Donnerstag, 28. Januar 2021

Judenvertreibung und Vernichtung in Österreich.


aus nzz.ch, 25.01.2021                           Zwischen 1938 und 1945 wurden etwa 65 000 österreichische Juden ermordet. Seit 2000 erinnert am Judenplatz in Wien ein Mahnmal der britischen Künstlerin Rachel Whitehead an die Opfer.

Verhaftet, vertrieben und verbrannt: 
Vor 600 Jahren machten die Juden in Österreich eine traumatische Erfahrung 
Im Mittelalter war Wien ein Ort der jüdischen Gelehrsamkeit. Doch 1421 ordnete Albrecht V. die Vernichtung der Juden an. Der damaligen Katastrophe sollten weitere folgen – nur durch öffentliche Erinnerung sind Lehren aus der Leidens-geschichte zu ziehen.
 
von Jan-Heiner Tück
 
Der Judenplatz im ersten Wiener Gemeindebezirk ist ein vielschichtiger Erinnerungsort. Er hält einschneidende Daten der jüdischen Leidensgeschichte in Wien präsent. Das erste Trauma ist die Wiener Gesera, die Vertreibung und Ermordung der Juden durch Herzog Albrecht V. im Jahr 1421. Das zweite Trauma ist das Pogrom, das Kaiser Leopold I. 1670 veranlasste, um die Juden für vermeintliche Verbrechen zu strafen. Das dritte Trauma ist die Deportation und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten. Der Judenhass, der sich immer wieder in barbarischen Exzessen entlud, hat viele Ursachen. Neben ökonomischen und sozialen spielen religiöse Motive eine wichtige Rolle.

Im Mittelalter genossen die Juden im Herzogtum Österreich zunächst relativen Schutz. Das jüdische Leben konnte sich entfalten. Von den Zünften ausgeschlossen, fokussierten sich Juden auf Geldverleih und Handel. Sie gelangten teilweise zu erheblichem Wohlstand. Der Judenplatz in Wien war das Zentrum des jüdischen Lebens. In der Nachbarschaft zur herzoglichen Residenz «Am Hof» gab es neben einer Synagoge und einem Spital auch eine Schule. Wien war ein Ort jüdischer Gelehrsamkeit, an dem so renommierte Rabbiner wie Isaak ben Mose wirkten.

Herzog Albrecht V. (1397–1439) knüpfte zunächst an die moderate Judenpolitik seiner Vorgänger an, vollzog in den Jahren 1420/21 aber eine radikale Kehrtwende, als er die Inhaftierung, Vertreibung und Vernichtung der Juden anordnete, wenn diese die Taufe verweigerten. Die antijüdische Barbarei erreichte ihren Kulminationspunkt, als am 12. März 1421 die letzten in Wien verbliebenen Juden auf einer Wiese nahe der Donau auf einem Scheiterhaufen zusammengetrieben und bei lebendigem Leibe verbrannt wurden. 92 Männer und 120 Frauen. Die Asche der Verbrannten soll anschliessend nach Gold und Schmuck durchsucht worden sein.

Nach der «Gesera», dem jüdischen Bericht über dieses Pogrom aus dem 16. Jahrhundert, soll es zuvor in der Synagoge zu einer kollektiven Selbstverbrennung gekommen sein. Die bedrängten Juden hätten sich der Zwangstaufe widersetzt und so ein leuchtendes Beispiel für die Heiligung des göttlichen Namens gegeben. Obwohl es unter den Inhaftierten vereinzelt zu Selbsttötungen kam, ist sich die Forschung einig, dass mit dem Massensuizid ein Topos der jüdischen Märtyrertheologie aufgenommen wird, um die Juden in ihrer Standhaftigkeit zu stärken. Eine Selbstverbrennung ist aus anderen Quellen nicht belegt.

Das sogenannte Jordanhaus am Judenplatz erinnert bis heute an die Schrecken der Gesera. In die Fassade ist ein Relief mit der Taufe Jesu eingelassen. Eine lateinische Inschrift verbindet die biblische Szene mit der Verbrennung der Juden und bietet folgende Deutung: «Durch die Fluten des Jordan wurden die Leiber von Schmutz und Übel gereinigt. Alles weicht, was verborgen ist und sündhaft. So erhob sich 1421 die Flamme des Hasses, wütete durch die ganze Stadt und sühnte die furchtbaren Verbrechen der Hebräerhunde. Wie damals die Welt durch die Sintflut gereinigt wurde, so sind durch das Wüten des Feuers alle Strafen verbüsst.»

Religiöse und ökonomische Motive

Der Kommentar bietet theologisch aufgeladene Hassrede. Die Juden werden durch eine gezielte Dehumanisierungsstrategie zu Tieren degradiert und als «Hebräerhunde» bezeichnet. Wie die Taufe am Jordan die Sünden wegwäscht, so soll der Brand in Wien die «furchtbaren Verbrechen» tilgen, welche die Juden begangen haben sollen. Neben ökonomischem Neid – der «Luxus» der Juden wurde von ihren Schuldnern gerne angeprangert – spielen hier religiöse Motive hinein.

Der klassische Antijudaismus zählt zu den «Verbrechen» der Juden, dass sie den Messias verworfen haben. Seit der Osterpredigt des Melito von Sardes im 2. Jahrhundert ist der Vorwurf des «Gottesmordes» geläufig. Das Dekret Albrechts, das im März 1421 die Ermordung der Juden verfügt, führt einen Hostienfrevel an. In Enns an der Donau soll sich ein reicher Jude gegen Geld Zugang zum heiligen Altarsakrament verschafft und dieses mit anderen Glaubensgenossen entweiht haben. Dieses fingierte Sakrileg wird zur Rechtfertigung der antijüdischen Massnahmen herangezogen.

Schliesslich wird der politische Verdacht lanciert, die Juden hätten mit den Hussiten kollaboriert, die sich in Böhmen gegen Kirche und König erhoben hatten, Kelchkommunion praktizierten und weitreichende Kirchenreformen in Gang gesetzt hatten. Dieses Gerücht einer Verbrüderung mit den aufständischen Hussiten wurde in der Wiener Theologischen Fakultät aufgegriffen und gezielt zugespitzt, um die Juden als Verräter und untreue Untertanen des Herzogs zu brandmarken.

Albrecht selbst war in Böhmen in militärische Auseinandersetzungen mit den Hussiten verwickelt, auch brauchte er enorme Summen, um die Verpflichtungen seines Heiratsvertrags erfüllen zu können. Ihm kam das Gerücht entgegen, die Juden würden mit den Hussiten paktieren. Die Konfiszierung von Geld und Besitz konnte er so als gerechte Strafe für jüdische «Verbrechen» hinstellen. Mit der Ausschaltung seiner Gläubiger waren seine finanziellen Probleme gelöst. In der Forschung ist allerdings umstritten, ob es nur wirtschaftliche oder nicht vielmehr auch religiöse Gründe waren, die Albrecht zur Wende in der Judenpolitik veranlasst haben.

Kirche ersetzt Synagoge

Die Wiener Gesera von 1421 markiert einen Bruch in der jüdischen Geschichte, die nach dem Basler Judaisten Alfred Bodenheimer «ungebrochen gebrochen» mit Traumata konfrontiert ist. Gleichwohl kann sich das jüdische Leben in Wien nach und nach erholen. Vor den Mauern der Stadt, in der Unteren Werd, erfolgte eine neue Ansiedlung. König Ferdinand I. gewährte den Juden das Privileg, Handel und Geldverleih zu betreiben, im Ghetto wurde eine neue Synagoge errichtet.

Doch Kaiser Leopold I. (1640–1704) erliess 1670 ein Edikt, das erneut die Vertreibung der Juden verfügte, ein Ereignis, das als die zweite Wiener Gesera ins kollektive Gedächtnis der Juden einging. Der Einfluss seiner streng katholischen Gattin Margarita Theresa von Spanien, die antijüdische Einstellung des damaligen Bischofs, aber auch das Drängen des Jesuiten und kaiserlichen Beichtvaters Emerich von Sinelli stehen im Hintergrund des Edikts. Auf dem Platz der zerstörten neuen Synagoge im Unteren Werd wurde die Leopoldskirche errichtet. Eine lateinische Inschrift über dem Portal, die bis heute erhalten ist, hält die Umwandlung fest. Die Kirche als das «neue Israel» tritt an die Stelle der alten Synagoge.

1670 verfügte ein Edikt die erneute Vertreibung der Juden. Hier ist ihr Auszug aus Wien abgebildet.

An das dritte Trauma der jüdischen Leidensgeschichte erinnert am Judenplatz das Mahnmal der Shoah-Opfer Österreichs, das von der britischen Bildhauerin Rachel Whitehead gestaltet und im Jahr 2000 eingeweiht wurde. Während der NS-Herrschaft zwischen 1938 und 1945 wurden in Österreich etwa 65 000 Juden aus ihren Wohnungen vertrieben, in Konzentrationslager deportiert und umgebracht. Das Mahnmal dokumentiert 45 Ortsnamen von Vernichtungslagern und bietet eine europäische Topografie des NS-Terrors. Zugleich erinnert es an das Judentum als Religion des Buches. 65 000 nach aussen gekehrte Bücher stehen für die ungeschriebenen Lebensgeschichten der jüdischen Opfer, deren Namen in einem Archiv des Jüdischen Museums verzeichnet sind.

Aus der Geschichte lernen

Die Mitschuld der katholischen Kirche an den judenfeindlichen Massnahmen liegt auf der Hand. Die Wiener Theologen zur Zeit der ersten Gesera ziehen den Vorwurf auf sich, an der Stimmungsmache gegen Juden mitgewirkt zu haben und den grausamen Plänen des Herzogs nicht entgegengetreten zu sein, obwohl ein päpstliches Verbot vorlag, das Zwangstaufen an Juden untersagte. Bei der zweiten Wiener Gesera 1670 spielt wiederum die antijüdische Haltung der Kirche eine zentrale Rolle, hohe Kleriker stehen als treibende Kraft hinter dem Edikt Leopolds. Auch die Nationalsozialisten haben trotz ihrer kirchenfeindlichen Politik antijüdische Stereotype der christlichen Predigt gerne aufgenommen und sie rassenideologisch verschärft.

Der Judenplatz dokumentiert nicht nur das Versagen, sondern auch das Umdenken der katholischen Kirche. Bereits 1998 hat der Wiener Erzbischof, Christoph Kardinal Schönborn, nahe dem Jordanhaus eine Inschrift anbringen lassen, welche die Schuld der Christen an der ersten Wiener Gesera, aber auch während der Zeit des «Dritten Reiches» öffentlich einräumt. Anlässlich der 350-jährigen Wiederkehr der zweiten Gesera hat Schönborn im vergangenen Jahr einen eindringlichen Brief an den Präsidenten der Israelitischen Religionsgemeinschaft, Oskar Deutsch, geschrieben und in allen Kirchen der Erzdiözese Wien eine Fürbitte verlesen lassen, die den Juden Bestand und Wachstum in Frieden wünscht und sie dem Segen des allmächtigen Gottes anvertraut. Bei den jüngsten Attacken gegen Rabbiner haben sich die Bischöfe Österreichs umgehend solidarisiert.

Aus der Geschichte kann man lernen, dass aus der Geschichte nichts gelernt worden ist, lautet eine zynische Devise. Diese Devise, die sich auf die periodisch aufflackernde Gewalt gegen Juden stützen könnte, lässt sich 2021 anlässlich des 600-Jahr-Jubiläums der ersten Wiener Gesara nur widerlegen, wenn die jüdischen Traumata öffentlich in Erinnerung gerufen werden. So kann aus der Erinnerungssolidarität mit den damaligen jüdischen Opfern eine Quelle erhöhter Wachsamkeit gegen neu aufkeimenden Antisemitismus werden.

Über öffentliche Schuldgeständnisse und Solidaritätsgesten hinaus ist die akademische Theologie gefordert, das klassische Überbietungsdenken zu überwinden. Bildprogramme, welche die triumphal lächelnde Ekklesia auf die verblendete Synagoge herabschauen lassen, oder Substitutionstheologien, welche die Kirche als das «neue Israel» profilieren, haben eine ruinöse Wirkungsgeschichte gehabt.

Demgegenüber gilt es heute, die bleibende theologische Würde Israels anzuerkennen und das Gespräch auf Augenhöhe zu führen. Schulter an Schulter sollten Juden und Christen Zeugnis für den einen Gott ablegen und an die Zehn Gebote als Richtschnur des Handelns erinnern. Auch könnten sie die Hoffnung auf die kommende Welt deutlicher ins Wort bringen, um den flinken Advokaten der Diesseitsvertröstung nicht widerstandslos das Feld zu überlassen.

Jan-Heiner Tück ist Professor am Institut für Systematische Theologie der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. 2020 ist im Herder-Verlag sein Buch «Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung – eine theologische Provokation» erschienen.

 

Nota. - Was soll so ein Eintrag am Tag nach dem 27. Januar? Zeigen, dass Judenverfolgung schon immer gang und gäbe war, und der nationalsozialistische Völkermord nur der traurige Höhepunkt einer ansonsten fast normalen Sache? Das würde ihn, trivialisierend, verharmlo-sen. Der Versuch der großindustriellen Ausrottung einer ganzen Ethnie war aber einzigartig. Während der peloponnesischen Kriege pflegten die Sieger keine Gefangenen zu machen, sondern die unterlegene Polis wurde schlicht und einfach massakriert. Kein Überlebender sollte auf Rache sinnen können. Die Mongolen unter Timur Lenk verfuhren nicht anders; sie wollten keine Kolonien errichten, sondern Beute machen.

Der nationalsozialistische Völkermord war anders, weil die Juden anders sind. 

Sie sind eine Volksgruppe, weil sie eine Bekenntnisgemeinschaft sind, aber eine Bekenntnis-gemeinschaft, weil sie ein Volk sind. Weder wollen sie ein anderes Volk beherrschen, noch wollen sie ihren Glauben verbreiten. Sie wollen für sich bleiben, denn dazu wurden sie aus-erwählt. Von Andern konnten sie über Jahrtausende nur ausgeschlossen werden, weil sie sich selber ausgeschlossen haben. Ghetto heißt ein Inselchen in der Lagune von Venedig, dort siedelten sich Juden an und waren unter sich und hatten das Privileg (!), nach ihrem eigenen Gesetz zu leben und nicht nach den Gesetzen der christlichen Republik Venedig. Das wurde zum Namensgeber für die Existenz des jüdischen Volks im Abendland.

Da sie als Händler und namentlich als Geldwechsler und Verleiher den Mächtigen der christ-lichen Staatengebilde nützlich waren, weil Christen verboten war, Zinsen zu nehmen und um-sonst auch der frömmste Christ nix borgen mag, gewährten sie ihnen Privilegien, die sie über das gewöhnliche Volk erhoben und es ihnen zum Feind machten. Ihre Sonderstellung als Eth-nie beruhte auf ihrer Sonderstellung als Kultusgemeinde.

Doch ihre Sonderstellung in der christlichen Gesellschaft war real. Als die europäischen Ge-sellschaften immer weniger christlich und immer sekulärer wurden, verstand sich die Sonder-stellung der Juden immer weniger wie von selbst, und revolutionäre Köpfe wie Johann G. Fichte und der getaufte Jude Karl Marx erkannten "die Judenfrage" als gelöst, sobald nur die Juden auf ihre exklusiven Gemeindegesetze verzichten und sich dem allgemeinen bürgerlichen Recht unterwerfen würden.

Was dann im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts weitgehend geschehen ist - die bürgerliche Judenemanzipation hat stattgefunden. Doch hätten sie sich über Nacht alle taufen lassen: Von Grundbesitz und von zünftigem Handwerk waren sie wegen ihres Glaubens seit Jahrhunder-ten ausgeschlossen worden. Sie hatten Handel treiben und Zinsen nehmen dürfen, doch wenn sie dafür nicht die nötigen Mittel besaßen, blieben ihnen nur unzünftige Tagelöhnerarbeiten oder noch ehrlosere Erwerbsweisen. 

Eine soziale Judenemanzipation hat nie stattgefunden. Noch in der Arbeiterbewegung, die in den jüdischen Gemeinden naturgemäß nie den Ton angeben konnte, gab es andereseits stets jüdische Sonderbünde, die sich doch nur ethnisch oder religiös definieren konnten. Unterm Strich: Um Bürger zu werden "wie alle andern", wurde ihnen zugemutet, aufzuhören, ethnisch oder konfessionell Juden zu sein

Sie waren in den sich ausbildenden Massengesellschaften die sich-selbst-isolierende Minderheit par excellence. Wer immer einen Sündenbock brauchte, musste nicht suchen; er bot sich ihm an.

Bis hierhin reicht die Berichterstattung des gesunden Menschenverstands. Weiter nicht. Ver-stehe, wer kann.

JE


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