Sonntag, 24. Januar 2021

Die Macht der Scharlatane.


aus FAZ.NET, 23. 1. 2021                                                                      Hieronymus Bosch, Der Scharlatan

Die Meister der Fälschung 
Grete de Francesco schrieb in den dreißiger Jahren ein Buch über die Figur des Scharlatans. Seine Neuausgabe zeigt, wie überraschend aktuell das Thema gerade jetzt ist.
 
Von Peter Rawert

Angeblich war es ihre literarische Begegnung mit dem Cavaliere Cipolla, dem Illusionisten und dämonischen Hypnotiseur aus Thomas Manns Novelle und Faschismusparabel „Mario und der Zauberer“, die sie den Entschluss für ihr Buch fassen ließ. „Ich wußte aber sofort, daß ich als Autor stumm zu bleiben hatte, daß mir gerade die gleichnishafte Größe des Themas das äußerste Maß von Zucht auferlegte, daß ich zu schweigen und der Stoff zu sprechen hatte“, schrieb Grete de Francesco später an Thomas Mann. „Ich vermied die Gegenwart, ich vermied jede ,geistreiche‘ Parallele, ich trat zurück, um der übermächtig sich erhebenden Anklage Raum zu geben ... und war bestrebt, die Tarnung so dicht zu machen, daß dieses trojanische Pferd ... in Deutschland Eingang findet.“

Ihr Buch, „Die Macht des Charlatans“, erschien 1937 in Basel. Goldmachern, Quacksalbern, Wurm- und Wundärzten, Magnetiseuren, Taschenspielern, Salbenkrämern und anderen Marktschreiern ist die Abhandlung gewidmet. Ihr Inhalt ist tatsächlich rein historisch. Jeden aktuellen Bezug hat sich die Autorin versagt. Es sind Alchemisten wie Leopold Thurneißer und Marco Bragadino, Wiedergänger wie der Graf St. Germain, Heiler wie Doktor Eisenbarth, John Taylor, James Graham oder Franz Anton Mesmer, Zauberkünstler wie Jacob Philadel-phia, beamtete Scharlatane wie der Helmstedter Hofrat Gottfried Christoph Beireis oder schlicht anarchische Charaktere wie Giuseppe Balsamo alias Comte Alessandro Cagliostro, deren Leben und Taten de Francesco verhandelt. Nach Art einer phänomenologisch arbei-tenden Soziologin formt sie deren Charakterzüge und Verhaltensweisen zu einem überzeitlichen Typus: zum Scharlatan als Inbegriff des Fälschers, welcher der Wahrheit, dem Wissen und den Worten den Echtheitsgehalt raubt und so die Leichtgläubigen – seine Opfer – verführt. Zu politischen Bewegungen und ihren Anführern schweigt die Autorin konsequent. Doch besteht kein Zweifel daran, dass das, was für sie der normative Kern von Scharlatanerie ist, für Scharlatane aller Fakultäten gilt, auch die politischen.

Der Scharlatan als Wohltäter

Versucht man zu erfassen, was den Protagonisten dieser Darstellung ausmacht, kommt ein Bild zustande, von dem man instinktiv meint, es zu kennen, ohne es sich selbst je so klar vor Augen geführt zu haben. Der Scharlatan lebt von der Hoffnung seiner Opfer. Denkende Menschen meidet er, gläubigen hingegen wendet er sich zu. Er verspricht, Wünsche und Sehnsüchte zu erfüllen, seien es kindliche oder erwachsene, seien sie materiell oder ideell. Der Scharlatan ist Alchemist und Magier zugleich. Er beherrscht die Kunst der Verwandlung. Er hat den Stein der Weisen. Er macht Blei zu Gold, aus Armen Reiche, aus Kranken Gesunde und aus Einsamen Geliebte. Er versteht sich auf arkane Rezepte, spirituelle Praktiken und auf die Kommunikation mit dem Jenseits.

Befriedigung der eigenen Geltung

Sein Wissen und seine Fähigkeiten hat der Scharlatan an bedeutenden Akademien und auf ausgedehnten Reisen erworben – meist durch den Orient oder den Fernen Osten. Manches weiß er von Brüdern aus geheimen Logen oder anderen hermetischen Zirkeln. Er verkehrt in hochmögenden Kreisen. Der Scharlatan ist Wohltäter. Handelt er für die Armen, so verzichtet er auf Honorare. Die Befriedigung der eigenen Geltung ist ihm wichtiger als der materielle Vorteil. Seine Menschenbehandlung gründet gleichwohl auf Verachtung. Mitleid ist ihm fremd, Einfalt nutzt er aus und verspottet sie zugleich.

Der Scharlatan hat bedeutende Erfindungen gemacht. Deren Einsatz verheißt das Ende irdischer Mühen. Auch auf die Herstellung von Allheilmitteln wie Theriak versteht er sich. Nicht Experten lässt er über ihre Wirkung urteilen, allein die Halbgebildeten sollen sie bewerten, weil er selbst nur halbes Wissen verkauft.

Für seine Verdienste hat der Scharlatan Orden und Ehrenzeichen erhalten. Gern schmückt er sich mit akademischen Graden. Auch Adel steht ihm gut zu Gesicht. Das Adelsrecht ist sein Metier. Überdies hat er oft militärische Ränge erklommen. Sie qualifizieren ihn für strategische und diplomatische Missionen. Er brilliert in den ungewöhnlichsten Disziplinen, beherrscht alte und neue Sprachen und versteht sich auf die Kunst. Man nennt ihn einen Polyhistor, einen Universalgelehrten.

Kritik verdirbt ihm sein Geschäft

Der Scharlatan liebt Latinismen und erfundene Worte. Die Sprache ist sein wichtigstes Requisit. Er nutzt sie mit überbordender Gelehrsamkeit. In Wahrheit ist er oberflächlich, setzt auf vages Wissen. Seine empirische Basis ist allein das persönliche Erlebnis. Tatsächlich ist er ein Meister der Fälschung. Zugleich gibt er vor, Fertigkeiten auf den entlegensten Gebieten zu haben. Der Magnetismus oder die Automatenkunst gehören dazu. Auch in der Geisterbeschwörung ist er firm. An den Teufel glaubt er nicht, aber er spielt mit dessen Nimbus.


Auch der Maler Giandomenico Tiepolo lief dem ein oder anderen Scharlatan über den Weg, etwa beim Karneval. Fresko in der Villa Valmarana in Vicenza, 1757.

Der Scharlatan ist unduldsam. Er hasst Kritik. Sie quält ihn und verdirbt sein Geschäft. Ähnlich ist es mit der Neugier. Der Scharlatan lebt vom Geheimnis. Er ist in ständiger Angst vor Entlarvung. Deshalb ist er stets in Eile. Der Scharlatan ist Verschwörungstheoretiker. Er deutet die Geschichte vom Ende her. Das bloß Konsekutive ist bei ihm kausal. Was ihm nicht passt, stellt er dar, als sei es von unsichtbarer Hand und mit Absicht gegen ihn gelenkt. Der Scharlatan hat mächtige Feinde, gegen die er seine Anhänger in Stellung bringt.

Der Scharlatan ist Populist und mehr noch: Er ist Propagandist. Unentwegt arbeitet er mit Schlagworten. Sie sind einfach, wiederholbar und gefühlsbetont. Ein jeder kann ihren Inhalt mit seinen eigenen Vorstellungen füllen. Der Scharlatan meidet Sammelbegriffe. Nicht vom „Wetter“ spricht er, sondern von Blitzen, Sturm und Hagel, nicht von „Waffen“, sondern von Kanonen, Mörsern und Bomben. Er will die Ohren seiner Hörer sturmreif schießen. Oft setzt er dazu auch auf Musik. Märsche sind es, die er liebt, besonders das Defilee. Er weiß, welche Macht der Rhythmus über die Menschen hat. Und seine wichtigste Erkenntnis: Er weiß, dass die Leichtgläubigen zwar die Lüge verachten, die ganze Wahrheit aber gleichwohl scheuen. Deshalb negiert der Scharlatan die Wahrheit nicht. Das unterscheidet ihn vom bloßen Betrüger. Er ersetzt sie vielmehr durch eine neue Erzählung.

Die Tarnkappe der Kulturgeschichte

Es drängt sich auf, de Francescos historischen Scharlatan und seine Verheißungen in die Gegenwart zu holen. Aus Gold werden dann Bitcoins und Derivate, aus dem arkanen Wissen der Logenbrüder die Produkte der modernen Esoterikbranche, aus dem Perpetuum mobile die „Freie Energie“, aus der Erlösung von der Armut das bedingungslose Grundeinkommen und soziale Gerechtigkeit, aus den Wohltaten für die Armen die Brosamen aus der Hand von Gemeinnützigkeitsfunktionären, aus Theriak werden Globuli, aus schlicht erfundenen akademischen Weihen werden Titel, deren Verleihung auf Copy-and-paste-Plagiaten beruht, aus plötzlich auftretenden Pandemien werden die klandestinen Vernichtungspläne internationaler Eliten, und aus der Wahrheit werden „alternative Fakten“, die sich nicht mehr bloß von Mund zu Mund verbreiten, sondern in Echtzeit durch die sozialen Netzwerke des World Wide Web rauschen.

Wasser zu Wein? Eine von Cagliostros leichteren Übungen! Stich aus dem 18. Jahrhundert.

Aber halt: Nicht jeder ist ein Scharlatan, der bloß zuweilen scharlataneske Züge offenbart. Wer bloß unduldsam ist, mag dem Verdikt entgehen. Ebenso der schlicht Eitle, der Titelsüchtige, der aufdringlich Wohltätige oder der nur übermäßig Laute. De Francescos Zuschreibungen sind keine Brandzeichen. Sie bilden vielmehr nur Punkte einer Prüfliste, deren Anwendung nach dem Prinzip eines „Je-mehr-desto-Scharlatan“ erfolgt. Volker Breidecker, der die nun erschienene Neuausgabe von de Francescos Buch (Die Andere Bibliothek. 320 S., Abb., geb., 44,– €) mit einem klugen biographischen Essay über die Autorin versehen hat, stellt überdies zu Recht fest, dass es zum doppelbödigen, aber sehr ernst zu nehmenden Witz des Buches gehört, dass es nicht nur den Fingerzeig auf den Noch-nicht- oder Doch-gerade-schon-Scharlatan gestattet, sondern zugleich die kritische Reflexion auf den Status und die Existenz des modernen Intellektuellen – auch und gerade im Wege der Selbstbetrachtung.

De Francescos Hoffnung, mit ihrem Buch unter der Tarnkappe der Kulturgeschichte zu den gegen den Scharlatan „immunen Menschen“ durchzudringen – für die Autorin jene mit Humor, Distanz, Ironie und Geist –, hat sich in Deutschland nicht erfüllt. Auch unter Lesern im Exil war die Rezeption des Werkes verhalten. In öffentlichen Bibliotheken hierzulande befinden sich erstaunlich wenige Exemplare. Nur selten boten und bieten Antiquare es an. Breidecker äußert die Vermutung, dass die damals im Reich kursierenden Stücke von „höherer Stelle“ eingezogen und vernichtet wurden. Die Vermutung ist nicht abwegig.

Grete de Francesco wurde 1893 als Margarethe Emilie Weissenstein in Wien geboren. Sie absolvierte Studien an der Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie in München und diplomierte später als erste weibliche Absolventin der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin mit einer nicht mehr auffindbaren Arbeit über „Das Gesicht des faschistischen Italien“. Durch Heirat und die Zeitläufte erhielt sie die italienische Staatsangehörigkeit. Ganz überwiegend arbeitete sie als freie Journalistin. Kurzzeitig war sie beim Feuilleton der „Frankfurter Zeitung“ angestellt. Eine Unzahl von Ortswechseln prägte ihre oft prekären Lebensverhältnisse. Wohl von 1937 an war sie in Mailand ansässig. Nach der deutschen Besetzung Norditaliens im September 1943 verbarg sie sich zeitweise in einem „Irrenhaus“ für Frauen. Im Herbst 1944 fiel sie der SS in die Hände. Vermutlich im Februar 1945 wurde sie im KZ Ravensbrück umgebracht. Ob ihre jüdische Abstammung ihr zum Verhängnis wurde, ihr Buch oder beides, weiß niemand. Fest steht nur, dass sie der Macht des Scharlatans zum Opfer fiel.

Nota. - Thomas Mann gehört nicht zu meinen Hausgöttern. Doch dass er auch Hitler mit einem Jahrmarktshypnotiseur verglichen hätte, traue ich ihm nicht zu. Oder gar mit dem verwirrten Hanswurst Trump! Der war nur eine Farce und keine Tragödie. Aber es hätte schlimmer kommen können...

JE

 

 

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