Samstag, 6. Juni 2020

Energetischer Materialismus.

aus FAZ.NET, 29.05.2020

Wie entstehen menschliche Werte? 
Evolution als unsichtbare Hand: Ian Morris betrachtet in seinem neuen Buch die Entwicklung menschlicher Gesellschaften von sehr weit oben. Dabei lässt er nur zwei große geschichtliche Umwälzungen gelten.

Von Uwe Walter

...Durchaus in der Linie älterer Konzepte lässt der Autor nur zwei wirklich bedeutsame Umwälzungen in der Menschheitsgeschichte gelten: Stationäre Agrargesellschaften lösten vor etwa zehntausend Jahren die mobilen Wildbeuter ab, und trotz allen Innovationen, die zumal die handels- und seeorientierten Stadtstaaten der Antike und des Mittelalters oder die frühneuzeitlichen Holländer in Teilen so modern erscheinen lassen, konnte der Wachstumsdeckel von Ackerbau und Viehwirtschaft erst weggesprengt werden, als fossile Brennstoffe die zur Verfügung stehende Energie von acht- bis maximal dreißigtausend Kilokalorien pro Kopf und Tag auf sechs-stellige Größen emportrieben.

Ian Morris: „Beute, Ernte, Öl“. Wie Energiequellen Gesellschaften formen. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020. 432 S., geb., 26,– €. Ian Morris: „Beute, Ernte, Öl“. Wie Energiequellen Gesellschaften formen. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020. 432 S., geb., 26,– €.  

Doch Morris erklärt nun auch provokativ die Wertsysteme der jeweiligen Gesellschaften aus ihren durch die verfügbare Energie bestimmten Lebens-bedingungen. Demnach entwickelten Jäger und Sammler relativ egalitäre Strukturen, ließen wenig Ungleichheit zu, waren aber auch sehr gewalttätig. Dagegen dämmten Agrargesellschaften die Gewalt ein und pflegten steile Hierarchien, von der Sklaverei über die Dominanz des Mannes im Haus bis zum Gottkönig. Fossilenergiegesellschaften schließlich seien im Geschlech-terverhältnis wie in der Politik tendenziell ausgesprochen egalitär und zugleich viel weniger gewalttätig als frühere Formationen. Was sich hier sehr holzschnitt-artig liest, unterfüttert der Autor überzeugend mit einer Fülle von Berechnun-gen und Forschungsergebnissen verschiedener Disziplinen. Zudem entwickelt er seine Thesen durchweg fragend-tentativ, nie dogmatisch, und legt seine Erklärungen in einer klaren, gut lesbaren Prosa dar. 

Hierarchien erzeugen Kopfschütteln

Als unsichtbare Hand wirkt in seinem Modell die Evolution; sie bringt auf der Ebene der Gene, der Individuen, der Familien und der Großgruppen beständig Variationen hervor, die sich je nach ihrem Erfolg durchsetzen oder eben nicht, wobei die kulturelle Auslese prinzipiell ähnlich wirkt wie die natürliche – wenn auch im Bereich der Kultur selbstverständlich immer Gründe zu finden waren und sind, die Altes neben dem besser Angepassten überleben lassen. Wie Morris dabei etwa die Eifersucht als eine evolutionäre Anpassung plausibel macht, das ist schon ein Kabinettstückchen. Die Frage, ob bestimmte Figurationen und Entwicklungsschritte auf Zwang oder freiem Willen beruhten, spielt in diesem Modell keine Rolle. Morris hat in einer Welt, die kaum mehr Wildbeu-ter und Agrarökonomien fast nur noch in einem fossilenergetischen Setting kennt, die Fakten auf seiner Seite.

Auf die fünf Kapitel folgen vier kürzere oder längere Einreden gegen Morris’ Thesen sowie eine ausführliche abschließende Replik darauf. Viel ungeduldiger als gegen den immer möglichen Einwand von Historikern, bei genauerem Hinsehen und aus geringerer Flughöhe ergäben sich Differenzierungen oder sogar möglicherweise falsifizierende Befunde, reagiert der Autor auf die moralphilosophische Kritik, die ihre Gleichheits- und Ge-rechtigkeitspostulate als „wahre moralische Werte“ essentialisiere. Wer Geschichte in der Schule oder an der Universität zu vermitteln sucht, kennt das Problem: Hierarchien jeglicher Art erzeugen überwiegend Kopf-schütteln, ja Abscheu. Und in der Tat waren weder gottgleiche Könige noch männliche Überlegenheit oder geborene Sklaven jemals „real“ oder gar „natürlich“, jedoch auch keine bloße Ideologie der Herrschenden: Weil diese drei Vorstellungen in der bäuerlichen Gesellschaft funktionierten, das heißt zum Gedeihen einer möglichst großen Zahl von Menschen beitrugen, „riet der gesunde Menschenverstand den Menschen, an sie zu glauben und ihre Werte entsprechend anzupassen“.

Es droht die Katastrophe

Die alte historistische Verteidigungslinie, jede Epoche müsse nach ihren eigenen Maßstäben, nicht den unseren beurteilt werden, findet hier Verstärkung durch gänzlich unerwartete Truppen. Auf die Vorhaltung schließlich, nicht die Fossilenergie, sondern der Kapitalismus habe die Wachstumsexplosion seit 1800 ausgelöst, reagiert Morris, indem er auf nicht-kapitalistische (und nichtfreiheitliche) Modernisierungsregime seit 1917 mit teils beachtlichen Wachstumsraten verweist.

Aus der entschiedenen Vogelperspektive der „Big History“ kann die Menschheit freilich eine endliche Phase in der Geschichte der Erde darstellen. In Morris’ Zählung gab es im Laufe der letzten zweitausend Jahre fünf Agrargesellschaften, die experimentierend an die Grenze des in dieser Wirtschaftsform Möglichen stießen, neben den griechischen Stadtstaaten auch das Mittelmeerreich der Römer, doch nur in Nordwesteuropa gelang um 1800 der Durchbruch, als die fossile Energie entfesselt wurde. „Heute gibt es dagegen nur noch ein einziges globales Experiment, und wenn dieses scheitert, droht uns allen die Katastrophe.“

Trotz dieses Satzes werden Klima-Erregte aus der kühlen Rationalität des Buches nur wenig Honig saugen können, und postapokalyptische Szenarien auszumalen, überlässt Morris lieber der Literatur, darunter Margaret Atwood, die unter dem Titel „Wenn die Lichter ausgehen“ einen der Kommentare beigesteuert hat. Seine eigenen Bemerkungen über eine mögliche dystopische Zukunft erweisen eher evolutionären Optimismus: Nützliche Fähigkeiten überleben, unnütze verschwinden, die Menschen verlassen sich auf ihren gesunden Menschenverstand und passen sich und ihre Werte der chaotischen neuen Wirklichkeit an. Kurzum: auch das richtige Buch für lange Covid-19-Abende.

Ian Morris: „Beute, Ernte, Öl“. Wie Energiequellen Gesellschaften formen. Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2020. 432 S., geb., 26,– €.


Nota. - Der Gedanke, dass die politischen und moralischen Verfassungen der Gesellschaften den wirtschaftli-chen Grundlagen entsprächen, auf denen sie beruhten, findet seit dem Zeitalter der Aufklärung immer weitere Zustimmung und wurde seit Adam Smith, der seinen Reichtum der Nationen als Vorarbeit zu einer Weltge-schichte der Kultur konzipiert hatte, zu einem modernen Gemeinplatz. Die materialistische Geschichtsauf-fassung von Marx und Engels baute darauf auf. 

Bei Smith ist die Voraussetzung wachsender Produktivität die wachsende Teilung der Arbeit, aber die Kritik der Politischen Ökonomie stellt dar, dass und wie der Grad der Arbeitsteilung - Klassenverhältnisse, sagen Marx und Engels - ihrerseits vom je erreichten Stand der Produktivkräfte abhängt. Die industrielle Revolution begann mit der Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch die Dampfmaschine - und setzte voraus die massenhafte Förderung von Steinkohle. Noch die Einführung der Elektrizität beruhte auf der Verfeuerung von Kohle, doch mit der Entwicklung von Benzinmotoren trat im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr das Erdöl in den Mittelpunkt. Es ist die große Industrie in ihrem materiellen Bestand, die 'nach 1917' auch nicht-kapitalisitschen Regimen (die heute freilich nicht mehr 'nicht-kapilalistisch' sind) eine Indutrialisierung erlaubt hat, doch eben-dieser materielle Bestand hätte ohne kapitalistische Arbeitsteilung nich akkumuliert werden können.

Ich will dem Rezensenten gerne glauben, dass Morris' Darstellung von Zahlen und anderm empirischen Material strotzt. Gedanklich wäre der Ertrag aber wohl größer geworden, wenn er neben den Produktivkräften auch die Arbeitsteilung alias die Produktionsverhältnisse zum Gegenstand seiner Untersuchungen gemacht hätte. Doch Amerika hätte er auch dann nicht neu entdeckt.
JE

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