Trotzkis Ankunft in Petrograd.
Man versteht gar nichts vom 20. Jahrhundert, solange man es nicht auffasst als die Geschichte vom Scheitern der Welt-revolution.
"Revolution
ist heute ein seltsam farbloser Begriff geworden. Die Emphase, mit der
dieser Begriff einmal verbunden war, ist verschwunden. Die Revolution
steht nicht mehr auf der Tagesordnung - weder in der Theorie noch in der
Politik noch in der Kunst." So sprach Konrad Paul Liessmann auf dem NZZ-Podium Revolution während
des diesjährigen Lucerne-Festivals, und illustrierte gleich, wie das
kam - durch inflationären, konturlosen Gebrauch des Wortes, das längst
aufgehört hat, ein Begriff zu sein.
Unter Revolutionen verstand das 18. Jahrhundert vornehmlich
die Umdrehungen der Ge-stirne, bis das Wort 1789 eine
politisch-weltanschauliche Bedeutung annahm, die ihm zwei Jahrhunderte
lang erhalten blieb, und von ihr konnte man nicht nüchtern abwägend sprechen, sondern nur mit Leidenschaft. Das ist vorbei, Liessmann beweist es.
Zunächst
hatte das Wort noch einen guten Klang; nicht bei den Vertretern des
Ancien Régime, aber wohl in den Ohren der aufstrebenden neuen
herrschenden Klasse, der Bourgeoisie. Doch damit war schlagartig Schluss
am Tag der Pariser Juniinsurrektion 1848. Von nun an kam die Revolution
nur noch als die soziale, die rote in Frage. Als proletarische Weltrevolution, wie es im Kommunistischen Manifest hieß. Sie warf ihren Schatten auf alles, was
seither auf Erden ge-schah. Und alle revolutionären Nebenströmungen in
Kunst, Wissenschaft, Architektur und Lebensführung verdankten ihr Für
und Wider ihrer jeweiligen Stellung zu ihr. Wo nicht seit der Pariser Commune, so spätestens seit dem Oktober 1917.
Das frühe zwanzigste Jahrhundert war die Epoche der Weltrevolution.
Der Kriegsausbruch 1914 formalisierte nur, was sich seit 1905 angebahnt
hatte: Der Weltmarkt, der unter britischer Hegemonie entstanden war,
geriet aus dem Gleichgewicht. Ob der Neuankömmling Deutsch-land nun den ersten Schuss abgab oder nicht - er war der Störenfried, er war schuld an der Existenzkrise.
Wäre
die Weltrevolution möglich gewesen? Das ist eine Frage, die aus dem
Begriffsistrumen-tarium der Marx'schen Theorie stammt, und nur in ihrem
Rahmen ist sie diskutierbar. Wer das anders sieht, sollte nicht
weiterlesen.
Die Geschichte ist keine nomothetische, keine Gesetzeswissenschaft.
Wer sollte da Gesetze erlassen haben? Kein intelligenter Designer hat
für uns ein Stufenmodell entworfen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun.
Die Menschen machen ihre Geschichte wenn schon nicht unter frei
gewählten Voraussetzungen, so doch letzten Endes selbst. Dass etwas
nicht geworden ist, be-weist nicht, dass es nicht werden konnte. Möglich,
notwendig und unmöglich sind keine Kate-gorien der Wirklichkeit, sondern
der reflektierenden Logik. In der Wirklichkeit kommt es auf den Versuch
an.
Ist
der Versuch gemacht worden? Im Oktober 1917 in Russland, im Januar 1919
in Deutsch-land und dann in den folgenden Monaten und Jahren immer
wieder mal hier mal da. Denn der Krieg hatte ein neues Gleichgewicht auf
dem Weltmarkt nicht geschaffen. Deutschland lag darnieder, aber England
war den Amerikanern in die Schuldenfalle gelaufen, Geld musste her.
Aus dem ausgebluteten Deutschland? Darauf konnte ein neues Gleichgewicht
nicht gegrün-det werden, und am Pazifik zeichnete sich schon der
Konflikt zwischen dem japanische Tiger-staat und den Vereinigten Staaten
ab. Nicht zu reden von der unaufhaltsamen Revolution in den Kolonien...
Trotzki ermordet in Mexiko.
Mindestens
vom Anfang des Ersten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war die
Revolution aktuell. Den Auftakt zum Zweiten gab die Revolution in
Spanien, und wem bis dahin die sta-linistische Leitung der
Kommunistischen Internationale lediglich als ein Bremsklotz und
Hin-dernis der Revolution vorkam, musste nun zusehen, wie sie zur aktiven Vorhut der Konter-revolution geworden war. "Die Sowjetbürokratie ist endgültig ins Lager der Konterrevolution übergelaufen", hatte Trotzki vorhergesagt.
Und
nach dem Zweiten Weltkrieg? Ja, wann war er eigentlich zu Ende? War der
Korea-Krieg nur ein Nachwehen des Zweiten oder schon der Vorläufer des
Dritten Weltkriegs? War ein neues Gleichgewicht auf dem Weltmarkt
geschaffen? Osteuropa war herausgefallen und auch das riesige China, in
den Kolonien nahm die Unruhe noch zu, und Europa lag in Trümmern.
Es
war gerade das Ungleichgewicht auf dem Weltmarkt und die unermesslichen
Kriegs-schäden, die den langanhaltenden Boom im Westen möglich
machten; und den unvorherge-sehenen Wiederaufstieg Westdeutschlands, den
der neue Hegemon Amerika nie geduldet, geschweige denn gefördert hätte
ohne den inzwischen eingetretenen Kalten Krieg! Der Kalte Krieg war der
Garant des internationalen Status quo, der die Wiederherstellung des
Welt-markts überhaupt erst möglich gemacht hat, und die Amerikaner
respektierten ihn gewissen-haft, wie im Juni 1953, im Oktober 1956 und
noch im August 1968 augenfällig wurde. Nur Chruschtschows Abenteuer in
Kuba war ein Ausreißer, und er hat es nicht lange überlebt.
Welchen
Sinn hätte es, darüber zu streiten, an welchem Tag die Epoche der
Weltrevolution abgeschlossen wurde? Zur Jahreswende 1989/90 war sie es
gewiss. Hat sie im Mai 1968 oder während der Nelkenrevolution in
Portugal 1974 nochmal kurz ein Chance gehabt?
Das
hätte man damals theoretisch diskutieren können, aber nur, um es
praktisch zu erproben. Da es heute nichts mehr praktisch zu erproben
gibt, ist auch für theoretische Retroflexion kein Anlass. Umso weniger,
als im Verlauf der digitalen Revolution sich das Proletariat rein physisch auflösen wird, nachdem die Arbeiterbewegung politisch längst im Reich der Schatten versun-ken ist.
Mit der Folge, dass beim Wort Revolution keiner mehr eine Gänsehaut kriegt und sein Bedeu-tungsfeld bis ins Reich der Nachtwäsche ausgeweitet werden kann.
20. 9. 13
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