Das Ende der Heuchelei
Lange Zeit hat Deutschland seine Macht in Europa
versteckt. Nun übernimmt es die Führung. Ein Gespräch über die
vielleicht wichtigsten Monate in der Geschichte der EU
Interview: Matthias Krupa und Jörg Lau
Im Juli übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Was muss getan werden, um den euro-päischen Zusammenhalt zu wahren? Welche Wahrheiten gehören endlich ausgesprochen? Der nieder-ländische Historiker Luuk van Middelaar und der bulgarische Politologe Ivan Krastev diskutieren über Deutschlands Rolle und die verschiedenen Interessen in Europa.
DIE ZEIT: Europa ringt mit den Folgen der Corona-Pandemie, und ausgerechnet jetzt übernimmt Deutschland für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft. Ist es gut für die Union, wenn Deutschland führt?
Luuk van Middelaar: Vielleicht ist es für beide gut, für die EU und für Deutschland. Die Deutschen verstehen häufig nicht, wie mächtig ihr Land eigentlich ist. Sie neigen dazu, ihre Macht zu verstecken. Jetzt müssen sie für alle sichtbar Verantwortung übernehmen.
Ivan Krastev:
Dies ist eine historische Konstellation, denn wir sind an einem
kritischen Punkt. Die nächsten sechs Monate gehören möglicherweise zu
den wichtigsten in der Geschichte der EU. Da ist es großartig, dass nun
das größte und mächtigste Mitgliedsland dran ist. Die Mehrheit der
Deutschen ist gerade ziemlich zufrieden damit, wie die eigene Regierung
in der Corona-Krise
agiert. Ein solches Einverständnis ist wichtig, wenn die Regierung
etwas Radikales unternehmen will. Es liegt jetzt allein an ihr, ob aus
dem deutschen Moment ein europäischer Moment wird.
Van Middelaar: Im Grunde genommen hat die deutsche Ratspräsidentschaft bereits am 18. Mai begonnen. An dem Tag, an dem Angela Merkel und Emmanuel Macron ihren Plan für einen europäischen Wiederaufbaufonds vorgestellt haben.
Die Kanzlerin ist dabei sehr viel weiter auf Frankreich und andere, vor
allem südeuropäische Länder zugegangen, als es viele selbst in ihrem
eigenen Umfeld erwartet hatten. Sie hat bereits als Ratspräsidentin
agiert und versucht, eine Brücke zwischen Nord- und Südeuropa zu bauen.
ZEIT:
Zum ersten Mal überhaupt soll die EU Schulden aufnehmen, um die
wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise in den Mitgliedsländern zu
bekämpfen. Waren Sie von dieser Initiative überrascht?
Van Middelaar:
Ich war überrascht, wie weit Merkel gesprungen ist. Noch im vergangenen
Jahr, 2019, hatte Deutschland bei den Feiern zum 30. Jahrestag des
Mauerfalls den Status quo zelebriert. Aber Corona hat diesen Status quo
ein für alle Mal beendet. Merkels Initiative nun ist als Sprung
vergleichbar mit ihrer Entscheidung für den Atomausstieg 2011 und ihrem
"Wir-schaffen-das-Moment" 2015.
ZEIT: Die deutsch-französische Initiative kam, kurz nachdem das Bundesverfassungsgericht die Politik der Europäischen Zentralbank und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs infrage gestellt hat.
Van Middelaar:
Man kann diese Initiative als politische Antwort auf das Gerichtsurteil
verstehen. In einem Moment, in dem deutsche Richter die Festigkeit des
Euro in Zweifel ziehen, erneuert Merkel das Bekenntnis Deutschlands zur
EU und zum Euro.
Krastev:
Deutschland hat lange Zeit einen Status quo verteidigt, den es längst
nicht mehr gibt. Dabei war es selbst ein ganz und gar unnormales Land:
politisch stabiler und wirtschaftlich erfolgreicher als die meisten
anderen Länder in der EU. Erst seit der Bundestagswahl 2017 spielt die
AfD eine wichtige politische Rolle. Die Kanzlerin hat nun zwei, drei
wichtige Dinge anerkannt. Wenn der wirtschaftliche Graben zwischen
Deutschland und den südlichen EU-Ländern nach dieser Krise noch größer
wird als nach der Finanzkrise, bedeutete dies das Ende der Union. Denn
die EU basiert auf dem Versprechen an alle Mitgliedsländer, den
Wohlstand aneinander anzugleichen. Außerdem hat sich die öffentliche
Debatte in Deutschland verändert. Es gibt viel mehr Menschen als früher,
die fragen: Brauchen wir wirklich noch die EU? In den ersten Wochen der
Corona-Krise sah es so aus, als sei die EU irrelevant geworden. Auch
darauf hat die Kanzlerin reagiert. Hätte sie es nicht getan, wäre das
deutsch-französische Verhältnis irreparabel zerstört worden.
ZEIT:
Olaf Scholz, der deutsche Finanzminister, hat von einem
"Hamilton-Moment" gesprochen, in Anspielung auf die Geschichte der USA.
Dort bereitete der Beschluss der einzelnen Staaten, gemeinsame Schulden
aufzunehmen, Ende des 18. Jahrhunderts den Boden für die Gründung der
Vereinigten Staaten von Amerika. Erleben wir gerade einen ähnlich
weitreichenden Moment europäischer Integration?
Krastev:
Wir erleben einen Moment der Föderalisierung, obwohl die Begeisterung
für die EU in den meisten Ländern gerade nicht besonders groß ist. Aber
jetzt geht es nicht mehr um irgendeinen europäischen Traum, sondern ums
Überleben. Das haben selbst Regierungen verstanden, die sonst sehr
nationalistisch agieren. Wie sollte etwa Polen wirtschaftlich souverän
agieren ohne die EU? Das geopolitische Umfeld hat sich vollkommen
verändert. Wir Europäer haben in den vergangenen hundert Tagen erlebt,
wie einsam wir geworden sind. Die USA werden von vielen als gebrochenes,
dysfunktionales Land gesehen. Und China hat in der Corona-Krise sein
hässliches Gesicht gezeigt.
Van Middelaar:
Mir fällt auf, dass sich in der deutschen Debatte die Argumente
verändert haben. Die Merkel-Macron-Initiative wird nicht mehr allein
damit begründet, dass man "dem Süden helfen" müsse. Selbst in der
CDU/CSU wird offen über Deutschlands eigene Interessen gesprochen, über
Absatzmärkte und wirtschaftliche Stabilität. Das ist ein wesentlicher
Kontrast dazu, wie Deutschland sich in früheren Krisen verhalten hat.
Deutschland befreit sich gerade von seiner eigenen Heuchelei.
ZEIT: Was genau meinen Sie mit Heuchelei?
Van Middelaar:
Die Heuchelei bestand zum Beispiel darin, dass die deutsche Regierung
in der Euro-Krise nicht zugegeben hat, ihre eigenen Interessen zu
verteidigen. Stattdessen hat sie eine moralische Überlegenheit für sich
in Anspruch genommen und die Griechen als "Sünder" dargestellt. Klar,
die Griechen hatten mehr Geld ausgegeben, als sie besaßen. In
Deutschland wurde aber ausgeblendet, dass die Milliarden-Rettungspakete
auch dazu dienten, deutsche Banken zu retten und den europäischen Markt
zu stabilisieren. Ähnlich, wenn auch etwas komplizierter war es in der
Migrationskrise. Dass die Kanzlerin damals die deutsche Grenze für
Flüchtlinge aus Syrien nicht geschlossen hat, war eine noble Geste.
Dafür hat sie in Europa anfangs viel Applaus bekommen. Aber es wurde
auch registriert, dass Deutschland eine sehr alte Bevölkerung hat und
qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland braucht. Ich halte es für
vollkommen normal, dass Länder in der EU ihre Interessen verfolgen.
Ärgerlich und schwer erträglich wird es aber, wenn diese Interessen
ständig versteckt und moralisch verbrämt werden.
ZEIT: Das ist diesmal anders?
Van Middelaar:
Ja, diesmal erkennt die deutsche Regierung beides an: die Notwendigkeit
zu europäischer Solidarität und die eigenen Interessen. Dadurch gewinnt
sie an Glaubwürdigkeit. Es ist ein Zeichen wachsender Reife dafür, wie
Deutschland mit seiner Macht in der EU umgeht.
Krastev:
Die Corona-Krise revidiert in mancher Hinsicht die drei großen
vorangegangenen Krisen. Zunächst wurden ohne großen Widerstand viele
Freiheiten eingeschränkt, deren Einschränkungen im "Kampf gegen den
Terrorismus" noch höchst umstritten waren. Dann hat das Virus mehr
Grenzen in Europa geschlossen als die Flüchtlingskrise. Aber der
Nationalismus, der dabei zum Vorschein kam, ist ein anderer. In der
Flüchtlingskrise ging es um kulturelle Fragen, die Front verlief
zwischen "uns" und "ihnen". Der Nationalismus war ethnisch motiviert und
hat die Gesellschaften gespalten. Nun erleben wir einen territorialen Nationalismus,
der alle einschließt, die zum Zeitpunkt der Grenzschließungen in den
betroffenen Ländern leben. Dieser "Bleiben Sie zu Hause"-Nationalismus
ist inklusiv, nicht spaltend. Und schließlich sind die wirtschaftlichen
Folgen viel einschneidender als nach der Finanzkrise. Damals lautete die
Hauptbotschaft aus Deutschland: Wir werden keine Schulden
vergemeinschaften, wir wollen keine Transferunion. Nun wird mit
erstaunlicher Leichtigkeit auch in Berlin mit Billionen jongliert.
ZEIT: Es klingt, als könnte diese Krise Wunden heilen, die in früheren Krisen geschlagen wurden. Hat die EU dazugelernt?
Krastev:
Jede Regierung und jedes Land muss jetzt für sich die Frage
beantworten, wie sie in einem viel feindlicheren globalen Umfeld
bestehen will. Bislang spielten die Konflikte in der EU immer zwischen
den Nationalstaaten und Brüssel. Nun ist Brüssel plötzlich gar nicht
mehr so wichtig. Es ist kein Zufall, dass Frankreich und Deutschland die
entscheidende Initiative ergriffen haben, nicht die Kommission.
Van Middelaar:
Mich fasziniert der Wandel der Öffentlichkeit. Die Europäer haben in
den Dramen der vergangenen Jahre gelernt, viel mehr auf ihre
Nachbarländer zu achten. Dadurch ist eine europäische Arena entstanden:
Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte etwa spricht nicht
mehr nur zu seinen Landsleuten; er gibt Interviews in Deutschland und
den Niederlanden und versucht so, auch dort die Öffentlichkeit für sein
Anliegen zu gewinnen. Umgekehrt erklären deutsche Minister in spanischen
oder italienischen Zeitungen ihre Position. Die nationalen Regierungen
haben verstanden, dass sie darauf Rücksicht nehmen müssen, wie sie in
anderen europäischen Ländern wahrgenommen werden.
Krastev:
Ausgerechnet in dem Moment, in dem wir unsere Wohnungen nicht mehr
verlassen durften, sind wir kosmopolitischer geworden als je zuvor. Wir
haben angefangen, in einer Welt zu leben, in der alle mit denselben
Problemen kämpfen. Und die Menschen kontrollieren ihre Regierungen nun,
indem sie sie mit anderen Regierungen vergleichen. Ich war selbst
überrascht, wie sehr die österreichische Entscheidung, Einschränkungen
wieder zurückzunehmen, die Debatte in Deutschland beeinflusst hat. Oder
denken Sie daran, wie aufmerksam plötzlich die Politik der schwedischen
Regierung verfolgt wird.
ZEIT:
Wenn die EU nach außen mehr zusammenstehen muss, um in der globalen
Konkurrenz zu bestehen, was bedeutet das für ihre internen Differenzen?
Etwa für den Umgang mit rechtsstaatlichen Prinzipien oder gemeinsame
Schuldenregeln?
Krastev:
In den bisherigen Krisen gab es stets großen Druck aus Brüssel auf die
Mitgliedsstaaten, Auflagen für finanzielle Hilfen oder die Drohung mit
Rechtsstaatsverfahren. Nun hat die EU ihren Anspruch, die
Mitgliedsstaaten verändern zu wollen, reduziert. Gleichzeitig ist der
Druck auf die nationalen Regierungen größer geworden, trotz ihrer
Differenzen zusammenzuarbeiten. Die Konsolidierung nach außen wird dazu
führen, dass die EU in ihrem Inneren flexibler werden wird.
Van Middelaar:
Wir unterschätzen noch immer, wie radikal sich die EU vor unseren Augen
verändert. Die Union war lange Zeit ein Labor für die Welt, bis weit in
die 1990er-Jahre hinein galt sie als Avantgarde des Weltfriedens. Vor
allem Deutschland hat sich mit dieser Idee sehr identifiziert, um seine
eigene Geschichte zu überwinden. Nun steht fest, dass der Rest der Welt
nicht so werden wird wie Europa. Stattdessen werden wir dazu gezwungen,
uns anzupassen, wenn wir in der Welt von Donald Trump oder Xi Jinping
mitspielen wollen. Das hat Folgen, und Deutschland fällt es besonders
schwer, das zu akzeptieren.
ZEIT: Muss die EU also akzeptieren, dass Regierungen wie in Ungarn oder Polen Rechtsstaat und Demokratie infrage stellen, um gegenüber China oder den USA geschlossen aufzutreten?
Krastev:
Die EU hat sich immer als transformative Kraft verstanden. Nun geht es
nicht mehr darum, Ungarn oder Polen zu verändern, sondern diesen Ländern
zu sagen, unter welchen Bedingungen sie in der Union bleiben können.
Wer etwa am Binnenmarkt teilnehmen will, muss rechtsstaatliche
Voraussetzungen erfüllen. Die EU würde es sicherlich nicht akzeptieren,
wenn in einem Mitgliedsland ein Militärputsch stattfände. Aber wir
werden künftig eine viel größere Toleranz dafür erleben, was als
Ausdruck nationaler Souveränität gilt, solange demokratische Prinzipien
nicht offen infrage gestellt werden.
Van Middelaar:
Für viele Mitgliedsstaaten ist das Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit
konstitutiv, Teil der europäischen Identität. Es kann sein, dass
einzelne Mitgliedsländer diesen Bogen überspannen und es hierüber zum
Bruch kommt, etwa mit Ungarn oder Polen. Durch den geopolitischen Druck
entsteht zudem eine neue Dynamik. Die ungarische Regierung pflegt ein
besonders behagliches Verhältnis zu China und verhindert dadurch oft ein
entschlosseneres Auftreten der EU. Auch deshalb geht die Geduld mit
Budapest zu Ende.
Krastev:
Viktor Orbán hat in der Vergangenheit immer wieder die Grenzen der EU
getestet. Nun gibt es neue Grenzen: Wer die strategischen Interessen der
EU gegenüber China schwächt, muss künftig damit rechnen, dafür bestraft
zu werden. Jedes Land wird so dazu gezwungen, sich zu entscheiden – für
die Gemeinschaft oder für die Einsamkeit. Das gilt nicht nur für
Ungarn. Auch Deutschland muss sich vor Augen führen, inwieweit es die EU
schwächt, wenn ein chinesischer Konzern die Infrastruktur für das neue
Mobilfunknetz 5G baut.
ZEIT:
Angela Merkel hat 15 Jahre lang die europäische Politik geprägt, die
Ratspräsidentschaft ist voraussichtlich ihr letzter großer Auftritt. Was
bedeutet es für die EU, wenn Merkel aufhört?
Van Middelaar: Deutsche Kanzler neigen zu langen Amtszeiten. (lacht)
Deutschland ist in diesen 15 Jahren sehr viel mächtiger geworden,
Angela Merkel hat diese Entwicklung begleitet und gestaltet. Es gibt
keinen anderen nationalen Politiker, der ihre Rolle in dieser Weise
ausfüllen könnte. Wenn sie ausscheidet, wird das für Unruhe in der EU
sorgen. Die anderen werden versuchen, sich zu positionieren, allen voran
der französische Präsident. Aber es wird eine Lücke entstehen. Merkel
selbst will nun beweisen, dass sie mehr ist als eine "Krisenkanzlerin".
Mit der jüngsten deutsch-französischen Initiative hat sie die Tür für
ein geeinteres Europa aufgestoßen.
Krastev:
Bis zum Beginn der Corona-Krise war unklar, worin Merkels Erbe bestehen
würde. Nun hat sie die geopolitische Identität der EU und damit die
deutschen Interessen in Europa völlig neu definiert. Egal wer ihr als
Kanzler nachfolgt, das wird bleiben.
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