Freitag, 26. Juni 2020

Die Hölle, das sind die andern.

Degas
aus nzz.ch,

Wir alle haben Vorurteile – hoffentlich! 
Rassisten sind wir deshalb noch lange nicht
Die Feststellung ist so banal wie unbequem: Menschen könnten ohne Vorurteile nicht leben. Doch nicht jede Schablone ist diskriminierend oder gar rassistisch. Es gilt, genau hinzusehen – und zu unterscheiden.

von Rainer Paris

In heutigen Diskussionen über Migration, «alte weisse Männer» und Co. ist es geradezu en vogue, vieles über einen Kamm zu scheren. Konfusion und Kurzschlüssigkeit beherrschen die Szene, nur so lassen sich Überentschiedenheit und moralische Selbstermächtigung zuverlässig verteidigen.

Wer um jeden Preis stets recht behalten will, tut gut daran, möglichst nicht zu differenzieren und seine Beschränktheit zu pflegen. Tritt dann die Katastrophe ein, ist man bestätigt, bleibt sie aus, hat man erfolgreich gewarnt! Um solchen Vereinfachungen entgegenzuwirken, seien hier einige begriffliche Unterscheidungen vorgenommen.

Typisierung: der erste Eindruck
 
Beginnen wir mit der Einordnung und Verortung nach ethnischer Herkunft. Ist das schon Rassismus – oder mindestens Schubladendenken? Nein. Es geht hier erst einmal um eine ganz normale und im Übrigen unumgängliche Mechanik der Wahrnehmung.

Der soziologische Fachausdruck dafür ist die Typisierung. Wenn Fremde oder Unbekannte einander begegnen, so nehmen sie sich gegenseitig anhand allgemeiner Schemata wahr, die den anderen grob klassifizieren: Alter, Geschlecht, Ethnie, soziale Zugehörigkeit. Das menschliche Sensorium hierfür ist sehr gut ausgebildet. Diese Typisierung nach äusseren offensichtlichen Merkmalen erfolgt sofort, automatisch und intuitiv.

Der erste Eindruck zählt und stellt Weichen, auch wenn er später vielleicht revidiert wird. Mehr noch: Ohne den Mechanismus der Typisierung gibt es keine Möglichkeit, das Bild des anderen nach und nach zu differenzieren und ihn am Ende als unverwechselbares Individuum wahrzunehmen. Die Einordnung des anderen als Typus geht der individuellen Konturierung voraus. Es ist daher unsinnig, jede typisierende Einordnung von vornherein unter Diskriminierungsverdacht zu stellen.

Wie sehr eine Einschätzung auch nach Kriterien der ethnischen Herkunft im Alltag sinnvoll und unerlässlich ist, lässt sich an einer Vielzahl von Beispielen erläutern. Ich erinnere mich an den Blogbeitrag einer ausgewanderten Russin über ihre Erfahrungen mit Annäherungen von Männern in der früheren Sowjetunion. Dort war es für sie wichtig, bei Männern, die sie in Moskau ansprachen, zum Beispiel zwischen Aserbaidschanern und Georgiern deutlich zu unterscheiden: Während die Aserbaidschaner als eher schüchtern und zurückhaltend galten und freundliche Ablehnung daher auch als solche verstanden, interpretierten die Georgier die gleiche Reaktion oftmals als starke Ermunterung, geradezu als Aufforderung zu weiterer Zudringlichkeit.

Um also angemessen reagieren zu können und mögliche Aggressionen in Zaum zu halten, war eine solche Typisierung, und zwar im beiderseitigen Interesse, nötig und sinnvoll. Das Beispiel zeigt, wie notwendig ein gemeinsames Zeichenrepertoire ist, um konfliktreiche Missverständnisse zu vermeiden.

Etikettierung als Festlegung
 
Von der Typisierung als erster kognitiver Einordnung ist die Etikettierung zu unterscheiden. Typisierung ist ein vorläufiges, letztlich fluides Wahrnehmungsmuster, Etikettierung hingegen fixiert den bezeichneten Gegenstand, sei es nun eine Person, eine Gruppe oder ein Sachverhalt.

Etikettieren heisst bezeichnen. Indem wir Dinge oder Personen in bestimmter Weise benennen, nehmen wir nicht nur Klassifizierungen, sondern auch Festlegungen vor. Diese können neutral, aber auch mehr oder minder wertend und abwertend sein, ja es ist geradezu ein Charakteristikum der Wortwahl und Namensgebung, hier mit subtilen Mischungen zu operieren.

Etikettieren ist sprachlich-symbolisches Handeln. Es kann, muss aber nicht die Vorstufe zu praktischer Diskriminierung oder gar Gewalt sein. Wenn jede abwertende Bemerkung oder Äusserung in Gewalt mündete, wäre die Welt ein einziges Schlachtfeld. Wir können nicht nicht bewerten, sonst wären wir vollkommen orientierungslos – wer behauptet, dies sei dennoch möglich, macht es sich zu leicht. Und wir sind auch nicht frei, auf Benennungen und Bezeichnungen zu verzichten – ohne sie wären jeder Austausch und jede Verständigung unmöglich.

Allerdings sagt jede – ohnehin stattfindende – Etikettierung immer auch etwas über den Etikettierenden aus. In den Bezeichnungen, mehr noch in der begleitenden Mimik und Gestik, drücken wir gleichzeitig auch Gefühle, Zu- und Abneigungen aus. Dies zu zensieren und aus politischen oder moralischen Gründen unterbinden zu wollen, ist Ausdruck eines problematischen Menschenbildes: Es unterstellt, Menschen seien Roboter, die sich auf Knopfdruck selbst programmieren und umprogrammieren könnten.

Gewiss sind die sozialen Benennungen und Etiketten stets verankert in gesellschaftlichen Verhältnissen, die sie abbilden und ein Stück weit reproduzieren. Aus diesem Umstand speist sich der Kinderglaube, man könne diese Verhältnisse mit blossen Umetikettierungen von Grund auf verändern und neu gestalten. Tatsächlich aber ist die Sache um einiges komplizierter.

Generell ist es wichtig, sich die Gradualität der mit den jeweiligen Etikettierungen verbundenen Wertungen und Aufladungen klarzumachen. Es gibt stets fliessende Übergänge von schwächeren und stärkeren Ablehnungen, die allerdings von einer bestimmten Schwelle an kaum noch umkehrbar sind. Dies geschieht vor allem im Zuge einer bestimmten Art von kollektiver Selbstbespiegelung, einer gruppengestützten Selbstverhetzung, bei der die negativen Zuschreibungen gegenüber der Fremdgruppe anhand markanter Beispiele ihrer «schlechtesten» Vertreter immer wieder erneuert und radikalisiert werden.

Norbert Elias und John L. Scotson haben diesen Mechanismus der permanenten Selbstbestätigung im Schimpfklatsch gegenüber Zugezogenen und Aussenseitern exemplarisch analysiert: «Diese Pars-pro-Toto-Verzerrung erlaubt es den Etablierten, ihre Glaubensaxiome vor sich und anderen als begründet zu erweisen: Sie haben immer Belege dafür parat, dass die eigene Gruppe ‹gut› ist und die andere ‹schlecht›.»

Stigmatisierende Vorurteile

Nun rühren wir an den heiklen Punkt: Permanente Selbstverhetzung hat Folgen. Sie polt die Wahrnehmung um und verändert die Grammatik des Fühlens. Sie verkleistert die Ohren, die fortan nur noch das hören, was sie hören wollen. Immerzu lauert man auf Stichworte, die es einem gestatten, sich erneut zu entrüsten und die negativen Zuschreibungen zu bestätigen.

Im stigmatisierenden Vorurteil hat sich das Negativbild des anderen irreversibel verfestigt. Er ist nur noch ein Typus ohne individuelle Kontur, ein Repräsentant all derjenigen schlechten Eigenschaften, die mit seiner Gruppe verbunden werden. Dabei kann er im Grunde tun, was er will – nichts wird die anderen von ihrer vorgefassten Meinung über ihn abbringen: Verhält er sich abweisend und aggressiv, so bestätigt dies das Vorurteil; ist er hingegen freundlich und aufgeschlossen, so tarnt er sich nur, denn er ist ja in Wirklichkeit böse.

Gegenerfahrungen lässt das stereotype Vorurteil nicht zu. Wo konkrete Personen oder Bekannte den Zuschreibungen widersprechen, wird dies abgespalten. Dabei ist das Problem nicht das Vorurteil selbst, sondern die Unbeirrbarkeit, die Abschottung gegen jede Erfahrung und jedes Dazulernen. Es ist so stark in negativen Gefühlen und Leidenschaften verankert, dass es zu einem unverrückbaren Teil der eigenen Identität geworden ist und somit niemals infrage gestellt wird.

Dennoch sind auch hier Gewichtung und Einschränkung nötig. Es hat keinen Sinn, das Vorurteil generell zu verdammen. Urteilen und Bewerten sind keine einmaligen Akte, sondern ein Prozess. Wir bilden uns unser Urteil, seine fertige Gestalt schält sich erst aufgrund von Erfahrungen und dem Abwägen von Gründen heraus. Und das bedeutet zugleich: ohne Vor-Urteil kein Urteil. Vorurteile sind daher nicht einfach zu eliminieren, es sind vielmehr die diskursiven Bedingungen dafür zu schaffen, sie revisionsfähig zu halten und zu Urteilen fortentwickeln zu können.

Dass Wahrnehmen, Bezeichnen und Handeln nicht dasselbe sind, sagt einem schon der gesunde Menschen-verstand. Bei der grassierenden Hysterie der Wohlmeinenden scheint das indes vergessen gegangen zu sein. Wenn zwischen Typisierungen, Etikettierungen und praktischen Diskriminierungen kein Unterschied mehr gemacht wird und stattdessen ein grosser ideologischer Brei angerührt wird, hilft das am Ende niemandem. Was stattdessen nottut, sind Augenmass und Differenzierung – und Selbstbesinnung.

Jeder möge sich vor dem Schlafengehen fragen, ob er in seinem täglichen Handeln womöglich zu weit ging. Ob mithin seine Vorurteile ihm andere Menschen näher bringen – oder erst verächtlich machen.

Rainer Paris ist Soziologe und Autor u. a. von «Der Wille des Einen ist das Tun des Anderen. Aufsätze zur Machttheorie» (Velbrück, 2015).


Nota. - Das seien doch alles Plattitüden? Da muss ich Ihnen Recht geben. Aber das macht es nicht überflüssig, sie auszusprechen und nachzudrucken. Es wird genügend Leute geben, die finden, der Autor verharmlose den Rassismus und öffne Vorurteilen aller Art Tür und Tor. Er vertusche den gleitenden Übergang von Mikroag-gressionen zu Menschenjagden und denunziere alle, die den Anfängen wehren. Stattdessen plädiere er für Täterschutz.

Der Aufsatz wird bei denen, an die er sich richtet, wirkungslos vorbeigehen. Wozu taugt er also? Er erinnert sie auf ärgerliche Weise, dass sie... nicht allein sind? Ach, das beklagen sie ja gerade! Aber er erinnert auch uns andere daran, dass wir, allem Keifen und Plärren zum Trotz, nicht allein sind.
JE  

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