Freitag, 2. Oktober 2020

Demokratie ist, wenn ich recht bekomme.

 

aus FAZ.NET, 2. 10. 2020                                                                                 40. Jahrestag

Große Sehnsucht nach Vater Staat
Egal ob wirtschaftlich, politisch oder ganz alltäglich: Für Probleme wurde in der DDR stets der Staat verantwortlich gemacht. Die Folgen der SED-Herrschaft machen sich bis heute bemerkbar. 

Der ältere Mann beim „Bürgerdialog mit Michael Kretschmer“ in Ostsachsen ist sichtlich aufgebracht. Jahrelang und durch alle Instanzen habe er gegen die hohen Beiträge gekämpft, die ihm der Abwasserzweckverband seiner Meinung nach „völlig ungerechtfertigt abknöpfen“ wollte. Doch alle Mühe sei letztlich vergebens gewesen, er habe verloren. Unerhört sei das, rief er, und überhaupt: „Das ist doch keine Demokratie!“ Großes Gejohle im Saal. „Genau! Dafür sind wir ’89 nicht auf die Straße gegangen!“, ruft eine ebenfalls ältere Frau. Sachsens Minister-präsident wartet einen Moment, bis sich die Aufregung gelegt hat, und beginnt dann zu erläu-tern, dass eine freie Gerichtsbarkeit ein Wesensmerkmal einer funktionierenden Demokratie sei, dass man vor Gericht auch verlieren könne und das dann eben – auch wenn's schmerzt – aushalten müsse.

Die Ansicht, dass „Demokratie ist, wenn ich recht bekomme“, erlebt nicht nur Kretschmer immer wieder, wenn er im Lande unterwegs ist. Sie beruht auf einem fundamentalen Missver-ständnis, das es besonders in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung gibt und das sich in den Dialog- und Gesprächsformaten, die seit dem Aufkommen von Pegida und AfD aller-orten veranstaltet werden, und erst recht auf Demonstrationen nun auch häufig öffentlich Bahn bricht. Für den Historiker Stefan Wolle, einen exzellenten Kenner der DDR-Geschichte und wissenschaftlichen Leiter des DDR-Museums in Berlin, ist das nicht überraschend. „Nach wie vor haben vor allem ältere Menschen im Osten ein grundsätzlich anderes Politikverständ-nis“, sagt er. „Sie verwechseln häufig Verfassungsfragen mit politischen Entscheidungen oder ihrer persönlichen Situation.“

 
Der große Frust gegen die Entscheider

Eine Erklärung dafür sieht Wolle in den Erfahrungen in der DDR, wo der Staat und die SED als Staatspartei quasi eins waren. Sie beanspruchten nicht nur, alle Belange des öffentlichen Lebens zu regeln, sondern wurden von den Bürgern auch dafür verantwortlich gemacht. Ob es in den Läden an Obst, Gemüse oder Spülmittel fehlte, ob es in der Apotheke nicht das benötigte Medikament gab, man monatelang auf einen Termin beim Handwerker oder vergeblich auf die Sanierung einer Straße wartete – schuld waren stets „die da oben“, gern verbunden mit dem allgegenwärtigen, aber eben auch wahren sozialistischen Alltagsseufzer: „Man kann ja nichts machen.“ Der Satz diente zugleich als Ventil gegen unhaltbare Zustände, aber auch als Entlastung der eigenen Person: Verantwortlich waren die anderen.

Der SED, der jede Eigeninitiative von vornherein suspekt vorkam, war das zwar ganz recht, allerdings weckte sie damit auch eine überbordende Erwartungshaltung an sich und den Staat, die sie zu erfüllen niemals in der Lage war. Am Ende war die Enttäuschung darüber so groß, dass das Volk die Partei hinwegfegte, in seiner Mehrheit dann aber nicht das Schicksal in die eigenen Hände nahm, sondern sich erwartungsvoll dem vermeintlich reichen Onkel aus dem Westen zuwandte. Der – so manchen Teilnehmern allerdings auch sehr peinliche – Spruch auf einem damaligen Demo-Transparent „Helmut, nimm uns an die Hand, führ uns ins Wirtschaftswunderland“ war beredter Ausdruck der Hoffnung, nun endlich alle Wünsche „von oben“ erfüllt zu bekommen. Und Helmut Kohl bediente diese Erwartung nach Kräften.

Die Enttäuschung folgte auf dem Fuße. Im Mai 1991, gerade mal ein halbes Jahr nach der Wiedervereinigung, wurde Kohl bei einem Besuch in Halle mit Eiern beworfen. Im Osten herrschte Massenarbeitslosigkeit, in manchen Gegenden lag sie bei 50 Prozent. „Und das soll Demokratie sein?“, hörte man nun die Leute fragen. Den Gang zum Arbeits- oder Sozialamt, etwas, was es in der DDR nicht gegeben hatte, war für viele Menschen extrem demütigend. Und nur wenige wussten sich zu wehren. Verwaltungsgerichte etwa, an denen man gegen staatliches Handeln klagen konnte, waren in der DDR unbekannt. Überhaupt vermied man, wenn es irgend ging, mit der sozialistischen Gerichtsbarkeit in Berührung zu kommen.

Der Wunsch nach einem Staat, der die Verantwortung trägt

Ein gängiges Mittel, sich in der DDR gegen den Staat zu wehren oder seine Gunst zu erlangen, war vielmehr die „Eingabe“, die, meist vor bedeutenden Jahrestagen oder Wahlen, gern direkt an Erich Honecker nach Berlin geschickt wurde. Dahinter steckte häufig auch der Glaube, die Führung sei über die wahren Zustände im Lande nicht im Bilde. Oft ging es bei Eingaben um persönliche Alltagsschwierigkeiten – sei es die verzweifelte Suche nach einer Wohnung, die Wartezeit auf einen Urlaubsplatz oder die zum x-ten Mal verschobene Sanierung einer Straße. Und nicht selten gewährte die Partei dann Zugeständnisse. Es war eine Art willkürliches Gnadenrecht, das eher an Feudalismus denn an Sozialismus erinnerte, aber den Urheber im Erfolgsfall stolz und zufrieden machen konnte.

In Sachsen knüpfte Ministerpräsident Kurt Biedenkopf an diese Tradition an, indem er in der Staatskanzlei ein Büro einrichtete, das sich um Anliegen und Beschwerden der Bürger direkt kümmerte. Mit der Leitung betraute er seine Frau Ingrid, die für jene Sachsen, die sich im Gestrüpp der neuen Institutionen nicht zurechtfanden oder das auch gar nicht wollten, das „bewährte“ Eingabewesen aus DDR-Zeiten erfolgreich fortsetzte. Das trug zwar zu Biedenkopfs Popularität bei, bediente aber perfekt die Sehnsucht nach Autorität und Gunst von oben. „Da steckt auch viel Bequemlichkeit drin“, sagt Stefan Wolle. Der Wunsch nach einem paternalistischen Staat, der die Dinge regelt, sei im Osten durchaus ausgeprägter.

AfD bedient die gleiche Zielgruppe

Eine Folge ist der in den östlichen Bundesländern zum Teil deutlich größere Erfolg der AfD. „Viele sehnen sich nach Autorität, auch um die eigene Mittelmäßigkeit und Erfolglosigkeit anderen in die Schuhe schieben zu können“, kritisiert Wolle. Das gebe es freilich auch im Westen, aber: „Die AfD bedient die in der DDR allgegenwärtig gewesene Meckerstimmung nach Kräften und verbindet sie mit Kritik an der Demokratie.“ Da ist sie wieder, die gelernte Verbindung von Systemfrage und persönlicher Situation. Mit Slogans wie „Vollende die Wende“ oder „Wende 2.0“ knüpfe die AfD in billigster Weise daran an, sagte Wolle. „Das ist nun wirklich die größte Unverschämtheit. Diese Partei bedient die Illusion, das heutige ‚System‘ müsse wie 1989 weggemeckert oder wegdemonstriert werden.“

Ob sich der Konflikt zwischen der erwarteten Allzuständigkeit des Staates und persönlicher Eigenverantwortung mit der Zeit auflösen wird, vermag auch Wolle nicht zu prognostizieren. „Tendenziell ja“, sagt er. Andererseits erlebe er immer wieder auch verklärende Ansichten bei jungen Leuten, die die DDR gar nicht mehr aus eigener Anschauung kennen. „Die DDR wird mit jedem Jahr des Abstands immer schöner“, sagt Wolle. Dieses Leben, in dem sich viele auch bequem eingerichtet hatten, geriet nach 1989 aus den Fugen, und die Folgen sind bis heute spürbar.

 

 

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