Mittwoch, 17. Juni 2020

Auf dem Weg in den Wächterstaat?

  L. Loeffler, Die fünf Ephoren in Sparta, 1861
aus nzz.ch, 14.06.2020

Sind wir unterwegs zu Platons Wächterstaat?
Endlich können wir unsere heimischen Höhlen verlassen und wieder nach draussen in die Sonne treten. Wenn wir genau hinschauen, erkennen wir in der heutigen Politwelt Dinge, die an Platons «Politeia» erinnern.

von Jan Söffner 

Da ist auf einmal so viel Welt. So viel, dass man sich fragt, ob sie da überhaupt sein soll und ob man selbst sie betreten darf. Zumindest hier, wo ich wohne, ist das so, am Bodensee, der zur Corona-Zeit menschenleer war und nun plötzlich von den saisontypischen Touristen geflutet wurde. Die Zeit der Corona-Lockerungen erinnert mich an Platons Höhlengleichnis: an den lange Gefesselten, der nichts kannte als die auf eine Höhlenwand geworfenen Schatten der wahren Welt – und dann plötzlich nach draussen gelassen wird. Viel zu viel Welt. Er kann sich kaum daran gewöhnen.

Die Stossrichtung dieses Home-Office-Gleichnisses ist allerdings völlig anders als bei Platon. Der Philosoph sah die gewöhnliche Welt des politischen und gesellschaftlichen Alltags als die blossen Schatten an. Was sich mit gelösten Fesseln erschloss, war die Welt der Wahrheit und des Geistes. Was dem lange an die Höhle des Home-Office und die Schatten der Videokonferenzen gefesselten Bodenseeanwohner in Form von Seglern, Paddlern, Schwimmern, Kite-Surfern, vollen Uferpromenaden und Kursschiffen, Cafés und Menschenmassen auf dem Markt entgegenprallt, ist hingegen gerade der leuchtende und überwältigende Alltag. Der Alltag, der hinter einer von Wissenschaftern anhand von Fakten, Berechnungen und gesichertem Wissen geregelten Ordnung verschwunden war.

Platons Höhlengleichnis findet sich im Dialog «Politeia» – meistens übersetzt als «Der Staat», obwohl das Wort eigentlich eher die Ordnung des Staates, die Staatsform bedeutet und der Staat zudem eine Stadt von der Grösse einer heutigen Kleinstadt oder kleinen Mittelstadt war: eine Polis. Die gute Ordnung dieser Polis wollte Platon durch «Wächter» sicherstellen, philosophisch gebildete Wissende, die die Stadt von den Fesseln der blossen politischen Meinungen lösen und zur Sonne des wahren Wissens führen sollten.

Vielleicht hat uns die Corona-Zeit eine Ahnung davon gegeben, wie ein Wächterstaat heute aussehen würde, wenn er wirkliche Staaten umfasste und von der modernen Wissenschaft bestimmt wäre. Darüber nachzu-denken, ist wichtig, denn ein solcher Wächterstaat könnte Schule machen: Am Horizont warten schon neue Krisen – Wirtschaftskrisen, Klimakrisen, Migrationskrisen, Staatskrisen, militärische Konflikte –, und vielleicht liesse sich auch hierauf jeweils mit einer Unterwerfung der Politik unter die wissenschaftliche Vernunft reagieren.

Dieser Weg könnte gegenwärtig umso näher liegen, als diejenigen Staaten, die alternative Lösungen gesucht haben (z. B. Brasilien oder die USA oder anfangs Grossbritannien), dabei eine nicht immer glückliche Figur gemacht haben.

Nur ausführende Organe

Bis jetzt haben sich zwar alle Versuche, Wächterstaaten zu errichten, als Desaster erwiesen – angefangen bei Platons eigenem unrühmlichem Experiment in Syrakus bis zum real existierenden Reißbrett-Sozialismus der UdSSR. Aber vielleicht ist die moderne Wissenschaft mit ihrem enormen digitalen Empowerment ja so weit, dass der Wächterstaat zumindest in Ausnahmesituationen funktionieren könnte: Dann also, wenn einzelne grosse Herausforderungen gemeistert werden müssen – und nicht viele kleine gleichzeitig. Im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte liesse er sich dann vielleicht auch für Letztere einführen.

Um dieses Gedankenspiel zu verfolgen, muss man sich über die Bedeutung der Ausnahmesituation verständigen. Die massgebliche Theorie zum Ausnahmezustand hat der deutsche Rechtsphilosoph Carl Schmitt vor fast hundert Jahren entwickelt. Schmitt machte den Ausnahmezustand zum Ausgangspunkt seiner «Politischen Theologie». Der berühmte erste Satz dieses Werkes lautet: «Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet», das heisst, wer Recht zu setzen und ausser Kraft zu setzen in der Lage ist.

Der Umkehrschluss liegt nahe, dass Ausnahmezustände immer dazu neigen, rechtsstaatliche Regeln ausser Kraft und an ihre Stelle blosse Souveränität zu setzen; tatsächlich wurde Schmitt zu einem entscheidenden Vordenker der Nationalsozialisten, die genau dieses Mittel einsetzten.

Nun erweist sich eine solche Theorie für unsere Situation allerdings zunächst nur als teilweise tauglich. Aus juristischer Perspektive handelt es sich bei den Corona-Verordnungen nicht um einen Ausnahmezustand – die Rechtsordnung ist nicht ausser Kraft gesetzt, sondern es wird lediglich eine Güterabwägung zwischen Grundrechten getroffen.

Doch lässt sich Schmitts Theorie auch politisch weiter auslegen. Der italienische Philosoph Giorgio Agamben argumentierte etwa in seinem Buch «Ausnahmezustand» von 2003, dass auch moderne Demokratien von Ausnahmezuständen bedroht seien, in denen mit ungesetzlichen Gesetzen die Legislative entmachtet und die Exekutiven die Souveränität gewinnen würden. Agamben bezog sich damals auf die Zeit unmittelbar nach dem 11. September 2001. Aber auch die Corona-Massnahmen betrachtete er in diesem Licht und beschrieb eindrücklich, mit welcher Leichtigkeit selbst die elementarsten Rechte geopfert werden konnten.

Allerdings ist auch die Replik des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy ernst zu nehmen, der Agamben entgegenhielt, dass die Regierungen der Gegenwart trotz all ihren Massnahmen nicht die selbsternannten Souveräne, sondern nur die ausführenden Organe der Krise seien: einer Krise der weltweiten Vernetzung von Wirtschaft, Technologie und menschlichem Körper, die sowohl von biologischen Viren als auch von sich viral verbreitenden Nachrichten ausgelöst werde.

Beim gegenwärtigen Ausnahmezustand ist Souveränität also vielleicht gar nicht mehr der entscheidende Punkt. In der Tat scheinen eigentlich nur Verschwörungstheoretiker in den Corona-Massnahmen eine Selbstermächtigung der Exekutiven ausmachen zu können. Und selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie recht hätten mit der Annahme, die gegenwärtigen Massnahmen seien ungerechtfertigt und überzogen, wirkt gerade ihre bewusst oder unbewusst an Schmitt angelehnte Schlussfolgerung gestrig: Dass es sich nämlich bei der freiwilligen Einschränkung ihres Handlungsspielraums und also der Selbst-Unterwerfung unter das Wissen der Epidemiologen in Wahrheit um eine Selbst-Ermächtigung handle, ist fast so absurd wie die Annahme, dass diese Wissenschafter die Handlanger dunkler Mächte seien. 

Plötzlich ist der Staat heilig 

Der Denkfehler liegt in der Übertragung von Schmitts Souveränitätstheorie auf die Gegenwart, für die sie – zumindest in funktionierenden Demokratien – unangemessen ist. Besser zur heutigen Situation passt die Theorie des weitgehend in Vergessenheit geratenen amerikanischen Essayisten Randolph Bourne. Sein (im Titel an Platon erinnerndes) Werk «The State» («Der Staat») ist wie Schmitts «Politische Theologie» als direkte Reaktion auf den Ersten Weltkrieg entstanden, allerdings aus gänzlich anderer Perspektive.

Bourne hatte als Heranwachsender erlebt, wie mit dem Eintritt der USA in den Krieg eine Unmöglichkeit nach der anderen geschah: Die florierende global verflochtene Wirtschaft wurde zugunsten einer nationalistischen geopfert; die Proletarier aller Länder vereinigten sich nicht, sondern schossen einander tot; die humanitäre und humanistische Wissenschaft vergass sich und unterwarf sich einem ihr eigentlich fremden Ziel; die demokratischen Interessen- und Meinungsunterschiede verschwanden, und die plurale Gesellschaft verwandelte sich in eine gigantische Gemeinschaft: den «State», dessen Symbole, Ziele, Interessen auf einmal heilig zu sein schienen.

Diese Beobachtung brachte Bourne zu der Vermutung, dass der Staat in Friedenszeiten eigentlich krank sei und nur in Kriegszeiten gesunde. Bourne erklärte diese Gesundung geschichtlich aus der Herkunft der Staatsgebilde aus Verteidigungsbündnissen. Doch erlaubt die Corona-Erfahrung eine etwas weniger bellizistische Deutung.

Auch am Coronavirus sind schliesslich in Bournes Sinne Staaten «gesundet»: Sie regulierten das öffentliche Leben auf eine Weise, die man ihnen nie zugetraut hatte, ihre Regeln reichten bis in die Familien und die Körpersprache der Menschen hinein, sie regelten Reisen, Kontakte, Zusammenkünfte und Supermarktschlangen. Und ihre Regulierungen wurden auf eine Weise ohne Widerspruch befolgt, wie man dies von pluralen Gesellschaften eigentlich nicht kennt.

Sonne oder Höhle? 

Nüchtern könnte man Bournes «Staat» daher als diejenige Institution verstehen, die zwar weiss, dass Gesellschaften keine Gemeinschaften sind – aber sie trotzdem als solche zu organisieren trachtet. Die inhärente «Krankheit» des Staates beschreibt auch ziemlich genau dasjenige Problem, dem sich Platon in seiner «Politeia» widmete. Bournes «kranker» Staat hadert damit, dass er über die als Gemeinschaft organisierbare Dorfgrösse hinausgewachsen ist. Für Platon war die Polis ein zu plurales, das heisst zu sehr von meist falschen Meinungen und daraus erwachsenden Konflikten beherrschtes Gebilde, das dem einen Wissen und der einen Wahrheit unterworfen und so geeint werden musste.

Insofern erinnert die Art und Weise, in der die Staaten in der frühen Corona-Zeit qua Ausnahmezustand «gesundeten», nun wieder direkt an Platons Wächterstaat: Die Ausnahmemassnahmen verfolgten eine Ausserkraftsetzung der aufklärerischen Allianz von Demokratie und (wissenschaftlicher) Vernunft – und sie brachten Letztere auf Kosten der Ersteren zu Geltung.

Sollte diese Entwicklung anhalten und würde die rationalisierende Form des Ausnahmezustands auch auf Klimakatastrophen, Migrationsnotstände, Wirtschaftskrisen oder geostrategische Probleme übertragen, dann wäre dies ein später Triumph der platonischen Theorie. Umso dringlicher stellte sich aber die Frage, ob man auf diese Weise an die Sonne geführt würde – oder eher in eine neue Höhle.

Jan Söffner ist Professor für Kulturtheorie und Kulturanalyse an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen

Nota. - Was ist der Vorzug der Demokratie vor anderen Regierungsformen?

Wer irgend mit gesundem Menschenverstand (sensus communis) begabt ist, wird auf die Frage Wer soll regieren? un-fehlbar die Antwort geben: der am besten dazu geeignet ist.* Das eigentliche Problem war und bleibt immer: Wer entscheidet darüber, wer die Besten sind - wenn nicht die Besten selber? 

Es ist die Quadratur des Zirkels, landläufig: Die Katze beißt sich in den Schwanz. Denn dass die relativ größere Weisheit stets bei dem relativ größeren Haufen wäre, wird kein verständiger Mann behaupten wollen. Eher darf man annehmen, dass die höhere Weisheit in den meisten Fällen bei einer Minderheit liegt. Das Kreuz ist nur: Man weiß nie im voraus, bei welcher. 

Unter diesen Gesichtspunkten ist die Herrschaft der Volksmehrheit, wie seit Plato bekannt ist, sogar eine ganz besonders unkluge Regierungsform. Sie ist nur dadurch zu rechtfertigen, dass einerseits kein gesellschaftliches Korps a priori zu bevorrechten ist, und dass sie anderersits erlaubt, die Mehrheiten auszuwechseln – so dass Minderheiten ihrerseits an die Macht kommen können. Und dieses dann und darum, wenn und weil sich die bislang machthaben-de Partei als weniger geeignet erwiesen hat, als eine Mehrheit zuvor glaubte: Man kann es mit einer anderen noch einmal versuchen. Die Voraussetzung ist: die Repräsentation der Meinungen durch Parteien, und die Periodizität der Mandate. Und das alles ganz prosaisch und pragmatisch, ohne Glanz und Pathos, weil es sich von allen Regie-rungsformen als die dem Gemeinwohl am wenigsten schädliche bewährt hat. Demokratie ist kein Ideal, sondern das erwiesenermaßen kleinste Übel.

*
 
Das demokratische Gleichheitsgebot beruht nur redensartlich auf den von Gott oder der Natur verliehenen ewig unveräußerlichen Rechten einer jeden Person. Pragmatisch beruht es darauf, dass nach vernünftigen Maßstäben keiner von vornherein einem andern vorgezogen oder ihm hintangesetzt werden kann - und was für die zu Wählen-den gilt, tut es für die Wähler nicht minder.

Und dass ein jeder nach unverkürzter Selbstverwirklichung strebt, ist kein unmittelbarer, sondern erst ein abgeleite-ter Grund politischer Gleichheit. Unmittelbar ist es ein Privatanliegen ohne öffentliche Geltung. Erst wenn man aus anderen, eben: pragmatischen Gründen die demokratische Staatsform als die verhältnismäßig zweckmäßigste schon gewählt hat, kommt sekundär der Gesichtspunkt in Betracht, dass diese Verfahrensweise besser funktioniert, wenn die öffentlichen Angelegenheit von den Staatsbürgern nicht als lästige Pflicht, sondern als ihr ureigenster Beruf angesehen werden. Doch das ist keine Lösung, sondern das Problem selbst. Aber ein politisches Problem und keines der ausgefeilten Verfahrensweise. 

* 

Dieses sind die tatsächlichen, sachlichen Gründe dafür, eine demokratische Staatsverfassung zu wählen. Es sind zugleich die Gründe für die Ausbildung politischer Parteien. Eine Partei ist eine Körperschaft, die vor die Wähler hintritt und sagt: Die Besseren, um euch zu regieren, sind wir. Besser in Hinblick worauf? In Hinblick auf die Kompetenz zur Vertretung. Historisch unterscheidet man zwischen Interessenparteien und Programmparteien. Während die Tories im englischen Unterhaus die Interessen des Hochadels vertraten, sammelten sich bei den Whigs die Vertreter des Kleinadels und des Bürgertums.

Die sozialistischen Parteien traten später als Interessenvertreter der Arbeiterklasse auf, aber zugleich als Reprä-sentanten eines Programms, der Gesellschaft der Freien und Gleichen: Was heute noch unmittelbar Interesse der Arbeiterschaft sei, wären auf lange Sicht die Interessen der Ganzen Menschheit. Und während heute eine Partei die Interessen der Besserverdienenden oder der Hoteliers und der Zahnärzte zu vertreten beansprucht, verschreibt sich eine andere der Bewahrung der Schöpfung und den Anliegen der höheren Staatsdiener und der gebildeten Mittel-schicht. Und schließlich tritt eine Partei auf, die alle konstituierten Interessen als Residuen einer verfließenden industriellen Zivilisation betrachtet und die Ausgestaltung der digitalen Gesellschaft zu ihrem Programm macht – wiederum im Interesse Aller, aber unmittelbar zum Vorteil der kreativen Prekariats in der IT-Branche.**

Doch ob Interesse oder Programm: in jedem Fall vertreten sie, und das ist es, woran sie gemessen zu werden bean-spruchen. Und daran kann man sie messen: nämlich nachdem man sie eine Weile hat agieren sehen. Und aus diesem Grund treten auch in ihrem Innern nicht alle als gleich-berechtigt auf (und lösen einander turnusmäßig bei den leitenden Tätigkeiten ab), sondern der eine oder die andre sagt: Ich kann es besser als dieser oder jener. Besser nämlich in Hinblick auf die Vertretung – der Interessen und des Programms. Und auch das können alle – nämlich alle, die dieser Partei angehören – beurteilen: nachdem man sie eine Weile hat machen lassen.

Nachdem man sich darüber einmal verständigt hat, kommt fernerhin in Betracht, dass sich "ein jeder einbringen kann": nämlich weil es für die Partei besser ist, wenn alle den Parteizweck als ihre ureigenste Sache auffassen können, als wenn nur ein paar die Partei zum Vehikel ihrer persönlich Ambitionen machen.

*

Die praktischen Nutzanwendungen aus alledem ergeben sich wie von selbst.
JE


*) Die kokette Antwort Keine Macht für niemand braucht hier nicht erörtert zu werden, solange sie, nämlich unter sonst unverändert bleibenden Bedingungen, nur die Macht der jeweils Stärkeren bedeutet 
 und wenn es selbst "das Volk" wäre.
**) (geschrieben im Jahre des Herrn 2011)



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