Ivan Krastev: Dies ist eine historische Konstellation, denn wir sind an einem kritischen Punkt. Die nächsten sechs Monate gehören möglicherweise zu den wichtigsten in der Geschichte der EU. Da ist es großartig, dass nun das größte und mächtigste Mitgliedsland dran ist. Die Mehrheit der Deutschen ist gerade ziemlich zufrieden damit, wie die eigene Regierung in der Corona-Krise agiert. Ein solches Einverständnis ist wichtig, wenn die Regierung etwas Radikales unternehmen will. Es liegt jetzt allein an ihr, ob aus dem deutschen Moment ein europäischer Moment wird.

Van Middelaar: Im Grunde genommen hat die deutsche Ratspräsidentschaft bereits am 18. Mai begonnen. An dem Tag, an dem Angela Merkel und Emmanuel Macron ihren Plan für einen europäischen Wiederaufbaufonds vorgestellt haben. Die Kanzlerin ist dabei sehr viel weiter auf Frankreich und andere, vor allem südeuropäische Länder zugegangen, als es viele selbst in ihrem eigenen Umfeld erwartet hatten. Sie hat bereits als Ratspräsidentin agiert und versucht, eine Brücke zwischen Nord- und Südeuropa zu bauen.
ZEIT: Zum ersten Mal überhaupt soll die EU Schulden aufnehmen, um die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise in den Mitgliedsländern zu bekämpfen. Waren Sie von dieser Initiative überrascht?

Van Middelaar: Ich war überrascht, wie weit Merkel gesprungen ist. Noch im vergangenen Jahr, 2019, hatte Deutschland bei den Feiern zum 30. Jahrestag des Mauerfalls den Status quo zelebriert. Aber Corona hat diesen Status quo ein für alle Mal beendet. Merkels Initiative nun ist als Sprung vergleichbar mit ihrer Entscheidung für den Atomausstieg 2011 und ihrem "Wir-schaffen-das-Moment" 2015.

ZEIT: Die deutsch-französische Initiative kam, kurz nachdem das Bundesverfassungsgericht die Politik der Europäischen Zentralbank und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs infrage gestellt hat.

Van Middelaar: Man kann diese Initiative als politische Antwort auf das Gerichtsurteil verstehen. In einem Moment, in dem deutsche Richter die Festigkeit des Euro in Zweifel ziehen, erneuert Merkel das Bekenntnis Deutschlands zur EU und zum Euro.
Krastev: Deutschland hat lange Zeit einen Status quo verteidigt, den es längst nicht mehr gibt. Dabei war es selbst ein ganz und gar unnormales Land: politisch stabiler und wirtschaftlich erfolgreicher als die meisten anderen Länder in der EU. Erst seit der Bundestagswahl 2017 spielt die AfD eine wichtige politische Rolle. Die Kanzlerin hat nun zwei, drei wichtige Dinge anerkannt. Wenn der wirtschaftliche Graben zwischen Deutschland und den südlichen EU-Ländern nach dieser Krise noch größer wird als nach der Finanzkrise, bedeutete dies das Ende der Union. Denn die EU basiert auf dem Versprechen an alle Mitgliedsländer, den Wohlstand aneinander anzugleichen. Außerdem hat sich die öffentliche Debatte in Deutschland verändert. Es gibt viel mehr Menschen als früher, die fragen: Brauchen wir wirklich noch die EU? In den ersten Wochen der Corona-Krise sah es so aus, als sei die EU irrelevant geworden. Auch darauf hat die Kanzlerin reagiert. Hätte sie es nicht getan, wäre das deutsch-französische Verhältnis irreparabel zerstört worden.

ZEIT: Olaf Scholz, der deutsche Finanzminister, hat von einem "Hamilton-Moment" gesprochen, in Anspielung auf die Geschichte der USA. Dort bereitete der Beschluss der einzelnen Staaten, gemeinsame Schulden aufzunehmen, Ende des 18. Jahrhunderts den Boden für die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika. Erleben wir gerade einen ähnlich weitreichenden Moment europäischer Integration?

Krastev: Wir erleben einen Moment der Föderalisierung, obwohl die Begeisterung für die EU in den meisten Ländern gerade nicht besonders groß ist. Aber jetzt geht es nicht mehr um irgendeinen europäischen Traum, sondern ums Überleben. Das haben selbst Regierungen verstanden, die sonst sehr nationalistisch agieren. Wie sollte etwa Polen wirtschaftlich souverän agieren ohne die EU? Das geopolitische Umfeld hat sich vollkommen verändert. Wir Europäer haben in den vergangenen hundert Tagen erlebt, wie einsam wir geworden sind. Die USA werden von vielen als gebrochenes, dysfunktionales Land gesehen. Und China hat in der Corona-Krise sein hässliches Gesicht gezeigt.

Van Middelaar: Mir fällt auf, dass sich in der deutschen Debatte die Argumente verändert haben. Die Merkel-Macron-Initiative wird nicht mehr allein damit begründet, dass man "dem Süden helfen" müsse. Selbst in der CDU/CSU wird offen über Deutschlands eigene Interessen gesprochen, über Absatzmärkte und wirtschaftliche Stabilität. Das ist ein wesentlicher Kontrast dazu, wie Deutschland sich in früheren Krisen verhalten hat. Deutschland befreit sich gerade von seiner eigenen Heuchelei.

ZEIT: Was genau meinen Sie mit Heuchelei?

Van Middelaar: Die Heuchelei bestand zum Beispiel darin, dass die deutsche Regierung in der Euro-Krise nicht zugegeben hat, ihre eigenen Interessen zu verteidigen. Stattdessen hat sie eine moralische Überlegenheit für sich in Anspruch genommen und die Griechen als "Sünder" dargestellt. Klar, die Griechen hatten mehr Geld ausgegeben, als sie besaßen. In Deutschland wurde aber ausgeblendet, dass die Milliarden-Rettungspakete auch dazu dienten, deutsche Banken zu retten und den europäischen Markt zu stabilisieren. Ähnlich, wenn auch etwas komplizierter war es in der Migrationskrise. Dass die Kanzlerin damals die deutsche Grenze für Flüchtlinge aus Syrien nicht geschlossen hat, war eine noble Geste. Dafür hat sie in Europa anfangs viel Applaus bekommen. Aber es wurde auch registriert, dass Deutschland eine sehr alte Bevölkerung hat und qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland braucht. Ich halte es für vollkommen normal, dass Länder in der EU ihre Interessen verfolgen. Ärgerlich und schwer erträglich wird es aber, wenn diese Interessen ständig versteckt und moralisch verbrämt werden.

ZEIT: Das ist diesmal anders?

Van Middelaar: Ja, diesmal erkennt die deutsche Regierung beides an: die Notwendigkeit zu europäischer Solidarität und die eigenen Interessen. Dadurch gewinnt sie an Glaubwürdigkeit. Es ist ein Zeichen wachsender Reife dafür, wie Deutschland mit seiner Macht in der EU umgeht.

Krastev: Die Corona-Krise revidiert in mancher Hinsicht die drei großen vorangegangenen Krisen. Zunächst wurden ohne großen Widerstand viele Freiheiten eingeschränkt, deren Einschränkungen im "Kampf gegen den Terrorismus" noch höchst umstritten waren. Dann hat das Virus mehr Grenzen in Europa geschlossen als die Flüchtlingskrise. Aber der Nationalismus, der dabei zum Vorschein kam, ist ein anderer. In der Flüchtlingskrise ging es um kulturelle Fragen, die Front verlief zwischen "uns" und "ihnen". Der Nationalismus war ethnisch motiviert und hat die Gesellschaften gespalten. Nun erleben wir einen territorialen Nationalismus, der alle einschließt, die zum Zeitpunkt der Grenzschließungen in den betroffenen Ländern leben. Dieser "Bleiben Sie zu Hause"-Nationalismus ist inklusiv, nicht spaltend. Und schließlich sind die wirtschaftlichen Folgen viel einschneidender als nach der Finanzkrise. Damals lautete die Hauptbotschaft aus Deutschland: Wir werden keine Schulden vergemeinschaften, wir wollen keine Transferunion. Nun wird mit erstaunlicher Leichtigkeit auch in Berlin mit Billionen jongliert.

ZEIT: Es klingt, als könnte diese Krise Wunden heilen, die in früheren Krisen geschlagen wurden. Hat die EU dazugelernt?

Krastev: Jede Regierung und jedes Land muss jetzt für sich die Frage beantworten, wie sie in einem viel feindlicheren globalen Umfeld bestehen will. Bislang spielten die Konflikte in der EU immer zwischen den Nationalstaaten und Brüssel. Nun ist Brüssel plötzlich gar nicht mehr so wichtig. Es ist kein Zufall, dass Frankreich und Deutschland die entscheidende Initiative ergriffen haben, nicht die Kommission.

Van Middelaar: Mich fasziniert der Wandel der Öffentlichkeit. Die Europäer haben in den Dramen der vergangenen Jahre gelernt, viel mehr auf ihre Nachbarländer zu achten. Dadurch ist eine europäische Arena entstanden: Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte etwa spricht nicht mehr nur zu seinen Landsleuten; er gibt Interviews in Deutschland und den Niederlanden und versucht so, auch dort die Öffentlichkeit für sein Anliegen zu gewinnen. Umgekehrt erklären deutsche Minister in spanischen oder italienischen Zeitungen ihre Position. Die nationalen Regierungen haben verstanden, dass sie darauf Rücksicht nehmen müssen, wie sie in anderen europäischen Ländern wahrgenommen werden.

Krastev: Ausgerechnet in dem Moment, in dem wir unsere Wohnungen nicht mehr verlassen durften, sind wir kosmopolitischer geworden als je zuvor. Wir haben angefangen, in einer Welt zu leben, in der alle mit denselben Problemen kämpfen. Und die Menschen kontrollieren ihre Regierungen nun, indem sie sie mit anderen Regierungen vergleichen. Ich war selbst überrascht, wie sehr die österreichische Entscheidung, Einschränkungen wieder zurückzunehmen, die Debatte in Deutschland beeinflusst hat. Oder denken Sie daran, wie aufmerksam plötzlich die Politik der schwedischen Regierung verfolgt wird.

ZEIT: Wenn die EU nach außen mehr zusammenstehen muss, um in der globalen Konkurrenz zu bestehen, was bedeutet das für ihre internen Differenzen? Etwa für den Umgang mit rechtsstaatlichen Prinzipien oder gemeinsame Schuldenregeln?

Krastev: In den bisherigen Krisen gab es stets großen Druck aus Brüssel auf die Mitgliedsstaaten, Auflagen für finanzielle Hilfen oder die Drohung mit Rechtsstaatsverfahren. Nun hat die EU ihren Anspruch, die Mitgliedsstaaten verändern zu wollen, reduziert. Gleichzeitig ist der Druck auf die nationalen Regierungen größer geworden, trotz ihrer Differenzen zusammenzuarbeiten. Die Konsolidierung nach außen wird dazu führen, dass die EU in ihrem Inneren flexibler werden wird.

Van Middelaar: Wir unterschätzen noch immer, wie radikal sich die EU vor unseren Augen verändert. Die Union war lange Zeit ein Labor für die Welt, bis weit in die 1990er-Jahre hinein galt sie als Avantgarde des Weltfriedens. Vor allem Deutschland hat sich mit dieser Idee sehr identifiziert, um seine eigene Geschichte zu überwinden. Nun steht fest, dass der Rest der Welt nicht so werden wird wie Europa. Stattdessen werden wir dazu gezwungen, uns anzupassen, wenn wir in der Welt von Donald Trump oder Xi Jinping mitspielen wollen. Das hat Folgen, und Deutschland fällt es besonders schwer, das zu akzeptieren.

ZEIT: Muss die EU also akzeptieren, dass Regierungen wie in Ungarn oder Polen Rechtsstaat und Demokratie infrage stellen, um gegenüber China oder den USA geschlossen aufzutreten?

Krastev: Die EU hat sich immer als transformative Kraft verstanden. Nun geht es nicht mehr darum, Ungarn oder Polen zu verändern, sondern diesen Ländern zu sagen, unter welchen Bedingungen sie in der Union bleiben können. Wer etwa am Binnenmarkt teilnehmen will, muss rechtsstaatliche Voraussetzungen erfüllen. Die EU würde es sicherlich nicht akzeptieren, wenn in einem Mitgliedsland ein Militärputsch stattfände. Aber wir werden künftig eine viel größere Toleranz dafür erleben, was als Ausdruck nationaler Souveränität gilt, solange demokratische Prinzipien nicht offen infrage gestellt werden.

Van Middelaar: Für viele Mitgliedsstaaten ist das Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit konstitutiv, Teil der europäischen Identität. Es kann sein, dass einzelne Mitgliedsländer diesen Bogen überspannen und es hierüber zum Bruch kommt, etwa mit Ungarn oder Polen. Durch den geopolitischen Druck entsteht zudem eine neue Dynamik. Die ungarische Regierung pflegt ein besonders behagliches Verhältnis zu China und verhindert dadurch oft ein entschlosseneres Auftreten der EU. Auch deshalb geht die Geduld mit Budapest zu Ende.

Krastev: Viktor Orbán hat in der Vergangenheit immer wieder die Grenzen der EU getestet. Nun gibt es neue Grenzen: Wer die strategischen Interessen der EU gegenüber China schwächt, muss künftig damit rechnen, dafür bestraft zu werden. Jedes Land wird so dazu gezwungen, sich zu entscheiden – für die Gemeinschaft oder für die Einsamkeit. Das gilt nicht nur für Ungarn. Auch Deutschland muss sich vor Augen führen, inwieweit es die EU schwächt, wenn ein chinesischer Konzern die Infrastruktur für das neue Mobilfunknetz 5G baut.

ZEIT: Angela Merkel hat 15 Jahre lang die europäische Politik geprägt, die Ratspräsidentschaft ist voraussichtlich ihr letzter großer Auftritt. Was bedeutet es für die EU, wenn Merkel aufhört?

Van Middelaar: Deutsche Kanzler neigen zu langen Amtszeiten. (lacht) Deutschland ist in diesen 15 Jahren sehr viel mächtiger geworden, Angela Merkel hat diese Entwicklung begleitet und gestaltet. Es gibt keinen anderen nationalen Politiker, der ihre Rolle in dieser Weise ausfüllen könnte. Wenn sie ausscheidet, wird das für Unruhe in der EU sorgen. Die anderen werden versuchen, sich zu positionieren, allen voran der französische Präsident. Aber es wird eine Lücke entstehen. Merkel selbst will nun beweisen, dass sie mehr ist als eine "Krisenkanzlerin". Mit der jüngsten deutsch-französischen Initiative hat sie die Tür für ein geeinteres Europa aufgestoßen.

Krastev: Bis zum Beginn der Corona-Krise war unklar, worin Merkels Erbe bestehen würde. Nun hat sie die geopolitische Identität der EU und damit die deutschen Interessen in Europa völlig neu definiert. Egal wer ihr als Kanzler nachfolgt, das wird bleiben.