Samstag, 3. Oktober 2020

Dreißig Jahre danach.

Ein Nachtrag zu gestern.

Olla podrida

Die Feierlichkeiten zum 30sten Jahrestag der Wiedervereinigung bleiben unbefriedigend, wenn nicht endlich unsere wahre partie honteuse zur Sprach kommt. Der Glaubensartikel vom fürsorgenden Staat war keine Errungenschaft des Wiederaufbaus nach dem Krieg und gewissermaßen der ideelle Beitrag der Sozialdemokratie zum westdeutschen Wirtschafts-wunder, sondern das unmitteltbare ideologische Erbe des Nationalsozialismus - und in der DDR ganz ohne Gegenrede.

Vor hundertundeinem Jahr ist das wilhelminische Reich untergangen, doch mit ihm gewiss nicht der preußische Obrigkeitsstaat. Der wurde im Gegenteil zwölf Jahre lang vom Natio-nalsozialismus totalitär überboten. Nur damit gelang ihm, woran die Weimarer Republik gescheitert war: die Einbindung der Arbeiterschaft ins Staatsgetriebe durch die Liquidie-rung der Arbeiterbewegung. Denn nur so konnte auf der andern Seite dem monopolisti-schen Kapital das Soziale in der Marktwirtschaft aufgezwungen werden. Hitlers Volksstaat war der erste Wohlfahrtsstaat auf industriellem Grund, freilich auf den Spuren Mussolinis und rasch gefolgt von Roosevelts New Deal. Ihm diente er als Plattform der Generalmo-bilmachung für den Weltkrieg, der sein eigentlicher, aber unaussprechlicher Zweck ge-wesen ist.

Der Weltkrieg wurde zur Katastrophe, und wenn er Deutschland in der Welt zum Paria ge-macht hat, hat er doch auch das Nötige zur Erhaltung des kapitalistischen Weltsystems ge-leistet: Er hat im Wohlfahrtsstaat dauerhaft den Massenkonsum angefacht, hat die Arbeiter-bewegung politisch entleibt und hat dem Stalinismus im Kalten Krieg die Friedhofsruhe verschafft, die er brauchte, um die letzten Spuren der Oktoberrevolution der Erdboden zu tilgen.

Als dies geschafft war, konnte ihn keiner mehr brauchen, und unter der Firniß trat das feu-dalbürokratische Vergeudungs- und Verknappungssystem unverstellt zu Tage. Die DDR verschwand über Nacht.

In ihr hatte der totalitäre Volksstaat dank NKWD und Roter Armee fortgelebt. In den ersten Jahren war die Versorgung der Menschen in der sowjetisch besetzten Zone tatsächlich bes-ser als im Westen, doch nach Marshallplan und Währungsreform kippte das um. Es musste 1961 eine Mauer durch Deutschland gebaut werden, um das Ausbluten der DDR zu stop-pen. Sie vertrocknete zu einer Meta-Nische, die sich mühsam bis 1989 über die Runden schleppte. Sie hatte die gleichmäßige Versorgung des Menschen, die sie doch rechtfertigen sollte, nicht gewährleisten können und erübrigte sich.

Der freiheitliche Rechtsstaat wurde im Osten Deutschland nie zum Thema. Zum Thema wurde er auch nicht im Westen, wo er von den Westmächten oktroyiert und gerademal von einigen zurückgekehrten Emigranten betrieben wurde. Er litt an dem Paradox, dass er da, wo er herrscht, eo ipso nicht rückwirkend gilt: Auch im Westen konnte die Nazijustiz nicht "bewältigt", nämlich konnten die Nazirichter nicht entfernt, geschweige bestraft werden, wenn sie die Gesetze, die zu ihrer Zeit gültig waren, nicht verletzt hatten.

Der springende Punkt war, hier wie dort: Es hatte keine Revolution stattgefunden - die darin bestünde, dass ein umwälzendes Volk an die Stelle der alten eine neue Legalität setzte. Sondern eine Autorität von außen war genötigt, die 'Kontinuität des Rechtsbodens' zu wahren - eine Formel, die bereits die Revolution von 1848 dem Untergang geweiht hat. Freiheit und Rechtsstaat wurden zu einem Eigenwerwerb im Westen immerhin im Jahr 1968. Manche freiheitliche Bestimmung des Grundgesetzes wurde gültig erst damals, als sie zuerst auf der Straße und anschließend vor Gericht erstritten wurde. Doch im Vorder-grund stand er nicht: An die Stelle des kapitalistischen Leistungsterrors setzte die Acht-undsechzigerbewegung das Paradigma der Bedürfnisbefriedigung. Wer was braucht, soll es haben, und dafür zu sorgen hat - der Staat

"Staatsknete" hieß der Sesamöffnedich der Antiautoritären und - später - Alternativen.

Die Folge war: Als der Osten dazukam, war auf der ehedem klassenkämpferischen und inzwischen untergründig-mainstreamigen Linken gerademal die Vorstellung vom Staat als einer melkbaren Kuh übriggeblieben: Ihr "langer Marsch durch die Institutionen" hatte sich als ein Übergang in den Öffentlichen Dienst konkretisiert; und als es so weit war,  fand zu-sammen, was zusammengehörte

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Der Zweck des freiheitlichen Rechtsstaats ist nicht, eine Volksherrschaft zu ermöglichen, die darin bestünde, alle mit dem zu versorgen, des sie bedürfen. Der Zweck der Demokratie ist es - umgekehrt -, Freiheit und Recht zu gewährleisten. Die Freiheit eines jeden ist, seine Bedürfnisse alias Interessen gegen die der andern zu vertreten. Sein Recht ist, gegen Jeden real und nicht nur pro forma dieselben Ansprüche geltend zu machen, die der gegen ihn erhebt. Und bei der Definition des gesetzlichen Rahmens hat der eine so viel mitzureden wie der andere.

Solange dies nicht klargestellt ist, können Populisten, Demagogen und Korrekte im poli-tischen Kampf auf der Klaviatur von Bedürfnissen und Identitäten aller Art weiter ihre Rhapsodien spielen, und den Ausschlag geben die Zufälle des Augenblicks. Bis es aber so weit ist, gebietet die Vernunft, auf identitäre Empfindlichkeiten von Betroffenen nun länger keinerlei Rücksichten zu nehmen. Dreißig Jahre sind genug.




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