiogespräch mit Conze. Ihr neues Buch "Aufbruch in die Moderne - Reform und Massenpolitisierung im Kaiserreich" gibt jetzt die Gelegenheit zu prüfen, ob sie die bürgerliche Gesellschaft des Kaiserreichs in ihren Ambivalenzen auch wirklich zu fassen bekommt.

Der neue Band ist ein Ableger des Demokratiebuches. Viele historische Figuren und manche Zitate kehren wieder. Auch die zentralen Thesen bleiben die gleichen: Durch vielfältige Reformen seien im Kaiserreich, vor allem um 1900, Inklusionsprozesse in Gang gebracht und so die Grundlagen für die moderne Massendemokratie gelegt worden. Der Schreibstil ist dieses Mal aber weitgehend präzise, das Buch bestens lektoriert. In den Mittelpunkt rückt nun die "dunkle Seite der Massenpolitisierung". Die Inklusionsdynamiken im Kaiserreich hätten nämlich, gipfelnd in seinem Nationalismus, zu vielfachen Exklusionen ­geführt. Richter erfasst sie in jenen Begriffen, die unsere Gegenwart aufwühlen: Rassismus, Antisemitismus, Kolonialismus, Populismus, Misogynie.

Die deutsche Belle Époque, die Richter dem Leser zeigt, schillert deswegen bisweilen hässlich: Wir sehen Robert Koch im Hamburg der Cholera-Epidemie von 1892 über den Dreck in den Armenvierteln verzweifeln; Helene Stöcker, eine führende Frauenrechtlerin, will die Euthanasie; der togolesische Geschäftsmann John Calvert Nayo Bruce, den die Hoffnung auf Bildung für seine Tochter ins Kaiserreich führt, wird zu einem erfolgreichen Organisator von Menschenzoos; und unterdessen lässt General Lothar von Trotha in Deutsch-Südwestafrika Zehntausende Herero und Nama abschlachten.

Da Richters Kaiserreich jedoch vor allem ein Rechtsstaat mit fortschrittlichem Männerwahlrecht, einflussreichem Parlament und lebhafter Öffentlichkeit ist, entsteht ein unheimlicher Effekt: Es rückt nicht nur an unsere Gegenwart heran, man meint sie hier und da sogar erkennen zu können. Richter presst nämlich die widersprüchlichen Reformbewegungen des Kaiserreichs in ein Narrativ progressiver Aufbrüche, das auf die Gegenwart vorausweist. Und für diesen Zweck greift Richter dann auch auf durchaus traditionelle Vorstellungen der deutschen Geschichtswissenschaft zurück.

Deutsche Bürgerlichkeit steht bei Richter für Leistungsorientierung und Mäßigung

Hatte Heinrich von Treitschke die preußischen Reformen des frühen 19. Jahrhunderts auf einen kleindeutschen Nationalstaat zulaufen lassen, so sortiert Richter die unterschiedlichsten Entwicklungen nach dessen Gründung in das Reformregister ein: Von den nationalliberalen Errungenschaften der 1870er über Bismarcks Sozialversicherung der 1880er und den Wahl- und Arbeitsschutzreformen um 1900 bis zu den Nachwirkungen des Interfraktionellen Ausschusses von 1917. Da unter den Reformorientierten dieser Zeit deswegen auch konservatives, teils reaktionäres Gedankengut "mindestens so häufig war wie progressives oder sozialistisches", müssen die disparaten Bemühungen letztlich in einem "bürgerlichen Projekt" zusammenlaufen, das auf ein fortschrittliches Fernziel ausgerichtet ist.

Obwohl gerade die deutsche Bürgerlichkeit damals wie heute gerne roh und enthemmt auftritt, steht sie bei Richter für Leistungsorientierung und Mäßigung. Sie verschafft der Frauenemanzipation Raum, und als der Kapitalismus nach seiner Zähmung um 1900 die Massen "beglückt", verbürgerlichen auch die aufstiegsbereiten Unterschichten (in der "Merkel-Ära" ginge es "den Menschen" mittlerweile, wie Richter jüngst in der SZ umfragebewehrt festhielt, "so gut wie nie"). Zu Exklusionen scheint eine mäßigende Bürgerlichkeit aber kaum noch fähig, und dies garantiert auch für Richter "Liberalität".

So unterscheidet sie, wie einst Heinrich August Winkler, einen "liberalen Nationalismus" von seiner rassistischen Radikalisierung. Diese Unterscheidung kollabierte aber schon im Berliner Antisemitismusstreit: Der Historiker Uffa Jensen hat daran erinnert, dass in diesem vornehmlich innerliberalen Disput nicht nur Treitschke, sondern auch sein Widerpart Theodor Mommsen die Juden aufforderte, eine eigenständige Identität aufzugeben, sich doch endlich vollständig zu integrieren und also: Deutsche zu werden. Bei Richter wird dann aus dem deutschen Bürgertum eine Kraft, die stärker als der Antisemitismus gewesen sei, und das Kaiserreich zu einem Staat, dem es weitgehend gelang, "die Massen zu integrieren".

Wenn sie das Sozialistengesetz damit erklärt, dass der Bismarck-Staat "seiner angekündigten Zerstörung nicht tatenlos zusehen konnte", spricht sogar aus Richter die zeitgenössische Furcht vor einer deutschen Sozialdemokratie, die aber schon damals kaum revolutionär war. Gerade in Bezug auf die aufkeimende Frauenbewegung verweist Richter aber stets auf die Marginalisierung aller Radikalen. Dass für die Durchsetzung des allgemeinen Frauenwahlrechts in Deutschland eine Revolution notwendig war, erklärt Richter durch internationale Vergleiche zur Ausnahme. An der "dunklen Seiten der Massenpolitisierung" will sie dagegen keinerlei deutsche Spezifik erkennen.

Selbst in seinen Einseitigkeiten bleibt Richters Essay jedoch eine instruktive Lektüre. Ein Stück Geschichtsschreibung, die das Kaiserreich in ein neues Verhältnis zur Gegenwart setzt. Darin bekommt das heutige deutsche Bürgertum seine eigenen Anfänge in tendenziösen Formeln vorgeführt. Und doch könnte es über die Ähnlichkeiten, die sich dabei auftun, auch ein wenig erschrecken.

 

Nota. - Ein Liberaler mag die Geschichte als einen ewigen Kampf zwischen Gut und Böse auffassen; auf der einen Seite Freiheit und Markt, auf der andern Autorität und Staatseingriffe. Das steht ihm frei. Ein Historiker mag im Alltag ein Liberaler sein, auch dem steht das frei. Doch ein Historiker hat als solcher kein Liberaler zu sein. Wenn sein Urteil vor der Bestands-aufnahme feststand, ist er ein Ideologe und kein Wissenschaftler. Natürlich forscht er nicht voaussetzungslos. Aber seine Voraussetzungen sind wissenschaftlicher Art und nicht der öffentlichen Meinung verpflichtet.

Und dann versteht es sich von selbst, dass ein Staatswesen, das das deutsche Kapital bis an den Punkt entwickelt hatte, wo es nach der Weltmacht greifen konnte, kein Rückfall ins Mit-telalter gewesen sein kann. Dass es gleichfalls nicht die Freisetzung aller Marktdynamiken sein konnte, liegt ebenso auf der Hand - denn dann hätte es nicht zum Großen Krieg zusammen-finden können. Die Darstellung des Wilhelminischen Reichs kann nur eine widersprüchliche sein, die als Ergebnis kaum ein Jaja, Neinnein zeitigen wird.

So war der ehemalige liberale Sozialistenfresser Franz Mehring verfahren, der sich als Histori-ker durch die Analyse des Staatswesens, in dem er lebte, zum Sozialisten reformierte: indem er, nun belehrt durch Marx und Engels, das Bismarckreich als von Anfang an bonapartistisch de-finierte. Ein Charakter, den es nur bewahren konnte, indem es wirklich auf den Krieg hinaus-lief.

In der historischen Zunft hat es Mehring nie zu großen Ehren gebracht (auch er hat übrigens allgemeinverständlich geschrieben). Es könnte den Herr- und Damschaften aber nicht scha-den, die Nase mal in seine Texte zu stecken.

JE

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