Sonntag, 28. Juni 2020

"Europas epochale Chance."

 
aus nzz.ch,

Die Corona-Krise ist für Europa eine epochale Chance.
Wenn es sich zusammenrauft, könnte es zum führenden Global Player des 21. Jahrhunderts werden
Die Corona-Krise hat einer gespaltenen Welt zusätzliche Verwerfungen hinzugefügt. Bereits ist von einem neuen kalten Krieg zwischen den USA und China die Rede. Europa könnte sich als Alternative Geltung verschaffen und zum Träger einer neuen Wachstumserzählung werden.

von Daniel Dettling 

Die Corona-Krise hat gezeigt, was auf dem Spiel stand: der Rückfall in ein Europa der Nationalstaaten mit geschlossenen Grenzen. Doch nach erheblichen Startschwierigkeiten ist die EU nicht an der Krise zerbrochen, sondern hat sich alter und neuer Stärken besonnen. Das europäische Modell hat sich in der Pandemie als widerstandsfähiger und solidarischer erwiesen. Während die USA auf das Modell «Wohlstand ohne Wohlfahrt» und China auf «Wohlstand gegen Wohlverhalten» setzt, heisst der europäische Weg «Wohlstand plus Wohlfühlen». Europa entwickelt mit Corona eine neue geopolitische Identität, auch weil Deutschland seine Interessen in Europa neu definiert. 

Gesundheit als Sicherheitsfrage

Gesundheitsfragen sind Sicherheitsfragen. Gesundheitssicherheit («health security») wird nach Corona zum neuen Staatsziel. Allein national lässt sich öffentliche Gesundheitsfürsorge («public health») nicht mehr organisieren. Gesundheit wird zum Bestandteil der Aussen- und Sicherheitspolitik. Die Konsequenz für Europa ist offensichtlich: Der Kontinent braucht mehr Souveränität auch im Gesundheitsbereich. Dazu gehören eine europäische Seuchenbehörde, eine europäische Impfstoff- und Pandemiestrategie, gut ausgebildetes Gesundheitspersonal, öffentlich-private Partnerschaften mit der Industrie sowie der Austausch von Daten und der Einsatz von digitalen Lösungen.

Kann Europa die «Sprache der Macht»? Dafür muss die EU
über ihren Schatten springen und selbst Hegemon werden.

Gesundheitskrisen überschreiten zunehmend Grenzen und haben das Potenzial, zu wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krisen zu werden. Es geht um die umfassende Resilienz von Staaten und Staatengemeinschaften. Auch für die Nato wird Corona langfristige Folgen auf die geopolitische Weltordnung haben. Während die USA als gespaltenes und dysfunktionales Land angesehen werden, hat China in der Corona-Krise sein autoritäres Gesicht gezeigt. Neben der besseren Vorbereitung auf künftige Pandemien geht es für das Bündnis um die Stärkung der mentalen und sozialen Widerstandsfähigkeit und den Schutz kritischer Infrastrukturen wie Energie, Medizin und Telekommunikation. 

Die Quadratur des Kreises

Die Agenda einer neuen Aussen- und Sicherheitspolitik nach Corona betrifft nicht nur die Gesundheitspolitik. Internationale Beobachter und Strategen sprechen von einem «neuen kalten Krieg», der nach der Pandemie zwischen den USA und China an Dynamik gewinnt. Der frühere Aussenminister Südkoreas Yoon Young Kwan spricht von drei Dimensionen der chinesisch-amerikanischen Rivalität, die miteinander verknüpft sind: einer politisch-militärischen, einer wirtschaftlichen und einer ideologischen.

Europa könnte zum glücklichen Dritten der Auseinandersetzung werden. Statt einer Strategie der «Entkopplung» von China oder der «Entsagung» von den USA sollte Europa bei seiner Politik der «Quadratur des Kreises» (Ralf Dahrendorf) mittels politischer Freiheit, ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit und gesellschaftlicher Solidarität bleiben.

Der neue «Wiederaufbaufonds» der EU-Kommission ist dabei ein starkes Signal. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte nimmt die EU selbst Schulden auf und zahlt Gelder nicht als Kredit, sondern als Zuschuss aus. Der Fonds stellt eine 180-Grad-Wende der bisherigen Politik Deutschlands dar. Angela Merkel will ihre Regierungszeit im nächsten Jahr nicht als schwäbische Hausfrau beenden, sondern als europäische Staatsfrau. Mit dem Wiederaufbaufonds unternimmt die Europäische Union einen qualitativen Sprung zur politischen Union. Der über 750 Milliarden Euro schwere Fonds ist Ausdruck der neuen Einsicht in die Notwendigkeit, dass nicht nur Gesundheit, sondern auch Wettbewerbsfähigkeit und Solidarität sich nur grenzüberschreitend und politisch organisieren lassen.

Kann Europa die «Sprache der Macht» (Ursula von der Leyen)? Dafür muss die Europäische Union über ihren Schatten springen und selbst Hegemon werden. Während China sein Modell des «autoritären Kapitalismus» als angeblich überlegene Alternative zur freiheitlichen liberalen Demokratie vorantreibt und die USA auf das Modell des «monopolistischen Kapitalismus» setzen, kann die europäische Antwort nur in einer Weiterentwicklung ihres Modells der Sozialen Marktwirtschaft bestehen.

Für die Mehrheit der Menschen ausserhalb der europäischen Grenzen ist Europa heute die attraktivste Region der Welt. Nicht nur für Investoren, sondern auch für Touristen und Talente. «Welfare and wellbeing» (Wohlfahrt und Wohlfühlen) ist sein Erfolgsmodell. Wenn die USA nicht mehr Europas Garant in aussen- und sicherheitspolitischen Fragen sein wollen und China es nicht sein soll, muss es für Europa darum gehen, selbst eine Politik der Wehrhaftigkeit und Widerstandsfähigkeit zu entwickeln. In einer neuen Welt der «Deals» zwischen Supermächten wird Europa dealfähig werden müssen. 

Demokratie, Digitalisierung, Dekarbonisierung

In der Welt nach Corona geht es für Europa darum, Demokratie, Digitalisierung und Dekarbonisierung zu einer neuen Machtpolitik zu verbinden. Noch befinden sich fast alle der in Europa genutzten Daten auf amerikanischen oder chinesischen Servern. Die neue Kommission mit Ursula von der Leyen will beide Themen, die Digitalisierung und die Dekarbonisierung der Wirtschaft, zum zentralen Thema für den Wiederaufbau der Wirtschaft nach der Pandemie machen. Mit einem Green Deal soll Europa ökonomisch wettbewerbsfähig und ökologisch nachhaltig werden.

Wir sehr die beiden Megatrends korrelieren, zeigt die Debatte um die Einführung von europäischen Steuern. Intelligent umgesetzt, könnte mit der Kombination von Eigenmitteln in den nächsten dreissig Jahren die Schuldenlast des Wiederaufbauprogramms getilgt werden. Eine CO2-Grenzsteuer und eine stärkere Besteuerung von digitalen Plattformen würden die Transformation hin zu einer klimaneutralen und digitalen Wirtschaft in Europa beschleunigen. Klimaschutz und Digitales gehören zusammen.

Die Nutzung digitaler Dienste und Plattformen verursacht momentan fast vier Prozent aller Treibhausgasemissionen – mehr als doppelt so viel wie die zivile Luftfahrt. Beim Training einer künstlichen Intelligenz zur Spracherkennung fällt beispielsweise fünfmal so viel CO2 an, wie ein Auto während seiner gesamten Lebensdauer emittiert. Durch Cloud-Computing und schnelles Internet (5G) liesse sich der globale Ausstoss von Treibhausgasen erheblich reduzieren. 

Europa als «best place to be»

Ein grünes Internet ist möglich, wenn die Unternehmen zur Nutzung und Produktion von erneuerbaren Energien angehalten werden. Nachhaltigkeit muss auch in der digitalen Wirtschaft zum Mainstream werden. Dazu gehören dezentrale Energienetze, autonome, energieeffiziente Fahrzeuge und eine neue Kreislauf- und Wasserstoffwirtschaft. Digitalisierung und der Green Deal werden zur neuen europäischen Wachstumserzählung im 21. Jahrhundert und zum Ausgangspunkt für Deals zwischen Europa, China und den USA. Europa wird zur Gesundheits-, Klima- und Digitalunion.

Vor fünfzehn Jahren hat der amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin den langsamen Tod des amerikanischen und das Entstehen eines europäischen Traums prognostiziert. Corona hat die Verwirklichung dieses Traums beschleunigt. Pandemie- und Klimaschutz, Digitalisierung und wirtschaftlicher Aufbau werden zum gemeinsamen europäischen Projekt. Europa wird zum «best place to be»: freier als China und solidarischer als die USA.

Daniel Dettling leitet das von ihm gegründete Institut für Zukunftspolitik mit Sitz in Berlin. Soeben ist sein neues Buch erschienen: «Zukunftsintelligenz. Der Corona-Effekt auf unser Leben» (Langen Müller).


Nota. - Lauter fromme Wünsche, ach. 

Doch unter den gegebenen Umständen wäre es ein goßer Sprung nach vorn, wenn Europa sich darüber ver-ständigen wollte, was es wünscht. Dann fiele die Wahl gar nicht so schwer und schienen die Hürden gar nicht mehr so hoch.

JE



Nota - Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE.  

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