Montag, 29. Juni 2020

Über Rassismus.

Conrad Murray

Der Afroamerikaner Michael Jackson, dessen Haut von der Pigmentstörung Vitiligo ausgebleicht war,  suchte einen Leibarzt für sein geplantes Konzert-Marathon in London. Bevor er Dr. Murray engagierte, fragte er bei Freunden an, ob er wohl einem schwarzen Doktor vertrauen könne.

Man weiß, wie das ausgegangen ist.



Der energetische Imperativ.

Dampfmaschine
aus nzz.ch, 29.06.2020

Sind wir dank Kohle und Erdöl zu besseren Menschen geworden?
Zweifellos geben wir heute mehr auf Gleichheit oder Freiheit als unsere Vorfahren im Mittelalter. Laut Ian Morris hat das damit zu tun, dass wir andere Energiequellen nutzen und seit 200 Jahren auf fossile Brennstoffe setzen. Eine interessante, aber kaum richtige These.

von Claudia Mäder 

Kleinjogg ist in Sachen Ruhm schon einiges gewohnt. Der Zürcher Landwirt, Jakob Gujer mit richtigem Namen, galt im 18. Jahrhundert als «Musterbauer», und sein rationell geführter Betrieb wurde von Gästen aus ganz Europa besucht. Kleinjogg hatte die Produktivität seines Hofs mit gezielter Düngung und einer strengen Arbeitsethik gesteigert: Müssiggang kam beim Bauern Gujer nicht infrage, selbst sonntags schleppte er Pflüge auf seine Äcker – und hatte sich deswegen öfters vor dem Pfarrherrn zu erklären. Andere Leute aber fanden grossen Gefallen an Kleinjoggs zielstrebigem Tun: Rousseau schwärmte genauso von dem emsigen Bauern wie Mirabeau, Pestalozzi oder Goethe.

Nun kommt Kleinjogg zu neuen Ehren: Der Schweizer hat einen halbseitigen Auftritt im jüngsten Buch von Ian Morris, einem der weltweit bekanntesten Historiker. Ursprünglich Archäologe, hat sich der in Stanford lehrende Brite vor einiger Zeit auf ein breiteres Gebiet verlegt: Morris fasstt vorzugsweise die ganze Menschheitsgeschichte ins Auge und führt mit grossen Thesen von den Ursprüngen bis in die Gegenwart unserer Spezies. Vor rund zehn Jahren hat er in dieser Manier die Dominanz des Westens zu erklären versucht («Wer regiert die Welt?»), und sein neues Vorhaben ist nicht minder ambitioniert. In «Beute, Ernte, Öl» will Morris eine «allgemeine Theorie der Entwicklung menschlicher Werte» bieten.


Das Buch erstreckt sich über 20 000 Jahre, und 1765 n. Chr. kommt also tatsächlich unser Zürcher Kleinjogg zum Zug. Viel darf er zwar nicht sagen, aber was der Bauer in der Mitte des 18. Jahrhunderts dem württembergischen Herzog Ludwig Eugen in knappen Worten beschied, ist für Morris von grossem Gewicht: «Wir sind beide gut, wenn jeder von uns tut, was er soll.» Anders ausgedrückt: Jeder hat seinen Platz in der Gesellschaft und handelt dann richtig, wenn er sich in die Hierarchie schickt, seine standesgemässe Aufgabe erfüllt und entweder herrscht oder dient.

Damit, meint Morris, habe Kleinjogg zum Ausdruck gebracht, was den «Gesellschaftsvertrag» der agrarischen Zeit ausmachte, nämlich ein fundamentales Einverständnis mit Hierarchien und sozialen wie materiellen Ungleichheiten. Die Sentenz des Schweizers bündelt demnach die Werthaltung der «Bauern», deren Zeitalter sich von ungefähr 10 000 v. Chr. bis 1800 n. Chr. erstreckte. Vor ihnen waren die «Wildbeuter» am Werk, nach ihnen traten die «Fossilenergienutzer» auf den Plan. Bei diesen drei Typen beobachtet der Autor je unterschiedliche Wertesysteme, und um diese Unterschiede zu erklären, hat er eine grundlegende These: Die Werte, die in den drei Phasen dominieren, entstanden laut Morris durch die Art und Weise, wie die Menschen in der jeweiligen Ära Energie gewannen. 

Man nimmt, was funktioniert

Konkret hat man sich das ungefähr so vorzustellen: Die wildbeutenden Jäger und Sammler mussten umherstreifen, um zu energiereichen Pflanzen und Tieren zu gelangen; folglich konnten sie keinen namhaften Besitz anhäufen. Und wenn ein grosses Wildschwein erlegt wurde, musste die Sippe die Beute mangels Speichermöglichkeiten natürlich teilen. Diese spezifischen energietechnischen Zwänge übersetzten sich irgendwann in ein entsprechendes Wertesystem – die Wildbeuter waren egalitär und hielten wenig von Hierarchien, denn das war in ihrem Lebensraum sinnvoll.

Anders lagen die Dinge dann eben bei den sesshaften Bauern. Dank landwirtschaftlichem Anbau war in der nächsten Umgebung der Menschen plötzlich ein Vielfaches der früheren Energiemenge verfügbar. Also konnten Besitztümer entstehen, die Bevölkerung wuchs, Spezialisierung und Arbeitsteilung wurden möglich und nötig. Daraus resultierten Ungleichheiten und Hierarchien, aber weil dieses Gefüge für die Menschen insgesamt «funktionierte», sprich den Fortbestand der Population ermöglichte, wurden hierarchische Abstufungen als normal erachtet und hochgehalten.

Erst als die Menschen mit der Kohle eine neue Energiequelle erschlossen, änderten sich ihre Ansichten. Ab etwa 1800 war Energie auf einmal in scheinbar unbeschränkter Menge zu haben, die Produktion aller erdenklichen Dinge schoss in die Höhe, die Märkte wuchsen – und waren auf möglichst viele potente Teilnehmer angewiesen. Daher setzten sich nun Werte durch, die die Gleichheit der Menschen betonten und Hierarchien und Grenzen zwischen den Leuten als problematisch einstuften.

Diese Zusammenfassung ist grob vereinfacht, aber was Morris auf 200 Seiten entwirft, ist auch kaum mehr als ein Holzschnitt. Der Historiker zeichnet ein Schema und operiert dabei gerne mit Tabellen und Kurven. Dennoch ist sein Stil sehr angenehm zu lesen, immer hinterfragt Morris zudem kritisch die zum Teil eher dürftige Quellenbasis, auf der seine Theorien fussen, und auch sehr viel bestehende Forschung zieht er zu Rate. Interessanterweise findet Marx in dieser Kontextualisierung keine Erwähnung – doch gerade an seine materialistischen Konzepte fühlt man sich beim Lesen dauernd erinnert.

Morris redet von verschiedenen Formen der «Energiegewinnung», bezeichnet damit aber letztlich drei unterschiedliche wirtschaftliche Produktionsweisen. Und während Marx davon ausging, dass diese Produktionsweisen einen jeweiligen «Überbau» definierten, leitet Morris «gesellschaftliche Organisationsformen» aus ihnen ab und behauptet, dass sich die Wertesysteme an diese Strukturen anpassten. So wird Marx’ Denken mit einer evolutionären Logik verbunden: Laut Morris entwickelten die Menschen jeder Epoche genau diejenigen Werte, die sie als Spezies gerade «brauchten», um zu überleben und sich zu vermehren. 

Fragen über Fragen
 
Ganz unabhängig davon, ob man an überzeitliche, universale menschliche Werte glaubt oder nicht, wirft dieser relativistische, allein auf die Ökonomie fixierte Ansatz eine Menge Fragen auf.

Angenommen, die Landwirtschaftszeit habe hierarchische Werte «gebraucht»: Warum hat dann in der Geschlechterhierarchie der Mann dominiert und nicht die Frau, die doch die wichtigen Erben für die neuen Besitztümer gebar? Angenommen, Egalität sei ein Ausfluss der Gewinnung fossiler Energie: Wie hat es dann in der Ära von Kohle und Öl zu Rassismus und Kolonialismus kommen können? Oder angenommen, Industrialisierung führe automatisch zu denjenigen freiheitlichen und individualistischen Werten, die Morris für unsere Zeit als die «richtigen» bezeichnet: Was ist dann von den Werten des modernen China zu halten?

Gegen Fragen und Kritik hat Morris nichts, im Gegenteil. Sein Buch, das auf einer Princeton-Vorlesung von 2012 beruht, enthält einen zweiten Teil mit Einwänden von vier renommierten Diskutanten – und der Historiker wiederum nutzt diese Voten, um seine Thesen in einem dritten Teil weiter zu präzisieren. Solch offene Formen sind ziemlich selten, und man sollte Morris’ Buch nur schon darum lesen, weil es einen direkten Einblick in die Entwicklung wissenschaftlicher Gedanken bietet.

Trotzdem bleibt man nach 400 Seiten leicht ratlos zurück, denn ein zentrales Problem wird auch von den Kritikern kaum berührt: Ursache und Wirkung scheinen in Morris’ Geschichte zuweilen auf seltsame Weise die Plätze zu tauschen. Den kausalen Zusammenhang zwischen Energiegewinnung und Wertesystemen kann man schliesslich gut und gerne auch umgekehrt denken: Die Menschen entwickelten neue Werte – und veränderten dadurch ihre Art der Energiegewinnung.

Zumindest der Übergang von den «Bauern» zu den «Fossilenergienutzern» lässt sich auf diese Weise plausibel erklären. Die «neuen», freiheitlichen und partizipativen Werte der industriellen Ära haben in Ansätzen schon lange vor 1800 bestanden. Sie wurden nicht mit der Fossilenergie aus dem Erdboden gestampft, sondern haben vielmehr dazu beigetragen, die Energierevolution überhaupt erst möglich zu machen.

Kleinjogg ist hierfür kein schlechtes Beispiel. Der Bauer hielt am Denken in Hierarchien fest, da hat Morris sicher recht, aber mit einem einzelnen Satz ist die Komplexität historischer Figuren eben nur schlecht zu erfassen. Materielle Ungleichheit nahm der Zürcher Bauer nicht einfach als Schicksal hin, wie der Autor suggeriert. Kleinjogg wollte die Bauern aus der schlimmsten Armut heben und ihr Dasein verbessern – mithilfe seines vorbildhaften protestantischen Arbeitsethos.

In bürgerlichen Schichten wirkte dieses Ethos als Treiber für vernetzten Handel und Innovationen; die Gleichbehandlung der Geschlechter war schon in frühaufklärerischen Kreisen des 17. Jahrhunderts ein Thema, und seit der Renaissance erkundeten meist religiös inspirierte Forscher die «göttlichen» Naturgesetze und erzielten dabei Durchbrüche, die man später als wissenschaftliche Revolution bezeichnete. Auf einen Punkt gebracht: Kohle gab es die längste Zeit, doch erst eine Änderung der geistigen und gesellschaftlichen Dispositionen führte zu ihrer massenhaften Nutzung.

Kehrt man seine Prämisse auf diese Weise um, kann man Morris’ Buch auch für die Gegenwart einiges abgewinnen. Darauf zu warten, dass neue Formen der Energiegewinnung unsere Werte verändern, scheint heute eher wenig zukunftsträchtig. Aber die Erkenntnis, dass wir Menschen Denk- und Wertesysteme entwickeln können, die mittelfristig zu neuen Energieformen führen, darf einen durchaus zuversichtlich stimmen.

Ian Morris: Beute, Ernte, Öl. Wie Energiequellen Gesellschaften formen. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020. 432 S., Fr. 41.90.


Nota. - In Anlehnung an Erich Haeckel hat der deutsche Chemiker Wilhelm Ostwald das Wort vom energe-tischen Imperativ geprägt, der sich schlicht zusammenfassen lässt in dem Gebot spare Kraft. Er brauchte dafür noch eine eigene Metaphysik auf der Grundlage seiner Prämisse, die primäre stoffliche Substanz der Welt sei Energie, von der Materie nur eine Sonderform ist.

Während das Wort Ökonomie aus der griechischen Wurzel oikos stammt und Haushaltung bedeutet, ist es in die deutsche Sprache aus dem Französischen übernommen worden, und da heißt économie außer wirtschaften regel-recht: sparen. Wirtschaften bedeutet Gewinnen durch Einsparen - von Material und Arbeitskraft: Stoff und Ener-gie. Ian Morris scheint es nicht bewusst zu sein, aber Claudia Mäder entdeckt ein längst bekanntes Amerika, wenn sie seine Kernidee bei Marx vorformuliert findet. Es sind die Produktionsmittel, die Produktionsweisen vorgeben - und die ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Organisationnsformen. Indes bringen Produkti-onsweisen und Organisationsformen nach dem Prinzip der 'natürlichen', nämlich praktischen Auslese neue Produktionsmittel hervor: Erfindungen werden dauernd gemacht, und die sich bewähren, setzen sich durch.

Und wenn wir diesen Gedanken erst einmal gefasst haben, stellen wir fest: Umgekehrt gilt das auch. Ideen sprudeln unentwegt, wenn auch mal reichlicher und mal spär licher; und die sich bewähren, setzen sich durch. Auch den Zusammenhang von Marx und Darwin hat die Rezensentin also neu entdeckt.

Dies zu ihren Ergänzungen. Von ihren Einwänden picke ich den Satz heraus, Kohle habe es schon immer ge-geben, aber um eine ganze Gesellschaft umzuordnen, hätten sich erst 'geistige' und 'gesellschaftliche' Disposi-tionen ändern müssen. Das kann man konkreter ausdrücken: Es musste - und konnte unter Marktbedingungen -  erst die Dampfmaschine erfunden werden.

Dieser Einwand also ist schief. Direkt falsch ist aber die Aussage, in der Landschwirtschaft sei die "Geschlech-terhierachie"vom Mann dominiert und nicht der Frau, die doch die Erben gebar! Was sie erst noch beweisen - erläutern, belegen, begründen - müsste, setzt sie voraus und wendet es als Frage gegen Ian Morris. 

Nun wird in den landwirtschaftlich geprägten Gesellschaft das Leben nicht vom überregionalen anonymen öffentlichen Markt beherrscht, sondern von den isolierten Familienhaushalten. Grundlage von Arbeitsteilung und Austausch ist der Hof. Dass auf den Bauernhöfen in der Regel die Männer den Ton angeben, gilt aber bloß für den produktiven Teil der Hauswirtschaft. Verteilung, Konsum und... Re produktion der Arbeitskraft obliegt der Hausfrau. 

Und so sind wir zur Energie zurückgekehrt.
JE




Nota - Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE.

Sonntag, 28. Juni 2020

"Europas epochale Chance."

 
aus nzz.ch,

Die Corona-Krise ist für Europa eine epochale Chance.
Wenn es sich zusammenrauft, könnte es zum führenden Global Player des 21. Jahrhunderts werden
Die Corona-Krise hat einer gespaltenen Welt zusätzliche Verwerfungen hinzugefügt. Bereits ist von einem neuen kalten Krieg zwischen den USA und China die Rede. Europa könnte sich als Alternative Geltung verschaffen und zum Träger einer neuen Wachstumserzählung werden.

von Daniel Dettling 

Die Corona-Krise hat gezeigt, was auf dem Spiel stand: der Rückfall in ein Europa der Nationalstaaten mit geschlossenen Grenzen. Doch nach erheblichen Startschwierigkeiten ist die EU nicht an der Krise zerbrochen, sondern hat sich alter und neuer Stärken besonnen. Das europäische Modell hat sich in der Pandemie als widerstandsfähiger und solidarischer erwiesen. Während die USA auf das Modell «Wohlstand ohne Wohlfahrt» und China auf «Wohlstand gegen Wohlverhalten» setzt, heisst der europäische Weg «Wohlstand plus Wohlfühlen». Europa entwickelt mit Corona eine neue geopolitische Identität, auch weil Deutschland seine Interessen in Europa neu definiert. 

Gesundheit als Sicherheitsfrage

Gesundheitsfragen sind Sicherheitsfragen. Gesundheitssicherheit («health security») wird nach Corona zum neuen Staatsziel. Allein national lässt sich öffentliche Gesundheitsfürsorge («public health») nicht mehr organisieren. Gesundheit wird zum Bestandteil der Aussen- und Sicherheitspolitik. Die Konsequenz für Europa ist offensichtlich: Der Kontinent braucht mehr Souveränität auch im Gesundheitsbereich. Dazu gehören eine europäische Seuchenbehörde, eine europäische Impfstoff- und Pandemiestrategie, gut ausgebildetes Gesundheitspersonal, öffentlich-private Partnerschaften mit der Industrie sowie der Austausch von Daten und der Einsatz von digitalen Lösungen.

Kann Europa die «Sprache der Macht»? Dafür muss die EU
über ihren Schatten springen und selbst Hegemon werden.

Gesundheitskrisen überschreiten zunehmend Grenzen und haben das Potenzial, zu wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen zu werden. Es geht um die umfassende Resilienz von Staaten und Staatengemeinschaften. Auch für die Nato wird Corona langfristige Folgen auf die geopolitische Weltordnung haben. Während die USA als gespaltenes und dysfunktionales Land angesehen werden, hat China in der Corona-Krise sein autoritäres Gesicht gezeigt. Neben der besseren Vorbereitung auf künftige Pandemien geht es für das Bündnis um die Stärkung der mentalen und sozialen Widerstandsfähigkeit und den Schutz kritischer Infrastrukturen wie Energie, Medizin und Telekommunikation. 

Die Quadratur des Kreises

Die Agenda einer neuen Aussen- und Sicherheitspolitik nach Corona betrifft nicht nur die Gesundheitspolitik. Internationale Beobachter und Strategen sprechen von einem «neuen kalten Krieg», der nach der Pandemie zwischen den USA und China an Dynamik gewinnt. Der frühere Aussenminister Südkoreas Yoon Young Kwan spricht von drei Dimensionen der chinesisch-amerikanischen Rivalität, die miteinander verknüpft sind: einer politisch-militärischen, einer wirtschaftlichen und einer ideologischen.

Europa könnte zum glücklichen Dritten der Auseinandersetzung werden. Statt einer Strategie der «Entkopplung» von China oder der «Entsagung» von den USA sollte Europa bei seiner Politik der «Quadratur des Kreises» (Ralf Dahrendorf) mittels politischer Freiheit, ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftlicher Solidarität bleiben.

Der neue «Wiederaufbaufonds» der EU-Kommission ist dabei ein starkes Signal. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte nimmt die EU selbst Schulden auf und zahlt Gelder nicht als Kredit, sondern als Zuschuss aus. Der Fonds stellt eine 180-Grad-Wende der bisherigen Politik Deutschlands dar. Angela Merkel will ihre Regierungszeit im nächsten Jahr nicht als schwäbische Hausfrau beenden, sondern als europäische Staatsfrau. Mit dem Wiederaufbaufonds unternimmt die Europäische Union einen qualitativen Sprung zur politischen Union. Der über 750 Milliarden Euro schwere Fonds ist Ausdruck der neuen Einsicht in die Notwendigkeit, dass nicht nur Gesundheit, sondern auch Wettbewerbsfähigkeit und Solidarität sich nur grenzüberschreitend und politisch organisieren lassen.

Kann Europa die «Sprache der Macht» (Ursula von der Leyen)? Dafür muss die Europäische Union über ihren Schatten springen und selbst Hegemon werden. Während China sein Modell des «autoritären Kapitalismus» als angeblich überlegene Alternative zur freiheitlichen liberalen Demokratie vorantreibt und die USA auf das Modell des «monopolistischen Kapitalismus» setzen, kann die europäische Antwort nur in einer Weiterentwicklung ihres Modells der Sozialen Marktwirtschaft bestehen.

Für die Mehrheit der Menschen ausserhalb der europäischen Grenzen ist Europa heute die attraktivste Region der Welt. Nicht nur für Investoren, sondern auch für Touristen und Talente. «Welfare and wellbeing» (Wohlfahrt und Wohlfühlen) ist sein Erfolgsmodell. Wenn die USA nicht mehr Europas Garant in aussen- und sicherheitspolitischen Fragen sein wollen und China es nicht sein soll, muss es für Europa darum gehen, selbst eine Politik der Wehrhaftigkeit und Widerstandsfähigkeit zu entwickeln. In einer neuen Welt der «Deals» zwischen Supermächten wird Europa dealfähig werden müssen. 

Demokratie, Digitalisierung, Dekarbonisierung

In der Welt nach Corona geht es für Europa darum, Demokratie, Digitalisierung und Dekarbonisierung zu einer neuen Machtpolitik zu verbinden. Noch befinden sich fast alle der in Europa genutzten Daten auf amerikanischen oder chinesischen Servern. Die neue Kommission mit Ursula von der Leyen will beide Themen, die Digitalisierung und die Dekarbonisierung der Wirtschaft, zum zentralen Thema für den Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Pandemie machen. Mit einem Green Deal soll Europa ökonomisch wettbewerbsfähig und ökologisch nachhaltig werden.

Wir sehr die beiden Megatrends korrelieren, zeigt die Debatte um die Einführung von europäischen Steuern. Intelligent umgesetzt, könnte mit der Kombination von Eigenmitteln in den nächsten dreissig Jahren die Schuldenlast des Wiederaufbauprogramms getilgt werden. Eine CO2-Grenzsteuer und eine stärkere Besteuerung von digitalen Plattformen würden die Transformation hin zu einer klimaneutralen und digitalen Wirtschaft in Europa beschleunigen. Klimaschutz und Digitales gehören zusammen.

Die Nutzung digitaler Dienste und Plattformen verursacht momentan fast vier Prozent aller Treibhausgasemissionen – mehr als doppelt so viel wie die zivile Luftfahrt. Beim Training einer künstlichen Intelligenz zur Spracherkennung fällt beispielsweise fünfmal so viel CO2 an, wie ein Auto während seiner gesamten Lebensdauer emittiert. Durch Cloud-Computing und schnelles Internet (5G) liesse sich der globale Ausstoss von Treibhausgasen erheblich reduzieren. 

Europa als «best place to be»

Ein grünes Internet ist möglich, wenn die Unternehmen zur Nutzung und Produktion von erneuerbaren Energien angehalten werden. Nachhaltigkeit muss auch in der digitalen Wirtschaft zum Mainstream werden. Dazu gehören dezentrale Energienetze, autonome, energieeffiziente Fahrzeuge und eine neue Kreislauf- und Wasserstoffwirtschaft. Digitalisierung und der Green Deal werden zur neuen europäischen Wachstumserzählung im 21. Jahrhundert und zum Ausgangspunkt für Deals zwischen Europa, China und den USA. Europa wird zur Gesundheits-, Klima- und Digitalunion.

Vor fünfzehn Jahren hat der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin den langsamen Tod des amerikanischen und das Entstehen eines europäischen Traums prognostiziert. Corona hat die Verwirklichung dieses Traums beschleunigt. Pandemie- und Klimaschutz, Digitalisierung und wirtschaftlicher Aufbau werden zum gemeinsamen europäischen Projekt. Europa wird zum «best place to be»: freier als China und solidarischer als die USA.

Daniel Dettling leitet das von ihm gegründete Institut für Zukunftspolitik mit Sitz in Berlin. Soeben ist sein neues Buch erschienen: «Zukunftsintelligenz. Der Corona-Effekt auf unser Leben» (Langen Müller).


Nota. - Lauter fromme Wünsche, ach. 

Doch unter den gegebenen Umständen wäre es ein goßer Sprung nach vorn, wenn Europa sich darüber ver-ständigen wollte, was es wünscht. Dann fiele die Wahl gar nicht so schwer und schienen die Hürden gar nicht mehr so hoch.

JE



Nota - Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE.  

Freitag, 26. Juni 2020

Die Hölle, das sind die andern.

Degas
aus nzz.ch,

Wir alle haben Vorurteile – hoffentlich! 
Rassisten sind wir deshalb noch lange nicht
Die Feststellung ist so banal wie unbequem: Menschen könnten ohne Vorurteile nicht leben. Doch nicht jede Schablone ist diskriminierend oder gar rassistisch. Es gilt, genau hinzusehen – und zu unterscheiden.

von Rainer Paris

In heutigen Diskussionen über Migration, «alte weisse Männer» und Co. ist es geradezu en vogue, vieles über einen Kamm zu scheren. Konfusion und Kurzschlüssigkeit beherrschen die Szene, nur so lassen sich Überentschiedenheit und moralische Selbstermächtigung zuverlässig verteidigen.

Wer um jeden Preis stets recht behalten will, tut gut daran, möglichst nicht zu differenzieren und seine Beschränktheit zu pflegen. Tritt dann die Katastrophe ein, ist man bestätigt, bleibt sie aus, hat man erfolgreich gewarnt! Um solchen Vereinfachungen entgegenzuwirken, seien hier einige begriffliche Unterscheidungen vorgenommen.

Typisierung: der erste Eindruck
 
Beginnen wir mit der Einordnung und Verortung nach ethnischer Herkunft. Ist das schon Rassismus – oder mindestens Schubladendenken? Nein. Es geht hier erst einmal um eine ganz normale und im Übrigen unumgängliche Mechanik der Wahrnehmung.

Der soziologische Fachausdruck dafür ist die Typisierung. Wenn Fremde oder Unbekannte einander begegnen, so nehmen sie sich gegenseitig anhand allgemeiner Schemata wahr, die den anderen grob klassifizieren: Alter, Geschlecht, Ethnie, soziale Zugehörigkeit. Das menschliche Sensorium hierfür ist sehr gut ausgebildet. Diese Typisierung nach äusseren offensichtlichen Merkmalen erfolgt sofort, automatisch und intuitiv.

Der erste Eindruck zählt und stellt Weichen, auch wenn er später vielleicht revidiert wird. Mehr noch: Ohne den Mechanismus der Typisierung gibt es keine Möglichkeit, das Bild des anderen nach und nach zu differenzieren und ihn am Ende als unverwechselbares Individuum wahrzunehmen. Die Einordnung des anderen als Typus geht der individuellen Konturierung voraus. Es ist daher unsinnig, jede typisierende Einordnung von vornherein unter Diskriminierungsverdacht zu stellen.

Wie sehr eine Einschätzung auch nach Kriterien der ethnischen Herkunft im Alltag sinnvoll und unerlässlich ist, lässt sich an einer Vielzahl von Beispielen erläutern. Ich erinnere mich an den Blogbeitrag einer ausgewanderten Russin über ihre Erfahrungen mit Annäherungen von Männern in der früheren Sowjetunion. Dort war es für sie wichtig, bei Männern, die sie in Moskau ansprachen, zum Beispiel zwischen Aserbaidschanern und Georgiern deutlich zu unterscheiden: Während die Aserbaidschaner als eher schüchtern und zurückhaltend galten und freundliche Ablehnung daher auch als solche verstanden, interpretierten die Georgier die gleiche Reaktion oftmals als starke Ermunterung, geradezu als Aufforderung zu weiterer Zudringlichkeit.

Um also angemessen reagieren zu können und mögliche Aggressionen in Zaum zu halten, war eine solche Typisierung, und zwar im beiderseitigen Interesse, nötig und sinnvoll. Das Beispiel zeigt, wie notwendig ein gemeinsames Zeichenrepertoire ist, um konfliktreiche Missverständnisse zu vermeiden.

Etikettierung als Festlegung
 
Von der Typisierung als erster kognitiver Einordnung ist die Etikettierung zu unterscheiden. Typisierung ist ein vorläufiges, letztlich fluides Wahrnehmungsmuster, Etikettierung hingegen fixiert den bezeichneten Gegenstand, sei es nun eine Person, eine Gruppe oder ein Sachverhalt.

Etikettieren heisst bezeichnen. Indem wir Dinge oder Personen in bestimmter Weise benennen, nehmen wir nicht nur Klassifizierungen, sondern auch Festlegungen vor. Diese können neutral, aber auch mehr oder minder wertend und abwertend sein, ja es ist geradezu ein Charakteristikum der Wortwahl und Namensgebung, hier mit subtilen Mischungen zu operieren.

Etikettieren ist sprachlich-symbolisches Handeln. Es kann, muss aber nicht die Vorstufe zu praktischer Diskriminierung oder gar Gewalt sein. Wenn jede abwertende Bemerkung oder Äusserung in Gewalt mündete, wäre die Welt ein einziges Schlachtfeld. Wir können nicht nicht bewerten, sonst wären wir vollkommen orientierungslos – wer behauptet, dies sei dennoch möglich, macht es sich zu leicht. Und wir sind auch nicht frei, auf Benennungen und Bezeichnungen zu verzichten – ohne sie wären jeder Austausch und jede Verständigung unmöglich.

Allerdings sagt jede – ohnehin stattfindende – Etikettierung immer auch etwas über den Etikettierenden aus. In den Bezeichnungen, mehr noch in der begleitenden Mimik und Gestik, drücken wir gleichzeitig auch Gefühle, Zu- und Abneigungen aus. Dies zu zensieren und aus politischen oder moralischen Gründen unterbinden zu wollen, ist Ausdruck eines problematischen Menschenbildes: Es unterstellt, Menschen seien Roboter, die sich auf Knopfdruck selbst programmieren und umprogrammieren könnten.

Gewiss sind die sozialen Benennungen und Etiketten stets verankert in gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie abbilden und ein Stück weit reproduzieren. Aus diesem Umstand speist sich der Kinderglaube, man könne diese Verhältnisse mit blossen Umetikettierungen von Grund auf verändern und neu gestalten. Tatsächlich aber ist die Sache um einiges komplizierter.

Generell ist es wichtig, sich die Gradualität der mit den jeweiligen Etikettierungen verbundenen Wertungen und Aufladungen klarzumachen. Es gibt stets fliessende Übergänge von schwächeren und stärkeren Ablehnungen, die allerdings von einer bestimmten Schwelle an kaum noch umkehrbar sind. Dies geschieht vor allem im Zuge einer bestimmten Art von kollektiver Selbstbespiegelung, einer gruppengestützten Selbstverhetzung, bei der die negativen Zuschreibungen gegenüber der Fremdgruppe anhand markanter Beispiele ihrer «schlechtesten» Vertreter immer wieder erneuert und radikalisiert werden.

Norbert Elias und John L. Scotson haben diesen Mechanismus der permanenten Selbstbestätigung im Schimpfklatsch gegenüber Zugezogenen und Aussenseitern exemplarisch analysiert: «Diese Pars-pro-Toto-Verzerrung erlaubt es den Etablierten, ihre Glaubensaxiome vor sich und anderen als begründet zu erweisen: Sie haben immer Belege dafür parat, dass die eigene Gruppe ‹gut› ist und die andere ‹schlecht›.»

Stigmatisierende Vorurteile

Nun rühren wir an den heiklen Punkt: Permanente Selbstverhetzung hat Folgen. Sie polt die Wahrnehmung um und verändert die Grammatik des Fühlens. Sie verkleistert die Ohren, die fortan nur noch das hören, was sie hören wollen. Immerzu lauert man auf Stichworte, die es einem gestatten, sich erneut zu entrüsten und die negativen Zuschreibungen zu bestätigen.

Im stigmatisierenden Vorurteil hat sich das Negativbild des anderen irreversibel verfestigt. Er ist nur noch ein Typus ohne individuelle Kontur, ein Repräsentant all derjenigen schlechten Eigenschaften, die mit seiner Gruppe verbunden werden. Dabei kann er im Grunde tun, was er will – nichts wird die anderen von ihrer vorgefassten Meinung über ihn abbringen: Verhält er sich abweisend und aggressiv, so bestätigt dies das Vorurteil; ist er hingegen freundlich und aufgeschlossen, so tarnt er sich nur, denn er ist ja in Wirklichkeit böse.

Gegenerfahrungen lässt das stereotype Vorurteil nicht zu. Wo konkrete Personen oder Bekannte den Zuschreibungen widersprechen, wird dies abgespalten. Dabei ist das Problem nicht das Vorurteil selbst, sondern die Unbeirrbarkeit, die Abschottung gegen jede Erfahrung und jedes Dazulernen. Es ist so stark in negativen Gefühlen und Leidenschaften verankert, dass es zu einem unverrückbaren Teil der eigenen Identität geworden ist und somit niemals infrage gestellt wird.

Dennoch sind auch hier Gewichtung und Einschränkung nötig. Es hat keinen Sinn, das Vorurteil generell zu verdammen. Urteilen und Bewerten sind keine einmaligen Akte, sondern ein Prozess. Wir bilden uns unser Urteil, seine fertige Gestalt schält sich erst aufgrund von Erfahrungen und dem Abwägen von Gründen heraus. Und das bedeutet zugleich: ohne Vor-Urteil kein Urteil. Vorurteile sind daher nicht einfach zu eliminieren, es sind vielmehr die diskursiven Bedingungen dafür zu schaffen, sie revisionsfähig zu halten und zu Urteilen fortentwickeln zu können.

Dass Wahrnehmen, Bezeichnen und Handeln nicht dasselbe sind, sagt einem schon der gesunde Menschen-verstand. Bei der grassierenden Hysterie der Wohlmeinenden scheint das indes vergessen gegangen zu sein. Wenn zwischen Typisierungen, Etikettierungen und praktischen Diskriminierungen kein Unterschied mehr gemacht wird und stattdessen ein grosser ideologischer Brei angerührt wird, hilft das am Ende niemandem. Was stattdessen nottut, sind Augenmass und Differenzierung – und Selbstbesinnung.

Jeder möge sich vor dem Schlafengehen fragen, ob er in seinem täglichen Handeln womöglich zu weit ging. Ob mithin seine Vorurteile ihm andere Menschen näher bringen – oder erst verächtlich machen.

Rainer Paris ist Soziologe und Autor u. a. von «Der Wille des Einen ist das Tun des Anderen. Aufsätze zur Machttheorie» (Velbrück, 2015).


Nota. - Das seien doch alles Plattitüden? Da muss ich Ihnen Recht geben. Aber das macht es nicht überflüssig, sie auszusprechen und nachzudrucken. Es wird genügend Leute geben, die finden, der Autor verharmlose den Rassismus und öffne Vorurteilen aller Art Tür und Tor. Er vertusche den gleitenden Übergang von Mikroag-gressionen zu Menschenjagden und denunziere alle, die den Anfängen wehren. Stattdessen plädiere er für Täterschutz.

Der Aufsatz wird bei denen, an die er sich richtet, wirkungslos vorbeigehen. Wozu taugt er also? Er erinnert sie auf ärgerliche Weise, dass sie... nicht allein sind? Ach, das beklagen sie ja gerade! Aber er erinnert auch uns andere daran, dass wir, allem Keifen und Plärren zum Trotz, nicht allein sind.
JE  

Donnerstag, 25. Juni 2020

Die Prohibition, Frauen und der Ku-Kux-Klan.

News photograph features a large demonstration of Ku Klux Klansmen burning a cross, Baltimore, Maryland, 1923. (Photo by Transcendental Graphics/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
aus welt.de, 16. 6. 2020                 Die Prohibition machte den Ku-Klux-Klan zur Massenbewegung

„Ausländer, die unsere Städte aus den Pubs heraus regieren“
Vom Alkoholverbot in den Vereinigten Staaten im Jahr 1920 profitierte nicht nur die Mafia, sondern auch der Ku-Klux-Klan: Durch eine Allianz mit der Anti-Alkohol-Bewegung konnte er Jagd auf Migranten und Minderheiten machen.
 

Wendell Dabney muss sich sicher gefühlt haben, als er um 1900 nach Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio zog. Weg aus seiner Heimat, dem rassistischen Süden der USA, weg aus den alten Hochburgen des Ku-Klux-Klans. Hier im Norden konnte der Afroamerikaner frei leben; er gründete sogar eine eigene Zeitung.

Für den Nachfahren von Sklaven muss eine Welt zusammengebrochen sein, als er sah, wer im Februar 1922 durch die Straßen seiner Wahlheimat zog: Mehr als tausend Klan-Anhänger hatten sich zusammengerottet, um rassistische Propaganda zu verbreiten und Angriffe auf die nicht-weiße Bevölkerung zu planen.

19th August 1925: Members of the American white supremecist movement, the Ku Klux Klan marching down Pennsylvania Avenue in Washington DC. (Photo by Topical Press Agency/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Millionen neue Anhänger: Parade des Ku-Klux-Klans 1925 in Washington

Was wenige Jahre zuvor undenkbar schien, wurde wahr: Der Klan breitete sich im ganzen Land aus – Millionen Weiße unterstützten ihn. Denn die Kapuzenträger hatten eine gefährliche Allianz mit der Anti-Alkohol-Bewegung geschmiedet. Die Prohibition wurde so zum Kampf gegen Migranten und ethnische Minderheiten.

Jahrzehntelang hatten einflussreiche Abstinenzler-Verbände wie die Anti-Saloon-Liga und die Woman’s Christian Temperance Union auf das Alkoholverbot hingearbeitet. Einige ihrer Argumente waren plausibel: Der Alkoholkonsum in der amerikanischen Gesellschaft war derartig hoch, dass er unzählige Familien zerstörte. Väter versoffen ihren Lohn in Kneipen, Zehntausende starben an Leberzirrhosen; zudem nahm häusliche Gewalt überhand.


Kaum Gedanken machten sich die Abstinenzler dagegen über die Folgen eines Totalverbots, das im 18. Zusatzartikel zur Verfassung festgeschrieben wurde und am 16. Januar 1920 in Kraft trat. Ein riesiger Wirtschaftszweig samt Zulieferern brach zusammen, viele rechtschaffene Bürger trieb ihre Arbeitslosigkeit in die Kriminalität.

Anstelle des offiziellen Handels und Ausschanks von Alkohol trat schnell ein illegaler Wirtschaftszweig. Hatte die Prohibition eigentlich zu weniger Kriminalität führen sollen, wurde sie tatsächlich zum Konjunkturprogramm für das organisierte Verbrechen: Die Mafia entdeckte den Markt und konnte ihre Macht stark ausbauen – auch, weil sie vor Tausenden Morden nicht zurückschreckte.

Wendell Dabney berichtete in seiner Zeitung „The Union“ vor allem über die wachsende Gefahr des Klans. Menschen wie er entsprachen nicht zur Vorstellung einer weißen, angelsächsisch-protestantischen Gesellschaft, von der Prohibitionisten und Klan-Anhänger gleichermaßen fantasierten.

Beiden Gruppen schwebte ein Land vor, das weiße Eliten beherrschen sollten, die der „Flut an Migranten“ Einhalt gebieten würden. Da kam es gelegen, dass gerade unter Einwanderern und in der Arbeiterklasse der Alkoholkonsum hoch war. Der Kampf gegen den Alkohol wurde zum Kampf gegen die Emanzipation von Minderheiten.

Woman’s Christian Temperance Union 
Mitglieder der Woman’s Christian Temperance Union
Hundert Jahre nach Beginn der Prohibition werden ihre Anhänger oft als strenggläubige Moralisten dargestellt. Als etwas weltfremde Provinzler vielleicht – aber als Bürger mit dem noblen Ziel, die Volksgesundheit zu stärken. Doch zeitgenössische Quellen widerlegen dieses Bild. Die Anti-Alkohol-Bewegung stand dem Ku-Klux-Klan, zumindest rhetorisch, kaum nach: Über „ausländische Analphabeten, die unsere Städte aus den Pubs heraus regieren“ hetzte etwa Frances Willard, Gründerin der Woman’s Christian Temperance Union, des größten Frauenbundes der USA. Noch lange nach ihrem Tod wurde Willard als Sozialreformerin gefeiert.

Ähnliches war vom Vorsitzenden der Anti-Saloon-Liga, Wayne Wheeler, zu hören. Er machte massiv gegen Deutschamerikaner Stimmung – meistens hatten Deutschstämmige die Brauereien betrieben, die Alkoholindustrie dominiert und waren dadurch ins Fadenkreuz der Anti-Alkohol-Allianz geraten.
Deren Cheflobbyist Richmond Hobson sagte bereits 1914 im US-Repräsentantenhaus: „Schnaps macht den roten Mann zum Wilden, und aus dem Neger ein kriminelles Tier.“ Der „weiße Mann“ sei zwar „weiter in der Entwicklung“ und daher weniger anfällig. Doch auch er laufe Gefahr, sich zum Wilden zu entwickeln, wenn er nur früh genug mit dem Alkoholkonsum beginne. Solche Aussagen waren beim Ku-Klux-Klan natürlich nur zu willkommen. Dem Leitartikel einer Lokalzeitung war 1913 zu entnehmen: „In Alabama lässt sich kaum sagen, wo die Anti-Saloon-Liga aufhört und der Klan beginnt.“

UNITED STATES - CIRCA 1921: New York City Deputy Police Commissioner John A. Leach, right, watching agents pour liquor into sewer following a raid during the height of prohibition (Photo by Buyenlarge/Getty Images) Getty ImagesGetty Images 
Alkohol-Razzia in New York 1921
Denn obwohl man einander skeptisch betrachtete, einte beide Gruppen doch der Hass auf Einwanderer. Im Gegensatz zu den meist ungebildeten Kapuzenträgern des Klans riefen die Prohibitionisten nicht zur Gewalt auf. Ihre Waffen waren intellektuell: Durch Lobbyismus und Propaganda zogen sie das Gesetz auf ihre Seite.

In den Jahrzehnten vor dem Verbot hatte sich die amerikanische Gesellschaft stark gewandelt. Hatten die meisten Einwanderer im 19. Jahrhundert irische und deutsche Wurzeln, gingen seit der Jahrhundertwende Millionen von Italienern, Polen, Russen und anderen Osteuropäern von Bord der Schiffe, die die „neue Welt“ erreichten. Der Anteil an Juden und Katholiken stieg erheblich.

Gleichzeitig emanzipierten sich immer mehr Afroamerikaner. Millionen Menschen wie Wendell Dabney zogen vom Land im Süden in die Städte des Nordens. Die weißen Eliten sahen ihre Vorherrschaft zunehmend gefährdet, schreibt der US-Historiker Kevin Seeber. Vielerorts arbeiteten Klan und Prohibitionisten bald Hand in Hand: „Das Alkoholverbot erwies sich als starker, gemeinsamer Nenner für die Zusammenarbeit“, so Seeber.

UNITED STATES - SEPTEMBER 27: Night time meeting of the Ku Klux Klan, The Dayton Klan #23 of Ohio meets at a cross burning, Three crosses are seen burning in the background, 09/27/1924 (Photo by Transcendental Graphics/Getty Images) Getty ImagesGetty Images 
Der Klan gewann in den 1920ern fünf Millionen neue Mitglieder, darunter Hunderttausende Frauen
Viele Amerikaner kannten die weißen Kapuzenmänner vor der Prohibition nur noch aus Erzählungen. Der Bund hatte sich um 1890 eigentlich aufgelöst – bis 1925 schlossen sich jedoch so viele Amerikaner wie nie zuvor dem „zweiten“ Klan an. Wie die Geisteshaltung gegenüber Minderheiten immer feindlicher wurde, schildert die Historikerin Lisa McGirr in ihrem Buch „The War against Alcohol“: „Nichts half dem Klan bei der Verwandlung in eine soziale Massenbewegung so sehr, wie die neuen Möglichkeiten, die der Krieg gegen den Alkohol mit sich brachte.“

Kaum war das Alkoholverbot in Kraft, schlugen die Klan-Anhänger zu. Noch 1920 organisierten lokale Gruppen brutale „Aufräumaktionen“, die Schmugglern und Schwarzbrennern den Garaus machen sollten. Diese Form der Selbstjustiz lockte neue Unterstützer an und half dem Klan, sich in den Gemeinden breitzumachen.

Bis zu fünf Millionen Amerikaner – darunter Hunderttausende Frauen – zählte der Terrorbund bald. Seine Alkoholrazzien gerieten nicht selten außer Kontrolle, es gibt zahlreiche Berichte von Gewalt, Zerstörung und Brandschatzung. Zu befürchten hatte der Klan zunächst wenig: Das Gesetz war auf seiner Seite.

circa 1920: A man destroying barrels of alcohol during prohibition in America. (Photo by General Photographic Agency/Getty Images) Getty ImagesGetty Images 
Oft genug wurden die Prohibitions-Propagandisten von den Behörden unterstützt
Oft wurden die Aktionen sogar von lokalen Behörden und Sheriffs unterstützt, wie McGirr schreibt. Viele Migranten, die der Hass des Klans traf, hatten nämlich ihre Jobs in der Alkoholbranche verloren und rutschten tatsächlich in die Kriminalität ab.

Was die Klan-Aktivisten „Aufräumaktionen“ nannten, artete immer öfter in Straßenkämpfe, Vergewaltigungen und auch Morde aus. 1923 verhängte der Bundesstaat Oklahoma sogar das Kriegsrecht, um gegen sie vorzugehen. Die Wende kam 1925, als Klan-Chef David Stephenson wegen Vergewaltigung und Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Weil er sich Strafminderung erhoffte, übergab er der Zeitung „Indianapolis Times“ Listen, die zahlreiche Bestechungsgelder offengelegten und enthüllten, welche Staatsangestellten Klan-Unterstützer waren.

Die Zeitung gewann dafür den Pulitzerpreis. Andere Journalisten, darunter Wendell Dabney, inspirierte das, den Machenschaften des Klans nachzugehen. Es folgten zahlreiche Korruptionsverfahren, die Politiker zu Fall brachten, und ein dramatischer Mitgliederverlust. Die Prohibition endete am 5. Dezember 1933 landesweit. Damit hatte der Klan diesen Kampf endgültig verloren.



Mittwoch, 24. Juni 2020

Die keltische Metropole in Deutschland.

aus spektrum.de, 24.06.2020

Deutschlands Vorgeschichte
Die Keltenmetropole jenseits der Alpen
Am Oberlauf der Donau entstand im 7. Jahrhundert v. Chr. eine Drehscheibe des europäischen Handels. Die keltische Heuneburg entfaltete sich zum Machtzentrum einer reichen Region.

von Hubert Filser

Zahlreiche flache Lastkähne und Flöße legen am Hafen direkt unterhalb des vorspringenden Geländerückens an. An der Heuneburg beginnt und endet eine Wasserstraße, die 2700 Kilometer Richtung Osten bis zum Schwarzen Meer führt. Über die Donau gelangen Waren aus der griechischen Welt ins Keltenreich. Doch nicht nur aus dem Osten beziehen die Herren der Heuneburg Güter: Über die Alpenpässe kommen Luxusgüter – italischer Wein und etruskischer Schmuck –, aus dem Norden erreichen Wolle, Bernstein, Ölschiefer und Geweihe die Keltenmetropole. Und oben auf dem Burgberg verarbeiten Handwerker in dicht an dicht stehenden Schmieden die Materialien zu kostbarem Schmuck, Schwertern und prunkvollen Gefäßen.

»Die Heuneburg war damals der Nabel der keltischen Welt«, sagt der Archäologe Dirk Krausse vom Landesamt für Denkmalpflege im Regierungspräsidium Stuttgart, der den Keltensitz auf der Heuneburg und dessen Umgebung in Baden-Württemberg untersucht. »Die Menschen waren richtig reich.« Offenbar hatten die Kelten den Standort geschickt gewählt: Von hier war der Oberlauf der Donau das ganze Jahr befahrbar. Auch über Land war der Ort gut angebunden.

Pyrene – Keltenstadt an der Donau

Die Region um die Heuneburg entwickelte sich früh in der keltischen Geschichte zu einer Drehscheibe des Handels. Um 620 v. Chr. entstand aus einigen Siedlungen auf dem Plateau oberhalb der Donau die älteste Stadt nördlich der Alpen. In ganz Mitteleuropa gab es keinen vergleichbar großen Ort. Mit der Außensiedlung direkt unterhalb des Plateaus erstreckten sich die Gehöfte über rund einen Quadratkilometer.

Die Handelsmetropole war offenbar weit über die Grenzen des Keltenreichs hinaus berühmt. So erwähnt der griechische Geschichtsschreiber Herodot (485-424 v. Chr.) eine »Polis Pyrene« – nur mit einem Satz, als ob sowieso jeder die Stadt kennen würde: »Der Istros (Donau) entspringt bei den Kelten und der Stadt Pyrene und fließt mitten durch Europa« (»Historien«, Buch 2, Kapitel 33, 3). Mehr Erklärungen liefert Herodot nicht, vielmehr widmet er sich anschließend den exotischen Regionen entlang des Nil. Das bekannte Pyrene an der Donau dient ihm als Gegenpol zur wilden Welt Ägyptens. Krausse hält es für möglich, dass mit Pyrene die Heuneburg gemeint war.

Arena auf der Alte Burg | Die Bergkuppe war vor mehr als 2600 Jahren zu einem zungenförmigen Plateau eingeebnet worden. Die Archäologen vermuten, dass die Kelten dort Pferde- und Wagenrennen abgehalten haben.

Lange Zeit untersuchten die Archäologen nur den Burgberg. Dort lag das frühkeltische Machtzentrum – ein kleiner, aber reicher Fürstensitz, umgeben von einer imposanten Lehmziegelmauer im Stil mediterraner Bauwerke. Doch erste Ausgrabungen in der Umgebung machten klar, dass die Heuneburg das Herz einer viel größeren Region bildete. »Wenn es Pyrene wirklich gab, war das nicht allein die Heuneburg, sondern das gesamte Umfeld«, sagt Krausse. »Wir sprechen hier über ein Gebiet von mindestens 30 Quadratkilometern, in dem alles miteinander vernetzt war – und zwar schon lange, bevor um 620 v. Chr. an der Heuneburg die Lehmziegelmauer entstand.« Das haben laut Krausse die jüngsten Datierungen ergeben.

Wo die Straßen verliefen

Seit 2014 erforscht sein Team in einem Langzeitprojekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gezielt die Umgebung des Fürstensitzes. Die Archäologen wollen wissen, wie die Stadt zwischen dem 7. und dem 5. Jahrhundert v. Chr. in ihr Umland eingebunden war. Sie vermuten, dass um das wirtschaftliche und politische Zentrum mit seinen geschätzten 4000 Einwohnern eine komplexe Siedlungskammer existierte, in der wohl insgesamt rund 17 000 Menschen lebten.

Doch wo lagen die Dörfer, Höfe, Gräberfelder und Heiligtümer? Bereits bekannt sind Höhenbefestigungen wie die Große Heuneburg oder die Alte Burg. Krausse erzählt zudem von ersten Grabungen auf dem Bussen – auch bekannt als heiliger Berg Oberschwabens –, der aber bisher vollkommen unerforscht ist. Parallel laufen Projekte auf der etwa neun Kilometer entfernten Alte Burg bei Langenenslingen am Steilhang der Schwäbischen Alb. Dort, das legen außergewöhnliche Funde von menschlichen Skeletten nahe, befand sich wohl ein bedeutender Versammlungs- und Kultort der frühen Kelten. Insgesamt befände sich ihr Projekt gerade in einer »ziemlich dynamischen Situation«, sagt Krausse. »Meine eigene Perspektive hat sich in den letzten Monaten gewandelt. Wir sind auf höchst erstaunliche Dinge gestoßen, etwa auf Straßen aus frühkeltischer Zeit. So etwas kannten wir bislang gar nicht.«

Mit Hilfe der Fernerkundung, genauer der Lidar-Technik, enthüllten die Archäologen die Spuren einer Prozessionsstraße, die von der Heuneburg in Richtung Alte Burg führte und dort in einem heute von Bäumen überwachsenen Stück hoch zum Kultplatz verlief. »Das scheint eine Trasse gewesen zu sein«, sagt Krausse, »was dafür spricht, dass beide Plätze zusammengehörten.«

Teilstücke der Trasse haben die Forscher bereits ausgegraben, etwa einen Hohlweg in einem Waldstück bei Langenenslingen, der unweit einer großen Karstquelle vorbeiführt, vergleichbar mit dem berühmten Blautopf. Auch die letzte Wegetappe im Anstieg hoch zur Alte Burg haben die Archäologen stellenweise frei gelegt und anhand der Funde ins 6. Jahrhundert v. Chr. datiert. Im Hohlweg war die Straße zehn Meter breit und mit Kalkstein geschottert. Auf dem Belag zeichneten sich noch die Fahrspuren von Wagen ab. »Wenn beide Enden der Straße frühkeltisch sind, muss das Stück dazwischen ebenfalls frühkeltisch sein«, vermutet Krausse. Der Archäologe plant, mit seinem Team noch 2020 den mittleren Abschnitt der Keltenstraße an mehreren Stellen frei zu legen, um den Weg genau datieren zu können. »Ob das wegen der Corona-Krise auch möglich ist, werden wir sehen.«

Ein kolossaler Blick in die Ferne

Die Straße liefert nicht das einzige Indiz dafür, dass die Heuneburg und die Alte Burg einst miteinander verbunden waren. Auch die Sichtachse zwischen beiden Orten haben die Kelten landschaftsarchitektonisch hervorgehoben: Wer aus dem Tor des Fürstensitzes trat, erblickte vier Grabhügel, jeder etwa 8 Meter hoch und 60 Meter breit. Genau dazwischen lag in der Ferne die Alte Burg. Und dort war ein Erdwall so hoch aufgeschüttet worden, dass er von der Heuneburg aus am Horizont zu erkennen war. Wie ein markanter Zacken ragte der Kultplatz in der Schwäbischen Alb auf.

Der Krieger von Hirschlanden. Die anderthalb Meter hohe Sandsteinfigur fand sich am Fuß eines keltischen Grabhügels. Die zirka 2600 Jahre alte Statue zeigt einen nackten Mann mit Helm, Halsreif und Dolch. Es ist die älteste Skulptur eines Menschen in Mitteleuropa

Das Bild der keltischen Siedlungskammer nimmt Konturen an. Vieles spricht dafür, dass jeder Ort eine bestimmte Aufgabe erfüllte. Die Alte Burg war der zentrale Kultplatz, und die Heuneburg hatten die ersten Siedler wohl aus besonderen Gründen als Standort gewählt: Sie wollten die verkehrsgeografisch günstige Lage oberhalb der Donau nutzen. »Mit dem Handelsplatz direkt an den Fluss zu gehen – das ist ein sehr modernes Konzept der Besiedlung«, sagt Krausse. Zu Gunsten einer guten Anbindung an den Fernhandel hatten die Fürsten offenbar auf eine monumentale Lage verzichtet.

Damit klärt sich auch eine Sache, die Forscher stets irritierte: Für einen frühkeltischen Fürstensitz ist die Heuneburg eher untypisch. Anders als etwa am Mont Lassois im Burgund hatten die Herrscher auf eine monumentale Architektur verzichtet. Das Plateau der Heuneburg ist weder weithin sichtbar noch erstreckte sich dort eine große Burg mit mächtigen Wallanlagen. »Der Mont Lassois oder der Ipf bei Bobfingen sind Beispiele für die typische keltische Landschaftsarchitektur. Man nutzte eine markante Topografie, um den Anschein einer monumentalen Anlage zu verstärken«, sagt Krausse. 

Das Olympia der Kelten

Die Alte Burg rückt immer mehr in den Fokus der Forscher. Im Herbst 2020 soll eine Konferenz speziell zu diesem Fundplatz stattfinden. Wie die jüngsten Grabungen zeigen, war der Berg zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. zu einer 340 Meter langen sowie 50 bis 60 Meter breiten Anlage ausgebaut worden. »Das Plateau sieht aus wie eine lange Zunge«, sagt Krausse. Felsblöcke mussten dafür entfernt, die Bergkuppe eingeebnet und schließlich eine imposante Mauer errichtet werden – 12 Meter hoch und 13 Meter mächtig. »Aus der Alte Burg wurde ein riesiges Monument geschaffen – ein gigantischer Aufwand«, sagt Krausse. Warum diese Mühen, dazu hat der Archäologe eine begründete These: »Vermutlich fanden dort Wettkämpfe statt. Es könnte das Olympia der frühen Kelten gewesen sein.«

Krausse stützt seine Annahme auf die Form des Plateaus, die an römische Zirkusanlagen erinnert. Zudem haben die Ausgräber entlang der mittigen Längsachse ein kleines Mäuerchen entdeckt. Dieses endet im selben Abstand – nämlich 15 Meter – sowohl vor der mächtigen Stützmauer als auch vor der Plateaukante. Fungierten die Mauerköpfe womöglich als Wendemarken für Pferde- oder Wagenrennen? Das jedenfalls vermutet Krausse. Um seine These zu belegen, will der Forscher aber noch weitere Grabungen anstrengen.

Griechische Sitten zum Vorbild

Auch der Archäologe Philipp Stockhammer von der Ludwig-Maximilians-Universität München kann sich vorstellen, dass die Alte Burg als Stätte für Zeremonien und Wettkämpfe diente – vielleicht nach griechischem Vorbild. Das schließt der Prähistoriker aus einer weiteren Beobachtung, die er und seine Kollegen im Forschungsprojekt BEFIM (»Bedeutungen und Funktionen mediterraner Importe im früheisenzeitlichen Mitteleuropa«) gemacht haben. Die Wissenschaftler beschäftigen sich mit den Ess- und Trinkgewohnheiten der Kelten. Dazu untersuchen sie Rückstände in Tongefäßen – in Bechern aus einheimischer und solchen aus fremder Produktion. Das Ergebnis: In Amphoren aus dem Mittelmeerraum entdeckten die Forscher Spuren von Oliven- und Rizinusöl. Allerdings nur in Transportbehältern, die ab zirka 530 v. Chr. zur Heuneburg gelangt waren. »Diese Öle waren nicht zum Verzehr gedacht«, sagt Stockhammer. »Sie dienten wahrscheinlich der Körperpflege.« Im antiken Griechenland verteilten die Athleten Öl auf ihre nackten Körper. Nach der sportlichen Ertüchtigung schabten sie das Öl dann mit einem sichelförmigen Gerät, der Strigilis, wieder ab – samt dem Staub vom Palästraboden, der an den Sportlern haftete.

Das Gold der Keltenfürstin. Die zirka zwei Zentimeter breiten Perlen vom Bettelbühl ähneln Stücken aus Italien, stammen aber vermutlich aus einer keltischen Werkstatt.

»Vielleicht übernahmen die Kelten im Verlauf des 6. Jahrhunderts v. Chr. nicht nur mediterrane Trinksitten, sondern auch die mediterranen Körperbilder«, sagt Stockhammer. Weil die Kelten die griechische Art der Körperpflege adaptierten und überhaupt engen Kontakt mit den Mittelmeergesellschaften pflegten, hätte sich ihr Körperideal geändert. Das würden die keltischen Statuen nahelegen, wie der so genannte Krieger von Hirschlanden (nahe Ditzingen bei Stuttgart). Der Oberkörper der anderthalb Meter hohen Sandsteinfigur mit seinen dünnen Armen würde frühkeltischen Statuetten ähneln, die kräftigen Unterschenkel und Beine hingegen stark an griechische Statuen erinnern, erklärt der Archäologe.

Nur – was war um 530 v. Chr. in der Stadt an der Donau passiert? Die Burg, die um 620 v. Chr. eng mit kleinen Häusern bebaut und mit der markanten Lehmziegelmauer befestigt worden war, brannte komplett ab. Warum, ist bisher nicht bekannt. Sicher ist aber, dass die Stadt nicht mehr so aufgebaut wurde wie zuvor: Statt vieler kleiner Handwerkerhäuser entstanden auf dem Burgberg prächtige, mehrere hundert Quadratmeter große Villen. Offenbar hatte eine neue Führungsschicht die Kontrolle übernommen.

Wein gab es nur noch für die Elite

Spuren für diesen gesellschaftlichen Wandel fand Stockhammers Team ausgerechnet in den Trinkgefäßen. Attisches Luxusgeschirr aus Griechenland ließ Archäologen schon lange vermuten, dass die Kelten den mediterranen Trinksitten nacheiferten. Doch die Begeisterung für Wein ist älter als die importierten Gefäße, welche die Menschen der Heuneburg erst am Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. nutzten. Zuvor genossen sie den importierten Wein aus heimischen Bechern – sowohl die Bewohner der Heuneburg als auch die der umliegenden Gehöfte. Bislang waren Prähistoriker davon ausgegangen, dass die Kelten den Wein ausschließlich aus dem zugehörigen griechischen Edelgeschirr konsumierten. Und dann auch nur die Elite.
Erst verbindet der Wein die Menschen, dann trennt er
die Elite von den einfachen Kelten
Das änderte sich um 530 v. Chr. Einzig die Burgleute tranken den fremden Traubenwein – und nur aus attischer Keramik, sagt Stockhammer. Die einfachen Einwohner blieben ausgeschlossen. Der Archäologe wertet das Ergebnis als Hinweis auf einen fundamentalen Wandel: »Erst verbindet der Wein die Menschen, dann trennt er die Elite von den einfachen Kelten.«

Was genau damals passierte, ist noch nicht geklärt, in jedem Fall nehmen die Bezüge zu mediterranen Sitten weiter zu. »Wir finden eine immer deutlichere Orientierung am Süden, ein immer größeres Interesse an mediterranen Lebenspraktiken«, sagt Stockhammer. Sicher ist, dass es einen intensiven Warenaustausch gab, der sogar weiter ging als bis ins antike Griechenland. Im Fürstinnengrab vom Bettelbühl nahe der Heuneburg fand sich ein bronzener Stirnpanzer für ein Pferd. Form und Dekor kennen Archäologen sonst aus dem assyrischen Raum, dem heutigen Nahen Osten. In dem Grab lagen zudem filigrane Goldschmiedearbeiten, die stilistisch etruskischen Stücken aus Italien ähneln. »Die Menschen waren in der Vergangenheit viel vernetzter, als wir lange dachten«, erklärt Stockhammer. »Daher kann ich mir auch vorstellen, dass Herodot die Heuneburg kannte.«