Der Afroamerikaner Michael Jackson, dessen Haut von der Pigmentstörung Vitiligo ausgebleicht war, suchte einen Leibarzt für sein geplantes Konzert-Marathon in London. Bevor er Dr. Murray engagierte, fragte er bei Freunden an, ob er wohl einem schwarzen Doktor vertrauen könne.
Sind wir dank Kohle und Erdöl zu besseren Menschen geworden?
Zweifellos
geben wir heute mehr auf Gleichheit oder Freiheit als unsere Vorfahren
im Mittelalter. Laut Ian Morris hat das damit zu tun, dass wir andere
Energiequellen nutzen und seit 200 Jahren auf fossile Brennstoffe
setzen. Eine interessante, aber kaum richtige These.
von Claudia Mäder
Kleinjogg
ist in Sachen Ruhm schon einiges gewohnt. Der Zürcher Landwirt, Jakob
Gujer mit richtigem Namen, galt im 18. Jahrhundert als «Musterbauer»,
und sein rationell geführter Betrieb wurde von Gästen aus ganz Europa
besucht. Kleinjogg hatte die Produktivität seines Hofs mit gezielter
Düngung und einer strengen Arbeitsethik gesteigert: Müssiggang kam beim
Bauern Gujer nicht infrage, selbst sonntags schleppte er Pflüge auf
seine Äcker – und hatte sich deswegen öfters vor dem Pfarrherrn zu
erklären. Andere Leute aber fanden grossen Gefallen an Kleinjoggs
zielstrebigem Tun: Rousseau schwärmte genauso von dem emsigen Bauern wie
Mirabeau, Pestalozzi oder Goethe.
Nun
kommt Kleinjogg zu neuen Ehren: Der Schweizer hat einen halbseitigen
Auftritt im jüngsten Buch von Ian Morris, einem der weltweit
bekanntesten Historiker. Ursprünglich Archäologe, hat sich der in
Stanford lehrende Brite vor einiger Zeit auf ein breiteres Gebiet
verlegt: Morris fasstt vorzugsweise die ganze Menschheitsgeschichte ins Auge und führt mit grossen Thesen von den Ursprüngen bis in die
Gegenwart unserer Spezies. Vor rund zehn Jahren hat er in dieser Manier
die Dominanz des Westens zu erklären versucht («Wer regiert die Welt?»),
und sein neues Vorhaben ist nicht minder ambitioniert. In «Beute,
Ernte, Öl» will Morris eine «allgemeine Theorie der Entwicklung
menschlicher Werte» bieten.
Das
Buch erstreckt sich über 20 000 Jahre, und 1765 n. Chr. kommt also
tatsächlich unser Zürcher Kleinjogg zum Zug. Viel darf er zwar nicht
sagen, aber was der Bauer in der Mitte des 18. Jahrhunderts dem
württembergischen Herzog Ludwig Eugen in knappen Worten beschied, ist
für Morris von grossem Gewicht: «Wir sind beide gut, wenn jeder von uns
tut, was er soll.» Anders ausgedrückt: Jeder hat seinen Platz in der
Gesellschaft und handelt dann richtig, wenn er sich in die Hierarchie
schickt, seine standesgemässe Aufgabe erfüllt und entweder herrscht oder
dient.
Damit,
meint Morris, habe Kleinjogg zum Ausdruck gebracht, was den
«Gesellschaftsvertrag» der agrarischen Zeit ausmachte, nämlich ein
fundamentales Einverständnis mit Hierarchien und sozialen wie
materiellen Ungleichheiten. Die Sentenz des Schweizers bündelt demnach
die Werthaltung der «Bauern», deren Zeitalter sich von ungefähr 10 000
v. Chr. bis 1800 n. Chr. erstreckte. Vor ihnen waren die «Wildbeuter» am
Werk, nach ihnen traten die «Fossilenergienutzer» auf den Plan. Bei
diesen drei Typen beobachtet der Autor je unterschiedliche Wertesysteme,
und um diese Unterschiede zu erklären, hat er eine grundlegende These:
Die Werte, die in den drei Phasen dominieren, entstanden laut Morris
durch die Art und Weise, wie die Menschen in der jeweiligen Ära Energie
gewannen.
Man nimmt, was funktioniert
Konkret
hat man sich das ungefähr so vorzustellen: Die wildbeutenden Jäger und
Sammler mussten umherstreifen, um zu energiereichen Pflanzen und Tieren
zu gelangen; folglich konnten sie keinen namhaften Besitz anhäufen. Und
wenn ein grosses Wildschwein erlegt wurde, musste die Sippe die Beute
mangels Speichermöglichkeiten natürlich teilen. Diese spezifischen
energietechnischen Zwänge übersetzten sich irgendwann in ein
entsprechendes Wertesystem – die Wildbeuter waren egalitär und hielten
wenig von Hierarchien, denn das war in ihrem Lebensraum sinnvoll.
Anders
lagen die Dinge dann eben bei den sesshaften Bauern. Dank
landwirtschaftlichem Anbau war in der nächsten Umgebung der Menschen
plötzlich ein Vielfaches der früheren Energiemenge verfügbar. Also
konnten Besitztümer entstehen, die Bevölkerung wuchs, Spezialisierung
und Arbeitsteilung wurden möglich und nötig. Daraus resultierten
Ungleichheiten und Hierarchien, aber weil dieses Gefüge für die Menschen
insgesamt «funktionierte», sprich den Fortbestand der Population
ermöglichte, wurden hierarchische Abstufungen als normal erachtet und
hochgehalten.
Erst
als die Menschen mit der Kohle eine neue Energiequelle erschlossen,
änderten sich ihre Ansichten. Ab etwa 1800 war Energie auf einmal in
scheinbar unbeschränkter Menge zu haben, die Produktion aller
erdenklichen Dinge schoss in die Höhe, die Märkte wuchsen – und waren
auf möglichst viele potente Teilnehmer angewiesen. Daher setzten sich
nun Werte durch, die die Gleichheit der Menschen betonten und
Hierarchien und Grenzen zwischen den Leuten als problematisch
einstuften.
Diese
Zusammenfassung ist grob vereinfacht, aber was Morris auf 200 Seiten
entwirft, ist auch kaum mehr als ein Holzschnitt. Der Historiker
zeichnet ein Schema und operiert dabei gerne mit Tabellen und Kurven.
Dennoch ist sein Stil sehr angenehm zu lesen, immer hinterfragt Morris
zudem kritisch die zum Teil eher dürftige Quellenbasis, auf der seine
Theorien fussen, und auch sehr viel bestehende Forschung zieht er zu
Rate. Interessanterweise findet Marx in dieser Kontextualisierung keine
Erwähnung – doch gerade an seine materialistischen Konzepte fühlt man
sich beim Lesen dauernd erinnert.
Morris
redet von verschiedenen Formen der «Energiegewinnung», bezeichnet damit
aber letztlich drei unterschiedliche wirtschaftliche Produktionsweisen.
Und während Marx davon ausging, dass diese Produktionsweisen einen
jeweiligen «Überbau» definierten, leitet Morris «gesellschaftliche
Organisationsformen» aus ihnen ab und behauptet, dass sich die
Wertesysteme an diese Strukturen anpassten. So wird Marx’ Denken mit
einer evolutionären Logik verbunden: Laut Morris entwickelten die
Menschen jeder Epoche genau diejenigen Werte, die sie als Spezies gerade
«brauchten», um zu überleben und sich zu vermehren.
Fragen über Fragen
Ganz
unabhängig davon, ob man an überzeitliche, universale menschliche Werte
glaubt oder nicht, wirft dieser relativistische, allein auf die
Ökonomie fixierte Ansatz eine Menge Fragen auf.
Angenommen,
die Landwirtschaftszeit habe hierarchische Werte «gebraucht»: Warum hat
dann in der Geschlechterhierarchie der Mann dominiert und nicht die
Frau, die doch die wichtigen Erben für die neuen Besitztümer gebar?
Angenommen, Egalität sei ein Ausfluss der Gewinnung fossiler Energie:
Wie hat es dann in der Ära von Kohle und Öl zu Rassismus und
Kolonialismus kommen können? Oder angenommen, Industrialisierung führe
automatisch zu denjenigen freiheitlichen und individualistischen Werten,
die Morris für unsere Zeit als die «richtigen» bezeichnet: Was ist dann
von den Werten des modernen China zu halten?
Gegen
Fragen und Kritik hat Morris nichts, im Gegenteil. Sein Buch, das auf
einer Princeton-Vorlesung von 2012 beruht, enthält einen zweiten Teil
mit Einwänden von vier renommierten Diskutanten – und der Historiker
wiederum nutzt diese Voten, um seine Thesen in einem dritten Teil weiter
zu präzisieren. Solch offene Formen sind ziemlich selten, und man
sollte Morris’ Buch nur schon darum lesen, weil es einen direkten
Einblick in die Entwicklung wissenschaftlicher Gedanken bietet.
Trotzdem
bleibt man nach 400 Seiten leicht ratlos zurück, denn ein zentrales
Problem wird auch von den Kritikern kaum berührt: Ursache und Wirkung
scheinen in Morris’ Geschichte zuweilen auf seltsame Weise die Plätze zu
tauschen. Den kausalen Zusammenhang zwischen Energiegewinnung und
Wertesystemen kann man schliesslich gut und gerne auch umgekehrt denken:
Die Menschen entwickelten neue Werte – und veränderten dadurch ihre Art
der Energiegewinnung.
Zumindest
der Übergang von den «Bauern» zu den «Fossilenergienutzern» lässt sich
auf diese Weise plausibel erklären. Die «neuen», freiheitlichen und
partizipativen Werte der industriellen Ära haben in Ansätzen schon lange
vor 1800 bestanden. Sie wurden nicht mit der Fossilenergie aus dem
Erdboden gestampft, sondern haben vielmehr dazu beigetragen, die
Energierevolution überhaupt erst möglich zu machen.
Kleinjogg
ist hierfür kein schlechtes Beispiel. Der Bauer hielt am Denken in
Hierarchien fest, da hat Morris sicher recht, aber mit einem einzelnen
Satz ist die Komplexität historischer Figuren eben nur schlecht zu
erfassen. Materielle Ungleichheit nahm der Zürcher Bauer nicht einfach
als Schicksal hin, wie der Autor suggeriert. Kleinjogg wollte die Bauern
aus der schlimmsten Armut heben und ihr Dasein verbessern – mithilfe
seines vorbildhaften protestantischen Arbeitsethos.
In
bürgerlichen Schichten wirkte dieses Ethos als Treiber für vernetzten
Handel und Innovationen; die Gleichbehandlung der Geschlechter war schon
in frühaufklärerischen Kreisen des 17. Jahrhunderts ein Thema, und seit
der Renaissance erkundeten meist religiös inspirierte Forscher die
«göttlichen» Naturgesetze und erzielten dabei Durchbrüche, die man
später als wissenschaftliche Revolution bezeichnete. Auf einen Punkt
gebracht: Kohle gab es die längste Zeit, doch erst eine Änderung der
geistigen und gesellschaftlichen Dispositionen führte zu ihrer
massenhaften Nutzung.
Kehrt
man seine Prämisse auf diese Weise um, kann man Morris’ Buch auch für
die Gegenwart einiges abgewinnen. Darauf zu warten, dass neue Formen der
Energiegewinnung unsere Werte verändern, scheint heute eher wenig
zukunftsträchtig. Aber die Erkenntnis, dass wir Menschen Denk- und
Wertesysteme entwickeln können, die mittelfristig zu neuen Energieformen
führen, darf einen durchaus zuversichtlich stimmen.
Ian
Morris: Beute, Ernte, Öl. Wie Energiequellen Gesellschaften formen. Aus
dem Englischen von Jürgen Neubauer. Deutsche Verlags-Anstalt, München
2020. 432 S., Fr. 41.90.
Nota. -In Anlehnung an Erich Haeckel hat der deutsche Chemiker Wilhelm Ostwalddas Wort vom energe-tischen Imperativ geprägt, der sich schlicht zusammenfassen lässt in dem Gebot spare Kraft. Er brauchte dafür noch eine eigene Metaphysik auf der Grundlage seiner Prämisse, die primäre stoffliche Substanz der Welt sei Energie, von der Materie nur eine Sonderform ist. Während das Wort Ökonomie aus der griechischen Wurzel oikos stammt und Haushaltung bedeutet, ist es in die deutsche Sprache aus dem Französischen übernommen worden, und da heißt économie außerwirtschaftenregel-recht: sparen. Wirtschaften bedeutet Gewinnen durch Einsparen - von Material und Arbeitskraft: Stoff und Ener-gie. Ian Morris scheint es nicht bewusst zu sein, aber Claudia Mäder entdeckt ein längst bekanntes Amerika, wenn sie seine Kernidee bei Marx vorformuliert findet. Es sind die Produktionsmittel, die Produktionsweisen vorgeben - und die ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Organisationnsformen. Indes bringen Produkti-onsweisen und Organisationsformen nach dem Prinzip der 'natürlichen', nämlich praktischen Auslese neue Produktionsmittel hervor: Erfindungen werden dauernd gemacht, und die sich bewähren, setzen sich durch. Und wenn wir diesen Gedanken erst einmal gefasst haben, stellen wir fest: Umgekehrt gilt das auch. Ideen sprudeln unentwegt,wenn auch mal reichlicher und mal spärlicher; und die sich bewähren, setzen sich durch. Auch den Zusammenhang von Marx und Darwin hat die Rezensentin also neu entdeckt.
Dies zu ihren Ergänzungen. Von ihren Einwänden picke ich den Satz heraus, Kohle habe es schon immer ge-geben, aber um eine ganze Gesellschaft umzuordnen, hätten sich erst 'geistige' und 'gesellschaftliche' Disposi-tionen ändern müssen. Das kann man konkreter ausdrücken: Es musste - und konnte unter Marktbedingungen - erst die Dampfmaschine erfunden werden. Dieser Einwand also ist schief. Direkt falsch ist aber die Aussage, in der Landschwirtschaft sei die "Geschlech-terhierachie"vom Mann dominiert und nicht der Frau, die doch die Erben gebar! Was sie erst noch beweisen - erläutern, belegen, begründen - müsste, setzt sie voraus und wendet es als Frage gegen Ian Morris.
Nun wird in den landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft das Leben nicht vom überregionalen anonymen öffentlichen Markt beherrscht, sondern von den isolierten Familienhaushalten. Grundlage von Arbeitsteilung und Austausch ist der Hof. Dass auf den Bauernhöfen in der Regel die Männer den Ton angeben, gilt aber bloß für den produktiven Teil der Hauswirtschaft. Verteilung, Konsum und... Reproduktion der Arbeitskraft obliegt der Hausfrau. Und so sind wir zur Energie zurückgekehrt. JE
Nota - Das
obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie
der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht
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Die
Corona-Krise ist für Europa eine epochale Chance. Wenn es sich
zusammenrauft, könnte es zum führenden Global Player des
21. Jahrhunderts werden
Die
Corona-Krise hat einer gespaltenen Welt zusätzliche Verwerfungen
hinzugefügt. Bereits ist von einem neuen kalten Krieg zwischen den USA
und China die Rede. Europa könnte sich als Alternative Geltung
verschaffen und zum Träger einer neuen Wachstumserzählung werden.
von Daniel Dettling
Die
Corona-Krise hat gezeigt, was auf dem Spiel stand: der Rückfall in ein
Europa der Nationalstaaten mit geschlossenen Grenzen. Doch nach
erheblichen Startschwierigkeiten ist die EU nicht an der Krise
zerbrochen, sondern hat sich alter und neuer Stärken besonnen. Das
europäische Modell hat sich in der Pandemie als widerstandsfähiger und
solidarischer erwiesen. Während die USA auf das Modell «Wohlstand ohne
Wohlfahrt» und China auf «Wohlstand gegen Wohlverhalten» setzt, heisst
der europäische Weg «Wohlstand plus Wohlfühlen». Europa entwickelt mit
Corona eine neue geopolitische Identität, auch weil Deutschland seine
Interessen in Europa neu definiert.
Gesundheit als Sicherheitsfrage
Gesundheitsfragen
sind Sicherheitsfragen. Gesundheitssicherheit («health security») wird
nach Corona zum neuen Staatsziel. Allein national lässt sich öffentliche
Gesundheitsfürsorge («public health») nicht mehr organisieren.
Gesundheit wird zum Bestandteil der Aussen- und Sicherheitspolitik. Die
Konsequenz für Europa ist offensichtlich: Der Kontinent braucht mehr
Souveränität auch im Gesundheitsbereich. Dazu gehören eine europäische
Seuchenbehörde, eine europäische Impfstoff- und Pandemiestrategie, gut
ausgebildetes Gesundheitspersonal, öffentlich-private Partnerschaften
mit der Industrie sowie der Austausch von Daten und der Einsatz von
digitalen Lösungen.
Kann Europa die «Sprache der Macht»? Dafür muss die EU über ihren Schatten springen und selbst Hegemon werden.
Gesundheitskrisen
überschreiten zunehmend Grenzen und haben das Potenzial, zu
wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen zu werden. Es geht um
die umfassende Resilienz von Staaten und Staatengemeinschaften. Auch für
die Nato wird Corona langfristige Folgen auf die geopolitische
Weltordnung haben. Während die USA als gespaltenes und dysfunktionales
Land angesehen werden, hat China in der Corona-Krise sein autoritäres
Gesicht gezeigt. Neben der besseren Vorbereitung auf künftige Pandemien
geht es für das Bündnis um die Stärkung der mentalen und sozialen
Widerstandsfähigkeit und den Schutz kritischer Infrastrukturen wie
Energie, Medizin und Telekommunikation.
Die Quadratur des Kreises
Die
Agenda einer neuen Aussen- und Sicherheitspolitik nach Corona betrifft
nicht nur die Gesundheitspolitik. Internationale Beobachter und
Strategen sprechen von einem «neuen kalten Krieg», der nach der Pandemie
zwischen den USA und China an Dynamik gewinnt. Der frühere
Aussenminister Südkoreas Yoon Young Kwan spricht von drei Dimensionen
der chinesisch-amerikanischen Rivalität, die miteinander verknüpft sind:
einer politisch-militärischen, einer wirtschaftlichen und einer
ideologischen.
Europa
könnte zum glücklichen Dritten der Auseinandersetzung werden. Statt
einer Strategie der «Entkopplung» von China oder der «Entsagung» von den
USA sollte Europa bei seiner Politik der «Quadratur des Kreises» (Ralf
Dahrendorf) mittels politischer Freiheit, ökonomischer
Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftlicher Solidarität bleiben.
Der
neue «Wiederaufbaufonds» der EU-Kommission ist dabei ein starkes
Signal. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte nimmt die EU selbst Schulden
auf und zahlt Gelder nicht als Kredit, sondern als Zuschuss aus. Der
Fonds stellt eine 180-Grad-Wende der bisherigen Politik Deutschlands
dar. Angela Merkel will ihre Regierungszeit im nächsten Jahr nicht als schwäbische Hausfrau beenden, sondern als europäische Staatsfrau. Mit
dem Wiederaufbaufonds unternimmt die Europäische Union einen
qualitativen Sprung zur politischen Union. Der über 750 Milliarden Euro
schwere Fonds ist Ausdruck der neuen Einsicht in die Notwendigkeit, dass
nicht nur Gesundheit, sondern auch Wettbewerbsfähigkeit und Solidarität
sich nur grenzüberschreitend und politisch organisieren lassen.
Kann
Europa die «Sprache der Macht» (Ursula von der Leyen)? Dafür muss die
Europäische Union über ihren Schatten springen und selbst Hegemon
werden. Während China sein Modell des «autoritären Kapitalismus» als
angeblich überlegene Alternative zur freiheitlichen liberalen Demokratie
vorantreibt und die USA auf das Modell des «monopolistischen
Kapitalismus» setzen, kann die europäische Antwort nur in einer
Weiterentwicklung ihres Modells der Sozialen Marktwirtschaft bestehen.
Für
die Mehrheit der Menschen ausserhalb der europäischen Grenzen ist
Europa heute die attraktivste Region der Welt. Nicht nur für Investoren,
sondern auch für Touristen und Talente. «Welfare and wellbeing»
(Wohlfahrt und Wohlfühlen) ist sein Erfolgsmodell. Wenn die USA nicht
mehr Europas Garant in aussen- und sicherheitspolitischen Fragen sein
wollen und China es nicht sein soll, muss es für Europa darum gehen,
selbst eine Politik der Wehrhaftigkeit und Widerstandsfähigkeit zu
entwickeln. In einer neuen Welt der «Deals» zwischen Supermächten wird
Europa dealfähig werden müssen.
Demokratie, Digitalisierung, Dekarbonisierung
In
der Welt nach Corona geht es für Europa darum, Demokratie,
Digitalisierung und Dekarbonisierung zu einer neuen Machtpolitik zu
verbinden. Noch befinden sich fast alle der in Europa genutzten Daten
auf amerikanischen oder chinesischen Servern. Die neue Kommission mit
Ursula von der Leyen will beide Themen, die Digitalisierung und die
Dekarbonisierung der Wirtschaft, zum zentralen Thema für den
Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Pandemie machen. Mit einem Green
Deal soll Europa ökonomisch wettbewerbsfähig und ökologisch nachhaltig
werden.
Wir
sehr die beiden Megatrends korrelieren, zeigt die Debatte um die
Einführung von europäischen Steuern. Intelligent umgesetzt, könnte mit
der Kombination von Eigenmitteln in den nächsten dreissig Jahren die
Schuldenlast des Wiederaufbauprogramms getilgt werden. Eine CO2-Grenzsteuer
und eine stärkere Besteuerung von digitalen Plattformen würden die
Transformation hin zu einer klimaneutralen und digitalen Wirtschaft in
Europa beschleunigen. Klimaschutz und Digitales gehören zusammen.
Die
Nutzung digitaler Dienste und Plattformen verursacht momentan fast vier
Prozent aller Treibhausgasemissionen – mehr als doppelt so viel wie die
zivile Luftfahrt. Beim Training einer künstlichen Intelligenz zur
Spracherkennung fällt beispielsweise fünfmal so viel CO2 an,
wie ein Auto während seiner gesamten Lebensdauer emittiert. Durch
Cloud-Computing und schnelles Internet (5G) liesse sich der globale
Ausstoss von Treibhausgasen erheblich reduzieren.
Europa als «best place to be»
Ein
grünes Internet ist möglich, wenn die Unternehmen zur Nutzung und
Produktion von erneuerbaren Energien angehalten werden. Nachhaltigkeit
muss auch in der digitalen Wirtschaft zum Mainstream werden. Dazu
gehören dezentrale Energienetze, autonome, energieeffiziente Fahrzeuge
und eine neue Kreislauf- und Wasserstoffwirtschaft. Digitalisierung und
der Green Deal werden zur neuen europäischen Wachstumserzählung im
21. Jahrhundert und zum Ausgangspunkt für Deals zwischen Europa, China
und den USA. Europa wird zur Gesundheits-, Klima- und Digitalunion.
Vor
fünfzehn Jahren hat der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin den
langsamen Tod des amerikanischen und das Entstehen eines europäischen
Traums prognostiziert. Corona hat die Verwirklichung dieses Traums
beschleunigt. Pandemie- und Klimaschutz, Digitalisierung und
wirtschaftlicher Aufbau werden zum gemeinsamen europäischen Projekt.
Europa wird zum «best place to be»: freier als China und solidarischer
als die USA.
Daniel Dettling leitet das von ihm gegründete Institut für Zukunftspolitik
mit Sitz in Berlin. Soeben ist sein neues Buch erschienen:
«Zukunftsintelligenz. Der Corona-Effekt auf unser Leben» (Langen
Müller).
Nota. - Lauter fromme Wünsche, ach.
Doch unter den gegebenen Umständen wäre es ein goßer Sprung nach vorn, wenn Europa sich darüber ver-ständigen wollte, was es wünscht. Dann fiele die Wahl gar nicht so schwer und schienen die Hürden gar nicht mehr so hoch.
JE
Nota - Das
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Wir alle haben Vorurteile – hoffentlich! Rassisten sind wir deshalb noch lange nicht
Die
Feststellung ist so banal wie unbequem: Menschen könnten ohne
Vorurteile nicht leben. Doch nicht jede Schablone ist diskriminierend
oder gar rassistisch. Es gilt, genau hinzusehen – und zu unterscheiden.
von Rainer Paris
In
heutigen Diskussionen über Migration, «alte weisse Männer» und Co. ist
es geradezu en vogue, vieles über einen Kamm zu scheren. Konfusion und
Kurzschlüssigkeit beherrschen die Szene, nur so lassen sich
Überentschiedenheit und moralische Selbstermächtigung zuverlässig
verteidigen.
Wer
um jeden Preis stets recht behalten will, tut gut daran, möglichst
nicht zu differenzieren und seine Beschränktheit zu pflegen. Tritt dann
die Katastrophe ein, ist man bestätigt, bleibt sie aus, hat man
erfolgreich gewarnt! Um solchen Vereinfachungen entgegenzuwirken, seien
hier einige begriffliche Unterscheidungen vorgenommen.
Typisierung: der erste Eindruck
Beginnen
wir mit der Einordnung und Verortung nach ethnischer Herkunft. Ist das
schon Rassismus – oder mindestens Schubladendenken? Nein. Es geht hier
erst einmal um eine ganz normale und im Übrigen unumgängliche Mechanik
der Wahrnehmung.
Der
soziologische Fachausdruck dafür ist die Typisierung. Wenn Fremde oder
Unbekannte einander begegnen, so nehmen sie sich gegenseitig anhand
allgemeiner Schemata wahr, die den anderen grob klassifizieren: Alter,
Geschlecht, Ethnie, soziale Zugehörigkeit. Das menschliche Sensorium
hierfür ist sehr gut ausgebildet. Diese Typisierung nach äusseren
offensichtlichen Merkmalen erfolgt sofort, automatisch und intuitiv.
Der
erste Eindruck zählt und stellt Weichen, auch wenn er später vielleicht
revidiert wird. Mehr noch: Ohne den Mechanismus der Typisierung gibt es
keine Möglichkeit, das Bild des anderen nach und nach zu differenzieren
und ihn am Ende als unverwechselbares Individuum wahrzunehmen. Die
Einordnung des anderen als Typus geht der individuellen Konturierung
voraus. Es ist daher unsinnig, jede typisierende Einordnung von vornherein unter Diskriminierungsverdacht zu stellen.
Wie
sehr eine Einschätzung auch nach Kriterien der ethnischen Herkunft im
Alltag sinnvoll und unerlässlich ist, lässt sich an einer Vielzahl von
Beispielen erläutern. Ich erinnere mich an den Blogbeitrag einer
ausgewanderten Russin über ihre Erfahrungen mit Annäherungen von Männern
in der früheren Sowjetunion. Dort war es für sie wichtig, bei Männern,
die sie in Moskau ansprachen, zum Beispiel zwischen Aserbaidschanern und
Georgiern deutlich zu unterscheiden: Während die Aserbaidschaner als
eher schüchtern und zurückhaltend galten und freundliche Ablehnung daher
auch als solche verstanden, interpretierten die Georgier die gleiche
Reaktion oftmals als starke Ermunterung, geradezu als Aufforderung zu
weiterer Zudringlichkeit.
Um
also angemessen reagieren zu können und mögliche Aggressionen in Zaum
zu halten, war eine solche Typisierung, und zwar im beiderseitigen
Interesse, nötig und sinnvoll. Das Beispiel zeigt, wie notwendig ein
gemeinsames Zeichenrepertoire ist, um konfliktreiche Missverständnisse
zu vermeiden.
Etikettierung als Festlegung
Von
der Typisierung als erster kognitiver Einordnung ist die Etikettierung
zu unterscheiden. Typisierung ist ein vorläufiges, letztlich fluides
Wahrnehmungsmuster, Etikettierung hingegen fixiert den bezeichneten Gegenstand, sei es nun eine Person, eine Gruppe oder ein Sachverhalt.
Etikettieren
heisst bezeichnen. Indem wir Dinge oder Personen in bestimmter Weise
benennen, nehmen wir nicht nur Klassifizierungen, sondern auch
Festlegungen vor. Diese können neutral, aber auch mehr oder minder
wertend und abwertend sein, ja es ist geradezu ein Charakteristikum der
Wortwahl und Namensgebung, hier mit subtilen Mischungen zu operieren.
Etikettieren
ist sprachlich-symbolisches Handeln. Es kann, muss aber nicht die
Vorstufe zu praktischer Diskriminierung oder gar Gewalt sein. Wenn jede
abwertende Bemerkung oder Äusserung in Gewalt mündete, wäre die Welt ein
einziges Schlachtfeld. Wir können nicht nicht bewerten, sonst wären wir
vollkommen orientierungslos – wer behauptet, dies sei dennoch möglich,
macht es sich zu leicht. Und wir sind auch nicht frei, auf Benennungen
und Bezeichnungen zu verzichten – ohne sie wären jeder Austausch und
jede Verständigung unmöglich.
Allerdings
sagt jede – ohnehin stattfindende – Etikettierung immer auch etwas über
den Etikettierenden aus. In den Bezeichnungen, mehr noch in der
begleitenden Mimik und Gestik, drücken wir gleichzeitig auch Gefühle,
Zu- und Abneigungen aus. Dies zu zensieren und aus politischen oder
moralischen Gründen unterbinden zu wollen, ist Ausdruck eines
problematischen Menschenbildes: Es unterstellt, Menschen seien Roboter,
die sich auf Knopfdruck selbst programmieren und umprogrammieren
könnten.
Gewiss
sind die sozialen Benennungen und Etiketten stets verankert in
gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie abbilden und ein Stück weit
reproduzieren. Aus diesem Umstand speist sich der Kinderglaube, man
könne diese Verhältnisse mit blossen Umetikettierungen von Grund auf
verändern und neu gestalten. Tatsächlich aber ist die Sache um einiges
komplizierter.
Generell
ist es wichtig, sich die Gradualität der mit den jeweiligen
Etikettierungen verbundenen Wertungen und Aufladungen klarzumachen. Es
gibt stets fliessende Übergänge von schwächeren und stärkeren
Ablehnungen, die allerdings von einer bestimmten Schwelle an kaum noch
umkehrbar sind. Dies geschieht vor allem im Zuge einer bestimmten Art
von kollektiver Selbstbespiegelung, einer gruppengestützten
Selbstverhetzung, bei der die negativen Zuschreibungen gegenüber der
Fremdgruppe anhand markanter Beispiele ihrer «schlechtesten» Vertreter
immer wieder erneuert und radikalisiert werden.
Norbert
Elias und John L. Scotson haben diesen Mechanismus der permanenten
Selbstbestätigung im Schimpfklatsch gegenüber Zugezogenen und
Aussenseitern exemplarisch analysiert: «Diese Pars-pro-Toto-Verzerrung
erlaubt es den Etablierten, ihre Glaubensaxiome vor sich und anderen
als begründet zu erweisen: Sie haben immer Belege dafür parat, dass die
eigene Gruppe ‹gut› ist und die andere ‹schlecht›.»
Stigmatisierende Vorurteile
Nun
rühren wir an den heiklen Punkt: Permanente Selbstverhetzung hat
Folgen. Sie polt die Wahrnehmung um und verändert die Grammatik des
Fühlens. Sie verkleistert die Ohren, die fortan nur noch das hören, was
sie hören wollen. Immerzu lauert man auf Stichworte, die es einem
gestatten, sich erneut zu entrüsten und die negativen Zuschreibungen zu
bestätigen.
Im
stigmatisierenden Vorurteil hat sich das Negativbild des anderen
irreversibel verfestigt. Er ist nur noch ein Typus ohne individuelle
Kontur, ein Repräsentant all derjenigen schlechten Eigenschaften, die
mit seiner Gruppe verbunden werden. Dabei kann er im Grunde tun, was er
will – nichts wird die anderen von ihrer vorgefassten Meinung über ihn
abbringen: Verhält er sich abweisend und aggressiv, so bestätigt dies
das Vorurteil; ist er hingegen freundlich und aufgeschlossen, so tarnt
er sich nur, denn er ist ja in Wirklichkeit böse.
Gegenerfahrungen
lässt das stereotype Vorurteil nicht zu. Wo konkrete Personen oder
Bekannte den Zuschreibungen widersprechen, wird dies abgespalten. Dabei
ist das Problem nicht das Vorurteil selbst, sondern die Unbeirrbarkeit,
die Abschottung gegen jede Erfahrung und jedes Dazulernen. Es ist so
stark in negativen Gefühlen und Leidenschaften verankert, dass es zu
einem unverrückbaren Teil der eigenen Identität geworden ist und somit
niemals infrage gestellt wird.
Dennoch
sind auch hier Gewichtung und Einschränkung nötig. Es hat keinen Sinn,
das Vorurteil generell zu verdammen. Urteilen und Bewerten sind keine
einmaligen Akte, sondern ein Prozess. Wir bilden uns unser Urteil, seine
fertige Gestalt schält sich erst aufgrund von Erfahrungen und dem
Abwägen von Gründen heraus. Und das bedeutet zugleich: ohne Vor-Urteil
kein Urteil. Vorurteile sind daher nicht einfach zu eliminieren, es sind
vielmehr die diskursiven Bedingungen dafür zu schaffen, sie
revisionsfähig zu halten und zu Urteilen fortentwickeln zu können.
Dass
Wahrnehmen, Bezeichnen und Handeln nicht dasselbe sind, sagt einem
schon der gesunde Menschen-verstand. Bei der grassierenden Hysterie der
Wohlmeinenden scheint das indes vergessen gegangen zu sein. Wenn
zwischen Typisierungen, Etikettierungen und praktischen
Diskriminierungen kein Unterschied mehr gemacht wird und stattdessen ein
grosser ideologischer Brei angerührt wird, hilft das am Ende niemandem.
Was stattdessen nottut, sind Augenmass und Differenzierung – und
Selbstbesinnung.
Jeder
möge sich vor dem Schlafengehen fragen, ob er in seinem täglichen
Handeln womöglich zu weit ging. Ob mithin seine Vorurteile ihm andere
Menschen näher bringen – oder erst verächtlich machen.
Rainer Paris ist Soziologe und Autor u. a. von «Der Wille des Einen ist das Tun des Anderen. Aufsätze zur Machttheorie» (Velbrück, 2015).
Nota. -Das seien doch alles Plattitüden? Da muss ich Ihnen Recht geben. Aber das macht es nicht überflüssig, sie auszusprechen und nachzudrucken. Es wird genügend Leute geben, die finden, der Autor verharmlose den Rassismus und öffne Vorurteilen aller Art Tür und Tor. Er vertusche den gleitenden Übergang von Mikroag-gressionen zu Menschenjagden und denunziere alle, die den Anfängen wehren. Stattdessen plädiere er für Täterschutz.
Der Aufsatz wird bei denen, an die er sich richtet, wirkungslos vorbeigehen. Wozu taugt er also? Er erinnert sie auf ärgerliche Weise, dass sie... nicht allein sind? Ach, das beklagen sie ja gerade! Aber er erinnert auch uns andere daran, dass wir, allem Keifen und Plärren zum Trotz, nicht allein sind. JE
aus welt.de, 16. 6. 2020 Die Prohibition machte den Ku-Klux-Klan zur Massenbewegung
„Ausländer, die unsere Städte aus den Pubs heraus regieren“
Vom Alkoholverbot in den Vereinigten Staaten im Jahr 1920 profitierte
nicht nur die Mafia, sondern auch der Ku-Klux-Klan: Durch eine Allianz
mit der Anti-Alkohol-Bewegung konnte er Jagd auf Migranten und
Minderheiten machen.
Von Jan Klauth
Wendell
Dabney muss sich sicher gefühlt haben, als er um 1900 nach Cincinnati
im US-Bundesstaat Ohio zog. Weg aus seiner Heimat, dem rassistischen
Süden der USA, weg aus den alten Hochburgen des Ku-Klux-Klans. Hier im Norden konnte der Afroamerikaner frei leben; er gründete sogar eine eigene Zeitung.
Für
den Nachfahren von Sklaven muss eine Welt zusammengebrochen sein, als
er sah, wer im Februar 1922 durch die Straßen seiner Wahlheimat zog:
Mehr als tausend Klan-Anhänger hatten sich zusammengerottet, um
rassistische Propaganda zu verbreiten und Angriffe auf die nicht-weiße
Bevölkerung zu planen.
Was
wenige Jahre zuvor undenkbar schien, wurde wahr: Der Klan breitete sich
im ganzen Land aus – Millionen Weiße unterstützten ihn. Denn die
Kapuzenträger hatten eine gefährliche Allianz mit der Anti-Alkohol-Bewegung geschmiedet. Die Prohibition wurde so zum Kampf gegen Migranten und ethnische Minderheiten.
Jahrzehntelang
hatten einflussreiche Abstinenzler-Verbände wie die Anti-Saloon-Liga
und die Woman’s Christian Temperance Union auf das Alkoholverbot
hingearbeitet. Einige ihrer Argumente waren plausibel: Der Alkoholkonsum in der amerikanischen Gesellschaft
war derartig hoch, dass er unzählige Familien zerstörte. Väter
versoffen ihren Lohn in Kneipen, Zehntausende starben an Leberzirrhosen;
zudem nahm häusliche Gewalt überhand.
Kaum
Gedanken machten sich die Abstinenzler dagegen über die Folgen eines
Totalverbots, das im 18. Zusatzartikel zur Verfassung festgeschrieben
wurde und am 16. Januar 1920 in Kraft trat. Ein riesiger
Wirtschaftszweig samt Zulieferern brach zusammen, viele rechtschaffene
Bürger trieb ihre Arbeitslosigkeit in die Kriminalität. Anstelle
des offiziellen Handels und Ausschanks von Alkohol trat schnell ein
illegaler Wirtschaftszweig. Hatte die Prohibition eigentlich zu weniger
Kriminalität führen sollen, wurde sie tatsächlich zum Konjunkturprogramm für das organisierte Verbrechen:
Die Mafia entdeckte den Markt und konnte ihre Macht stark ausbauen –
auch, weil sie vor Tausenden Morden nicht zurückschreckte.
Wendell
Dabney berichtete in seiner Zeitung „The Union“ vor allem über die
wachsende Gefahr des Klans. Menschen wie er entsprachen nicht zur
Vorstellung einer weißen, angelsächsisch-protestantischen Gesellschaft,
von der Prohibitionisten und Klan-Anhänger gleichermaßen fantasierten. Beiden
Gruppen schwebte ein Land vor, das weiße Eliten beherrschen sollten,
die der „Flut an Migranten“ Einhalt gebieten würden. Da kam es gelegen,
dass gerade unter Einwanderern und in der Arbeiterklasse der
Alkoholkonsum hoch war. Der Kampf gegen den Alkohol wurde zum Kampf
gegen die Emanzipation von Minderheiten.
Hundert
Jahre nach Beginn der Prohibition werden ihre Anhänger oft als
strenggläubige Moralisten dargestellt. Als etwas weltfremde Provinzler
vielleicht – aber als Bürger mit dem noblen Ziel, die Volksgesundheit zu
stärken. Doch zeitgenössische Quellen widerlegen dieses Bild. Die
Anti-Alkohol-Bewegung stand dem Ku-Klux-Klan, zumindest rhetorisch, kaum
nach: Über „ausländische Analphabeten, die unsere Städte aus den Pubs
heraus regieren“ hetzte etwa Frances Willard, Gründerin der Woman’s
Christian Temperance Union, des größten Frauenbundes der USA. Noch lange
nach ihrem Tod wurde Willard als Sozialreformerin gefeiert. Ähnliches
war vom Vorsitzenden der Anti-Saloon-Liga, Wayne Wheeler, zu hören. Er
machte massiv gegen Deutschamerikaner Stimmung – meistens hatten
Deutschstämmige die Brauereien betrieben, die Alkoholindustrie dominiert
und waren dadurch ins Fadenkreuz der Anti-Alkohol-Allianz geraten. Deren
Cheflobbyist Richmond Hobson sagte bereits 1914 im
US-Repräsentantenhaus: „Schnaps macht den roten Mann zum Wilden, und aus
dem Neger ein kriminelles Tier.“ Der „weiße Mann“ sei zwar „weiter in
der Entwicklung“ und daher weniger anfällig. Doch auch er laufe Gefahr,
sich zum Wilden zu entwickeln, wenn er nur früh genug mit dem
Alkoholkonsum beginne. Solche Aussagen waren beim Ku-Klux-Klan natürlich
nur zu willkommen. Dem Leitartikel einer Lokalzeitung war 1913 zu
entnehmen: „In Alabama lässt sich kaum sagen, wo die Anti-Saloon-Liga
aufhört und der Klan beginnt.“
Denn
obwohl man einander skeptisch betrachtete, einte beide Gruppen doch der
Hass auf Einwanderer. Im Gegensatz zu den meist ungebildeten
Kapuzenträgern des Klans riefen die Prohibitionisten nicht zur Gewalt
auf. Ihre Waffen waren intellektuell: Durch Lobbyismus und Propaganda
zogen sie das Gesetz auf ihre Seite. In den Jahrzehnten vor dem
Verbot hatte sich die amerikanische Gesellschaft stark gewandelt. Hatten
die meisten Einwanderer im 19. Jahrhundert irische und deutsche
Wurzeln, gingen seit der Jahrhundertwende Millionen von Italienern,
Polen, Russen und anderen Osteuropäern von Bord der Schiffe, die die
„neue Welt“ erreichten. Der Anteil an Juden und Katholiken stieg
erheblich. Gleichzeitig emanzipierten sich immer mehr
Afroamerikaner. Millionen Menschen wie Wendell Dabney zogen vom Land im
Süden in die Städte des Nordens. Die weißen Eliten sahen ihre
Vorherrschaft zunehmend gefährdet, schreibt der US-Historiker Kevin Seeber.
Vielerorts arbeiteten Klan und Prohibitionisten bald Hand in Hand: „Das
Alkoholverbot erwies sich als starker, gemeinsamer Nenner für die
Zusammenarbeit“, so Seeber.
Viele
Amerikaner kannten die weißen Kapuzenmänner vor der Prohibition nur
noch aus Erzählungen. Der Bund hatte sich um 1890 eigentlich aufgelöst –
bis 1925 schlossen sich jedoch so viele Amerikaner wie nie zuvor dem
„zweiten“ Klan an. Wie die Geisteshaltung gegenüber Minderheiten immer
feindlicher wurde, schildert die Historikerin Lisa McGirr
in ihrem Buch „The War against Alcohol“: „Nichts half dem Klan bei der
Verwandlung in eine soziale Massenbewegung so sehr, wie die neuen
Möglichkeiten, die der Krieg gegen den Alkohol mit sich brachte.“ Kaum
war das Alkoholverbot in Kraft, schlugen die Klan-Anhänger zu. Noch
1920 organisierten lokale Gruppen brutale „Aufräumaktionen“, die
Schmugglern und Schwarzbrennern den Garaus machen sollten. Diese Form
der Selbstjustiz lockte neue Unterstützer an und half dem Klan, sich in
den Gemeinden breitzumachen.
Bis
zu fünf Millionen Amerikaner – darunter Hunderttausende Frauen – zählte
der Terrorbund bald. Seine Alkoholrazzien gerieten nicht selten außer
Kontrolle, es gibt zahlreiche Berichte von Gewalt, Zerstörung und
Brandschatzung. Zu befürchten hatte der Klan zunächst wenig: Das Gesetz
war auf seiner Seite.
Oft
wurden die Aktionen sogar von lokalen Behörden und Sheriffs
unterstützt, wie McGirr schreibt. Viele Migranten, die der Hass des
Klans traf, hatten nämlich ihre Jobs in der Alkoholbranche verloren und
rutschten tatsächlich in die Kriminalität ab. Was die
Klan-Aktivisten „Aufräumaktionen“ nannten, artete immer öfter in
Straßenkämpfe, Vergewaltigungen und auch Morde aus. 1923 verhängte der
Bundesstaat Oklahoma sogar das Kriegsrecht, um gegen sie vorzugehen. Die
Wende kam 1925, als Klan-Chef David Stephenson wegen Vergewaltigung und
Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Weil er sich
Strafminderung erhoffte, übergab er der Zeitung „Indianapolis Times“
Listen, die zahlreiche Bestechungsgelder offengelegten und enthüllten,
welche Staatsangestellten Klan-Unterstützer waren. Die Zeitung
gewann dafür den Pulitzerpreis. Andere Journalisten, darunter Wendell
Dabney, inspirierte das, den Machenschaften des Klans nachzugehen. Es
folgten zahlreiche Korruptionsverfahren, die Politiker zu Fall brachten,
und ein dramatischer Mitgliederverlust. Die Prohibition endete am 5. Dezember 1933 landesweit. Damit hatte der Klan diesen Kampf endgültig verloren.
Deutschlands Vorgeschichte Die Keltenmetropole jenseits der Alpen Am
Oberlauf der Donau entstand im 7. Jahrhundert v. Chr. eine Drehscheibe
des europäischen Handels. Die keltische Heuneburg entfaltete sich zum
Machtzentrum einer reichen Region.
von Hubert Filser
Zahlreiche
flache Lastkähne und Flöße legen am Hafen direkt unterhalb des
vorspringenden Geländerückens an. An der Heuneburg beginnt und endet
eine Wasserstraße, die 2700 Kilometer Richtung Osten bis zum Schwarzen
Meer führt. Über die Donau gelangen Waren aus der griechischen Welt ins
Keltenreich. Doch nicht nur aus dem Osten beziehen die Herren der
Heuneburg Güter: Über die Alpenpässe kommen Luxusgüter – italischer Wein
und etruskischer Schmuck –, aus dem Norden erreichen Wolle, Bernstein,
Ölschiefer und Geweihe die Keltenmetropole. Und oben auf dem Burgberg
verarbeiten Handwerker in dicht an dicht stehenden Schmieden die
Materialien zu kostbarem Schmuck, Schwertern und prunkvollen Gefäßen. »Die Heuneburg war damals der Nabel der
keltischen Welt«, sagt der Archäologe Dirk Krausse vom Landesamt für
Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart, der den Keltensitz auf
der Heuneburg und dessen Umgebung in Baden-Württemberg untersucht. »Die
Menschen waren richtig reich.« Offenbar hatten die Kelten den Standort
geschickt gewählt: Von hier war der Oberlauf der Donau das ganze Jahr
befahrbar. Auch über Land war der Ort gut angebunden. Pyrene – Keltenstadt an der Donau Die
Region um die Heuneburg entwickelte sich früh in der keltischen
Geschichte zu einer Drehscheibe des Handels. Um 620 v. Chr. entstand aus
einigen Siedlungen auf dem Plateau oberhalb der Donau die älteste Stadt
nördlich der Alpen. In ganz Mitteleuropa gab es keinen vergleichbar
großen Ort. Mit der Außensiedlung direkt unterhalb des Plateaus
erstreckten sich die Gehöfte über rund einen Quadratkilometer. Die
Handelsmetropole war offenbar weit über die Grenzen des Keltenreichs
hinaus berühmt. So erwähnt der griechische Geschichtsschreiber Herodot
(485-424 v. Chr.) eine »Polis Pyrene« – nur mit einem Satz, als ob
sowieso jeder die Stadt kennen würde: »Der Istros (Donau) entspringt bei
den Kelten und der Stadt Pyrene und fließt mitten durch Europa«
(»Historien«, Buch 2, Kapitel 33, 3). Mehr Erklärungen liefert Herodot
nicht, vielmehr widmet er sich anschließend den exotischen Regionen
entlang des Nil. Das bekannte Pyrene an der Donau dient ihm als Gegenpol
zur wilden Welt Ägyptens. Krausse hält es für möglich, dass mit Pyrene
die Heuneburg gemeint war. Arena auf der Alte Burg | Die Bergkuppe war vor mehr als
2600 Jahren zu einem zungenförmigen Plateau eingeebnet worden. Die
Archäologen vermuten, dass die Kelten dort Pferde- und Wagenrennen
abgehalten haben. Lange
Zeit untersuchten die Archäologen nur den Burgberg. Dort lag das
frühkeltische Machtzentrum – ein kleiner, aber reicher Fürstensitz,
umgeben von einer imposanten Lehmziegelmauer im Stil mediterraner
Bauwerke. Doch erste Ausgrabungen in der Umgebung machten klar, dass die
Heuneburg das Herz einer viel größeren Region bildete. »Wenn es Pyrene
wirklich gab, war das nicht allein die Heuneburg, sondern das gesamte
Umfeld«, sagt Krausse. »Wir sprechen hier über ein Gebiet von mindestens
30 Quadratkilometern, in dem alles miteinander vernetzt war – und zwar
schon lange, bevor um 620 v. Chr. an der Heuneburg die Lehmziegelmauer
entstand.« Das haben laut Krausse die jüngsten Datierungen ergeben. Wo die Straßen verliefen Seit
2014 erforscht sein Team in einem Langzeitprojekt der Deutschen
Forschungsgemeinschaft (DFG) gezielt die Umgebung des Fürstensitzes. Die
Archäologen wollen wissen, wie die Stadt zwischen dem 7. und dem
5. Jahrhundert v. Chr. in ihr Umland eingebunden war. Sie vermuten, dass
um das wirtschaftliche und politische Zentrum mit seinen geschätzten
4000 Einwohnern eine komplexe Siedlungskammer existierte, in der wohl
insgesamt rund 17 000 Menschen lebten.
Doch
wo lagen die Dörfer, Höfe, Gräberfelder und Heiligtümer? Bereits
bekannt sind Höhenbefestigungen wie die Große Heuneburg oder die Alte
Burg. Krausse erzählt zudem von ersten Grabungen auf dem Bussen – auch
bekannt als heiliger Berg Oberschwabens –, der aber bisher vollkommen
unerforscht ist. Parallel laufen Projekte auf der etwa neun Kilometer
entfernten Alte Burg bei Langenenslingen am Steilhang der Schwäbischen
Alb. Dort, das legen außergewöhnliche Funde von menschlichen Skeletten
nahe, befand sich wohl ein bedeutender Versammlungs- und Kultort der
frühen Kelten. Insgesamt befände sich ihr Projekt gerade in einer
»ziemlich dynamischen Situation«, sagt Krausse. »Meine eigene
Perspektive hat sich in den letzten Monaten gewandelt. Wir sind auf
höchst erstaunliche Dinge gestoßen, etwa auf Straßen aus frühkeltischer
Zeit. So etwas kannten wir bislang gar nicht.« Mit
Hilfe der Fernerkundung, genauer der Lidar-Technik, enthüllten die
Archäologen die Spuren einer Prozessionsstraße, die von der Heuneburg in
Richtung Alte Burg führte und dort in einem heute von Bäumen
überwachsenen Stück hoch zum Kultplatz verlief. »Das scheint eine Trasse
gewesen zu sein«, sagt Krausse, »was dafür spricht, dass beide Plätze
zusammengehörten.« Teilstücke der Trasse haben die Forscher
bereits ausgegraben, etwa einen Hohlweg in einem Waldstück bei
Langenenslingen, der unweit einer großen Karstquelle vorbeiführt,
vergleichbar mit dem berühmten Blautopf. Auch die letzte Wegetappe im
Anstieg hoch zur Alte Burg haben die Archäologen stellenweise frei
gelegt und anhand der Funde ins 6. Jahrhundert v. Chr. datiert. Im
Hohlweg war die Straße zehn Meter breit und mit Kalkstein geschottert.
Auf dem Belag zeichneten sich noch die Fahrspuren von Wagen ab. »Wenn
beide Enden der Straße frühkeltisch sind, muss das Stück dazwischen
ebenfalls frühkeltisch sein«, vermutet Krausse. Der Archäologe plant,
mit seinem Team noch 2020 den mittleren Abschnitt der Keltenstraße an
mehreren Stellen frei zu legen, um den Weg genau datieren zu können. »Ob
das wegen der Corona-Krise auch möglich ist, werden wir sehen.« Ein kolossaler Blick in die Ferne
Die
Straße liefert nicht das einzige Indiz dafür, dass die Heuneburg und
die Alte Burg einst miteinander verbunden waren. Auch die Sichtachse
zwischen beiden Orten haben die Kelten landschaftsarchitektonisch
hervorgehoben: Wer aus dem Tor des Fürstensitzes trat, erblickte vier
Grabhügel, jeder etwa 8 Meter hoch und 60 Meter breit. Genau dazwischen
lag in der Ferne die Alte Burg. Und dort war ein Erdwall so hoch
aufgeschüttet worden, dass er von der Heuneburg aus am Horizont zu
erkennen war. Wie ein markanter Zacken ragte der Kultplatz in der
Schwäbischen Alb auf. Der Krieger von Hirschlanden. Die anderthalb Meter hohe
Sandsteinfigur fand sich am Fuß eines keltischen Grabhügels. Die zirka
2600 Jahre alte Statue zeigt einen nackten Mann mit Helm, Halsreif und
Dolch. Es ist die älteste Skulptur eines Menschen in Mitteleuropa
Das Bild der keltischen Siedlungskammer nimmt Konturen an.
Vieles spricht dafür, dass jeder Ort eine bestimmte Aufgabe erfüllte.
Die Alte Burg war der zentrale Kultplatz, und die Heuneburg hatten die
ersten Siedler wohl aus besonderen Gründen als Standort gewählt: Sie
wollten die verkehrsgeografisch günstige Lage oberhalb der Donau nutzen.
»Mit dem Handelsplatz direkt an den Fluss zu gehen – das ist ein sehr
modernes Konzept der Besiedlung«, sagt Krausse. Zu Gunsten einer guten
Anbindung an den Fernhandel hatten die Fürsten offenbar auf eine
monumentale Lage verzichtet.
Damit klärt sich auch eine Sache, die
Forscher stets irritierte: Für einen frühkeltischen Fürstensitz ist die
Heuneburg eher untypisch. Anders als etwa am Mont Lassois im Burgund
hatten die Herrscher auf eine monumentale Architektur verzichtet. Das
Plateau der Heuneburg ist weder weithin sichtbar noch erstreckte sich
dort eine große Burg mit mächtigen Wallanlagen. »Der Mont Lassois oder
der Ipf bei Bobfingen sind Beispiele für die typische keltische
Landschaftsarchitektur. Man nutzte eine markante Topografie, um den
Anschein einer monumentalen Anlage zu verstärken«, sagt Krausse.
Das Olympia der Kelten Die
Alte Burg rückt immer mehr in den Fokus der Forscher. Im Herbst 2020
soll eine Konferenz speziell zu diesem Fundplatz stattfinden. Wie die
jüngsten Grabungen zeigen, war der Berg zwischen dem 8. und
6. Jahrhundert v. Chr. zu einer 340 Meter langen sowie 50 bis 60 Meter
breiten Anlage ausgebaut worden. »Das Plateau sieht aus wie eine lange
Zunge«, sagt Krausse. Felsblöcke mussten dafür entfernt, die Bergkuppe
eingeebnet und schließlich eine imposante Mauer errichtet werden –
12 Meter hoch und 13 Meter mächtig. »Aus der Alte Burg wurde ein
riesiges Monument geschaffen – ein gigantischer Aufwand«, sagt Krausse.
Warum diese Mühen, dazu hat der Archäologe eine begründete These:
»Vermutlich fanden dort Wettkämpfe statt. Es könnte das Olympia der
frühen Kelten gewesen sein.« Krausse stützt seine Annahme auf die
Form des Plateaus, die an römische Zirkusanlagen erinnert. Zudem haben
die Ausgräber entlang der mittigen Längsachse ein kleines Mäuerchen
entdeckt. Dieses endet im selben Abstand – nämlich 15 Meter – sowohl vor
der mächtigen Stützmauer als auch vor der Plateaukante. Fungierten die
Mauerköpfe womöglich als Wendemarken für Pferde- oder Wagenrennen? Das
jedenfalls vermutet Krausse. Um seine These zu belegen, will der
Forscher aber noch weitere Grabungen anstrengen. Griechische Sitten zum Vorbild Auch
der Archäologe Philipp Stockhammer von der
Ludwig-Maximilians-Universität München kann sich vorstellen, dass die
Alte Burg als Stätte für Zeremonien und Wettkämpfe diente – vielleicht
nach griechischem Vorbild. Das schließt der Prähistoriker aus einer
weiteren Beobachtung, die er und seine Kollegen im Forschungsprojekt
BEFIM (»Bedeutungen und Funktionen mediterraner Importe im
früheisenzeitlichen Mitteleuropa«) gemacht haben. Die Wissenschaftler
beschäftigen sich mit den Ess- und Trinkgewohnheiten der Kelten. Dazu
untersuchen sie Rückstände in Tongefäßen – in Bechern aus einheimischer
und solchen aus fremder Produktion. Das Ergebnis: In Amphoren aus dem
Mittelmeerraum entdeckten die Forscher Spuren von Oliven- und Rizinusöl.
Allerdings nur in Transportbehältern, die ab zirka 530 v. Chr. zur
Heuneburg gelangt waren. »Diese Öle waren nicht zum Verzehr gedacht«,
sagt Stockhammer. »Sie dienten wahrscheinlich der Körperpflege.« Im
antiken Griechenland verteilten die Athleten Öl auf ihre nackten Körper.
Nach der sportlichen Ertüchtigung schabten sie das Öl dann mit einem
sichelförmigen Gerät, der Strigilis, wieder ab – samt dem Staub vom
Palästraboden, der an den Sportlern haftete.
Das Gold der Keltenfürstin. Die zirka zwei Zentimeter
breiten Perlen vom Bettelbühl ähneln Stücken aus Italien, stammen aber
vermutlich aus einer keltischen Werkstatt.
»Vielleicht
übernahmen die Kelten im Verlauf des 6. Jahrhunderts v. Chr. nicht nur
mediterrane Trinksitten, sondern auch die mediterranen Körperbilder«,
sagt Stockhammer. Weil die Kelten die griechische Art der Körperpflege
adaptierten und überhaupt engen Kontakt mit den Mittelmeergesellschaften
pflegten, hätte sich ihr Körperideal geändert. Das würden die
keltischen Statuen nahelegen, wie der so genannte Krieger von
Hirschlanden (nahe Ditzingen bei Stuttgart). Der Oberkörper der
anderthalb Meter hohen Sandsteinfigur mit seinen dünnen Armen würde
frühkeltischen Statuetten ähneln, die kräftigen Unterschenkel und Beine
hingegen stark an griechische Statuen erinnern, erklärt der Archäologe. Nur
– was war um 530 v. Chr. in der Stadt an der Donau passiert? Die Burg,
die um 620 v. Chr. eng mit kleinen Häusern bebaut und mit der markanten
Lehmziegelmauer befestigt worden war, brannte komplett ab. Warum, ist
bisher nicht bekannt. Sicher ist aber, dass die Stadt nicht mehr so
aufgebaut wurde wie zuvor: Statt vieler kleiner Handwerkerhäuser
entstanden auf dem Burgberg prächtige, mehrere hundert Quadratmeter
große Villen. Offenbar hatte eine neue Führungsschicht die Kontrolle
übernommen. Wein gab es nur noch für die Elite Spuren für diesen gesellschaftlichen Wandel fand Stockhammers Team ausgerechnet in den Trinkgefäßen.
Attisches Luxusgeschirr aus Griechenland ließ Archäologen schon lange
vermuten, dass die Kelten den mediterranen Trinksitten nacheiferten.
Doch die Begeisterung für Wein ist älter als die importierten Gefäße,
welche die Menschen der Heuneburg erst am Ende des 6. Jahrhunderts
v. Chr. nutzten. Zuvor genossen sie den importierten Wein aus heimischen
Bechern – sowohl die Bewohner der Heuneburg als auch die der
umliegenden Gehöfte. Bislang waren Prähistoriker davon ausgegangen, dass
die Kelten den Wein ausschließlich aus dem zugehörigen griechischen
Edelgeschirr konsumierten. Und dann auch nur die Elite.
Erst verbindet der Wein die Menschen, dann trennt er die Elite von den einfachen Kelten
Das
änderte sich um 530 v. Chr. Einzig die Burgleute tranken den fremden
Traubenwein – und nur aus attischer Keramik, sagt Stockhammer. Die
einfachen Einwohner blieben ausgeschlossen. Der Archäologe wertet das
Ergebnis als Hinweis auf einen fundamentalen Wandel: »Erst verbindet der
Wein die Menschen, dann trennt er die Elite von den einfachen Kelten.« Was
genau damals passierte, ist noch nicht geklärt, in jedem Fall nehmen
die Bezüge zu mediterranen Sitten weiter zu. »Wir finden eine immer
deutlichere Orientierung am Süden, ein immer größeres Interesse an
mediterranen Lebenspraktiken«, sagt Stockhammer. Sicher ist, dass es
einen intensiven Warenaustausch gab, der sogar weiter ging als bis ins
antike Griechenland. Im Fürstinnengrab vom Bettelbühl
nahe der Heuneburg fand sich ein bronzener Stirnpanzer für ein Pferd.
Form und Dekor kennen Archäologen sonst aus dem assyrischen Raum, dem
heutigen Nahen Osten. In dem Grab lagen zudem filigrane
Goldschmiedearbeiten, die stilistisch etruskischen Stücken aus Italien
ähneln. »Die Menschen waren in der Vergangenheit viel vernetzter, als
wir lange dachten«, erklärt Stockhammer. »Daher kann ich mir auch
vorstellen, dass Herodot die Heuneburg kannte.«