Wie der moderne Hyperindividualismus zum Hyperetatismus führt
Weil emanzipierte Menschen nur noch ihresgleichen ertragen, schliessen sie sich zu Minderheiten zusammen, die in Konkurrenz zueinander treten. Der Staat versucht zu regeln – und politisiert den Alltag aller Menschen. Ein Ausweg ist erst mal nicht in Sicht.
Der Mensch der Moderne möchte Individuum sein. Was in früheren Jahrhunderten allenfalls ein paar Aristokra-ten und reichen Bürgern vorbehalten war, ein selbstbestimmtes, autonomes, exzentrisches Leben, ist heute ein Massenphänomen. Innerhalb weniger Jahrzehnte pulverisierten Urbanisierung und Massenwohlstand Jahrhun-derte alte Sozialmilieus mit ihren teilweise strengen Normen, Sitten und Ritualen und eröffneten denjenigen, die es sich leisten konnten, ein bisher ungeahntes Mass an frei bestimmter Lebensführung.
Doch Emanzipationsmöglichkeiten erzeugen auch Emanzipationsstress. Denn jede Frage des Lebensstils, jeder Lebensentwurf will nun genau bedacht sein. Es entsteht das, was der Soziologe Ulrich Beck die postreligiöse Theologisierung des Alltags genannt hat: «Die Entscheidungen der Lebensführung werden ‹vergottet›. Fragen, die mit Gott untergegangen sind, tauchen nun im Zentrum des Lebens neu wieder auf.»
Es gibt keine belanglosen Entscheidungen mehr. Alles wird wichtig und bekommt Bedeutung. Jede Lebenshand-lung hat nun symbolischen Gehalt. Jeder Einkauf, jeder Jobwechsel, jeder Sexualpartner wird zu einem Bekennt-nis für einen bestimmten Lebensentwurf. Das Ich ist sein eigener Erlösergott geworden.
Das Diskriminierungsparadox
Doch Götter reagieren empfindlich auf Kritik. Jeder Tadel, jede Missbilligung ist für sie Häresie. Götter wollen angebetet werden. Das gilt für die Götter archaischer Zeiten, aber auch für die vielen kleinen Millionen Götter der Moderne: Der emanzipierte Individualist unserer Gegenwart will sein Leben radikal autonom führen – und seine Sicht auf sich selbst ist die einzig wahre. Also bitte schön: Die Gesellschaft hat dabei Applaus zu spenden, besser noch Verehrung.
Denn in der Logik des sich selbst verwirklichenden Ichs ist nicht gespendeter Applaus eine Herabsetzung. Der Mensch der Wohlstandsmoderne will daher nicht nur toleriert, er will anerkannt werden, auch wenn die idiosyn-kratischen Produkte seiner Selbstverwirklichung noch so abseitig sind.
Der Like-Button wird zum Sinnbild einer Gesellschaft, in der das Individuum sich nicht damit begnügt, ein autonomes Leben zu leben, sondern Applaus für seinen Lebensstil möchte. Wer diesen Applaus vorenthält, macht sich des denkbar schlimmsten Vergehens in einer Selbstverwirklichungsgesellschaft schuldig: Er diskri-miniert.
Das ist der Grund dafür, dass Diskriminierung auf der Skala sozialer Sünden mittlerweile einen Spitzenplatz einnimmt. Das Ergebnis ist das Diskriminierungsparadox: Das moderne Individuum möchte zwar als das Andere wahrgenommen werden, sonst wäre es ja nicht singulär; wer es jedoch wirklich anders als gewünscht anspricht, macht sich der Diskriminierung schuldig.
Die Erfindung der Minderheit
Doch das Individuum der emanzipatorischen Moderne möchte nicht nur den Applaus der Masse. Als kleiner Selbsterlösungsgott verlangt es nach einer Echokammer, in der den eigenen Idealen im Kreis Gleichgesinnter gehuldigt wird. Es bildet sich eine soziale Gruppe, deren Mitglieder Götter und Klerus in Personalunion sind: die Minderheit. Hier zelebriert man nicht nur die eigenen Lebensideale als Kult, sondern erhebt sich als Ge-meinschaft der Inkarnierten über die Masse. Und das mit Erfolg. Denn in einer Gesellschaft, in der jeder anders sein will, wird die Zugehörigkeit zu einer Minderheit zum Beleg authentischen Selbstseins: Ich bin Minderheit, also bin ich.
Entsprechend wird die Minderheit auch moralisch aufgewertet. Als Produkt des modernen Individualismus übernimmt die Minorität auch dessen moralisches Überlegenheitsbewusstsein. In den Minoritäten und Subkul-turen sammeln sich die Unangepassten und Nonkonformisten und damit die Vorkämpfer eines auch aus ethi-scher Sicht überlegenen Lebensstils.
Als Teil einer Minderheit emanzipiert sich der Einzelne somit nicht nur von der Mehrheitsgesellschaft, er gerät zudem in die moralische Offensive. Seine ganz persönlichen Wünsche werden nun, da Anliegen einer Minder-heit, zu Minderheitenrechten geadelt.
Die Allgegenwart von Minderheitendiskursen in westlichen Gesellschaften hat somit nichts mit dem berechtigen Anliegen des Schutzes von Minderheiten zu tun. Vielmehr geht es darum, das Selbstinszenierungsbedürfnis des nach Sinn und Lebensinhalt suchenden Individuums auf die Ebene moralischer und schliesslich rechtlicher An-sprüche zu heben.
Galten Minderheiten Jahrhunderte lang als moralisch minderwertig, weil sie von der Norm abwichen, so beharr-te die Aufklärung zu Recht darauf, dass aus einer quantitativen Feststellung kein moralisches Urteil folgt. Unter den Bedingungen der Selbstverwirklichungsmoderne schlägt jedoch auch hier Aufklärung in ihr Gegenteil um: Die Minderheit wird nun zum positiven Wert, eben weil sie Minderheit ist.
Die Aufgabe des Staates
Diese Umwertung eines statistischen in einen moralischen Begriff dient auch dazu, quantitative Unterreprä-sentation in Diskriminierung umzudeuten und daraus moralische und rechtliche Ansprüche abzuleiten. Eine Schlüsselstellung kommt dabei dem Staat zu.
War dieser bis Ende des 20. Jahrhunderts Garant allgemeiner liberaler Grundrechte, so verwandelt er sich in der tribalisierten Minderheitengesellschaft zum Sachwalter des Schutzes von Minoritäten und Partialinteressen. Die-se werden umgesetzt, indem der Staat allgemeine Bürgerrechte zurückschraubt: Er verordnet Quoten, greift so in das Eigentumsrecht oder das Wahlrecht ein und versucht, die Sprache zu reglementieren.
Das erklärt, wie der amerikanische Politologe Patrick J. Deneen betont, «warum heutige liberale Staaten – ob in Amerika oder Europa – gleichzeitig dirigistischer und individualistischer geworden sind». Emanzipation und Individualismus erzeugen «einen sich selbst verstärkenden Kreislauf, in dem das zunehmend entwurzelte Indi-viduum den Staat stärkt, der es hervorgebracht hat».
Diese Tendenz wird noch dadurch verstärkt, dass in einer tribalisierten Gesellschaft unterschiedlichste Minder-heiten aufeinandertreffen, die in Konkurrenz um die materiellen und ideellen Ressourcen treten. Dabei ergeben sich zwangsläufig Konflikte zwischen einander widerstreitenden Minderheitsidentitäten.
Um ein prominentes Beispiel zu nehmen: Feministische Emanzipationsvorstellungen treffen auf migrantische Rollenbilder. Dabei prallen vollständig divergierende Wertesysteme aufeinander. Was ist beispielsweise von einer westlich-emanzipierten Muslimin zu halten? Ist sie zu beglückwünschen, weil sie sich aus paternalisti-schen Strukturen befreit hat? Oder unterwirft sie sich eurozentrischen und kapitalistischen Vorstellungen von Selbstbestimmung? Ist das Kopftuch Symbol einer misogynen Kultur oder der Selbstbehauptung gegen west-lichen Kulturimperialismus?
Da diese Konkurrenzsituationen zwischen Minderheitenmilieus nicht ohne Abwertung einer Minderheit auf-lösbar sind und damit der Logik von Minderheitendiskursen widersprechen, kommt letztlich dem Staat und überstaatlichen Institutionen die Aufgabe zu, Konflikte zwischen konkurrierenden Minoritäten zu entschärfen. Dies geschieht, indem die Konflikte zwischen den Minoritäten ursächlich auf die Majorität als Auslöser zurück-geführt werden. Damit wird eine Täter-Opfer-Erzählung etabliert, die nicht nur die Konkurrenz zwischen den Minderheiten entschärft, sondern diese zusätzlich normativ stärkt und die Majorität weiter abwertet.
So schlägt der Gedanken individueller Selbstbestimmung um in sein Gegenteil. Statt im Geiste der Aufklärung das statistische Phänomen der Minderheit von normativen Assoziationen zu befreien, wertet die individuali-stische Selbstverwirklichungsgesellschaft dieses vielmehr moralisch auf.
Die daraus entstehenden Konflikte zwischen verschiedenen Minoritäten sind in einer pluralistischen Gesell-schaft jedoch nur durch einen allmächtigen Regelungsstaat auflösbar. Dessen autoritärer Gestus wird noch dadurch gestärkt, dass er nicht im Namen schlichter Macht agiert, sondern als Hüter der überlegenen Minoritätenmoral.
Der Liberalismus erstickt an seinen eigenen Idealen.
Nota. - Begreiflich gemacht wird nicht viel. Es ist eher eine phänomenale Beschreibung. Doch als eine solche ist sie gut.
Die frenetische Jagd nach zur Identität aufgeblasener öffentlicher Kenntlichkeit ist die Kehrseite dessen, was die Psychoanalytiker in ihrem Jargon Ichschwäche nennen, und verhält sich zum bürgerlichen Postulat des autono-men Subjekts wie die Manie zur Depression: als eine Überkompensation. Anders würde sie sich nicht so leicht in stylishe Kollektivierung fassen lassen - und anders würden sie nicht fortwährend nach der richtenden Hand eines fürsorglichen Staates jammern. Ihr Tätigkeitsmerkmal ist anmahnen und einfordern.
Den Vertretern der Staatsgewalt fallen und springen sie allerdings in den Rücken, denn das wiederum erfordert die sichtbare Kenntlichkeit.
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