Denis Diderot, Herausgeber der Enyclopédie, 1767
Aufklärung heisst nicht einfach Glaube an die Wissenschaft
In
Krisenzeiten beschwören plötzlich alle ihren wissenschaftlichen
Rationalismus. Doch diese simple Deutung geht am kritischen Denken der
Aufklärer vorbei.
Aber
war Voltaire wirklich allein auf exakte wissenschaftliche Ergebnisse
fokussiert? Nein: Sein Denken, wie das der meisten Aufklärer, enthielt
keine radikale Neuausrichtung auf der Grundlage neuer wissenschaftlicher
Erkenntnismethoden, sondern den Versuch einer Synthese zwischen antiken
und modernen Philosophen, zwi-schen Erkenntnissen der
Naturwissenschafter und Mathematiker und dem Wissen der Dichter,
Reisenden und vor allem der Historiker. Im Ringen um «die beste aller
möglichen Welten» war Voltaire wie sein Romanheld Candide viel
unterwegs, aber im Gegensatz zu diesem war seine Philosophie nicht von
albernem Optimismus getragen. Vielmehr war sie eines: kritisch.
Kritik am Absolutismus
Kritik am Absolutismus
1726 ging Voltaire für zwei Jahre nach England ins Exil, nach einem zweiten Aufenthalt in der Bastille, dem berühmten Gefängnis des Ancien Régime. Sein Vergehen bestand in der Brüskierung eines wichtigen Mannes am französischen Hof. In seinen «Lettres philosophiques» (1734) lobt er rückblickend das freie Land, in dem er Zuflucht gefunden hatte. Neben der religiösen Toleranz und der Macht des Parlaments gefiel ihm die Autorität, die Experten in dem Land genossen.
In London entdeckt Voltaire die empirische Philosophie, die sich nicht so sehr für abstrakte Systeme, die Mes-sung der Sterne oder Theorien über Wirbelwinde interessiert, sondern sich der Analyse von Naturphänomenen und der Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen widmet. Er preist den «Kompass von Newton», der «den Schleier» der Unkenntnis lüftet, und auch eine Medizin, die im Bereich Pockenimpfung erfolgreich expe-rimentiert. Selbst die Königsfamilie liess ihre Kinder impfen!
In seinen Briefen aus England entwickelt Voltaire die Vision einer aufgeklärten, toleranten und wissensorien-tierten Gesellschaft. Die Literatur des 18. Jahrhunderts ist reich an phantasierten nahen und fernen «Anders-wos», die als Denkmodelle ihr polemisches Potenzial entfalten. Ähnlich wie Montesquieus «Lettres persanes» (1721) sind Voltaires «Lettres philosophiques» vor allem eine Kritik des Absolutismus in seinem eigenen Land, mit seinem religiösen Fanatismus, seinem Hang zum Obskurantismus, den Privilegien des Adels. Sein ideali-siertes Englandbild dient nur einem Zweck: die Causa der Aufklärung im eigenen Land voranzutreiben.
In Krisenzeiten wird die Philosophie der Aufklärung zu einem Slogan, hinter dem man sich gern versammelt. Nach dem Attentat auf die französische Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» 2015 wurde Voltaires «Traité sur la tolérance» (1763) zum Kassenschlager. In der Einführungsrede nach seiner Wahl am 7. Juni 2017 beschwor der französische Präsident Emmanuel Macron feierlich «den Geist der Aufklärung». Auch in den Vereinigten Staa-ten ist nach Trumps Wahl die Aufklärung zu einem Kampfbegriff geworden.
Der Bestseller von Steven Pinker «Enlightenment Now. The Case for Reason, Science, Humanism, and Pro-gress» von 2018 ist dafür ein Paradebeispiel. Der Autor wendet sich gegen einen Diskurs, der der Wissenschaft ihre Bedeutung abspricht. Schon der Buchdeckel der Taschenbuchausgabe spricht Bände: eine Caspar-David-Friedrich-Szenerie mit dramatischer Meereslandschaft, eine Welle kurz vor dem Brechen, ein nicht weniger be-drohlicher dunkler Himmel, darüber in grossen Lettern der Titel, der einen Ausweg aus der Situation verspricht: «Enlightenment Now».
Mit unterstützenden Daten, statistischen Modellen und Grafiken demonstriert Pinker den Erfolg der Aufklärung, die er mit Rationalismus und wissenschaftlichem Fortschritt gleichsetzt. Mit einem solchen Rückgriff wird die Philosophie der Aufklärung auf ein monolithisches philosophisches System reduziert. Das erstaunt, denn es lässt unbeachtet, dass die Aufklärung eine sehr pluralistische Geistesbewegung war. Dies haben Historiker verschie-dener Kultur- und Sprachräume schon seit den 1950er Jahren herausgearbeitet.
Fakten und Daten reichen nicht
Wie ein Fanal gegen eine solche Vereinfachung wirkt das kürzlich erschienene Buch des Historikers Antoine Lilti: «L’héritage des Lumières. Ambivalences de la modernité» (2019). Es handelt sich nicht um ein weiteres Manifest, sondern um ein geistes- und sozialgeschichtliches Essay. Der Autor geht auf die Bedeutung des Erbes der Aufklärung für unsere Moderne ein, speziell auf die Geschichte der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg.
Er definiert sie als eine komplexe, polyfone und zutiefst reflexive intellektuelle Bewegung. Seit die Gebeine Voltaires und Rousseaus 1791 in das Panthéon übergeführt worden sind, wo sie heute noch ruhen, wurde die Aufklärung von Verteidigern und Kritikern gleichermassen stark vereinfacht und zu einer simplen Entschei-dungsfrage degradiert: dafür oder dagegen.
Die Aufklärung wurde nicht nur von einer rationalistischen und empirischen Philosophie genährt, die mit Fakten, Daten und Grafiken die Welt erklärt und weiss, wo es langgeht. Sie ist vielmehr ein Vermächtnis der Skepsis, das von der Kenntnis der Vergangenheit geprägt ist und aus ihr die Fähigkeit schöpft, über die Ge-genwart nachzudenken.
Zwar gab es im 18. Jahrhundert auch Vertreter eines unbeirrten Fortschrittsglaubens. Der Marquis de Condorcet etwa, der während der Terreur Robespierres unter der Guillotine endete, schrieb 1792 eine «Esquisse d’un ta-bleau historique des progrès de l’esprit humain», in der er die wichtigsten Etappen des menschlichen Fortschritts durch die Entwicklung der Wissenschaft nachzeichnete. Für ihn war es die Aufgabe des Wissenschafters, die Wahrheit zu suchen, die aufgeklärte Regierungen als Quelle des öffentlichen Glücks umzusetzen hatten.
Aber ein solches objektivierbares Verständnis von Wissenschaft und auch von Geschichte lag den bedeutendsten Denkern der Aufklärung vollkommen fern: Von Montesquieu bis Rousseau und auch bei Voltaire wird die Auf-klärung von einer Strömung skeptischen, humanistischen und besorgten Denkens vorangetrieben. Auf der Suche nach «der besten aller möglichen Welten» ist die Fähigkeit entscheidend, über sich selbst als Epoche kritisch nachzudenken und Debatten zu führen, die möglichst alle einbeziehen. Auch heute sollten wir im Ringen um die beste Bewältigung der derzeitigen Krise nicht ausschliesslich den Epidemiologen das Wort überlassen.
Vanessa de Senarclens ist Privatdozentin für Romanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und unterrichtet zurzeit die Literatur der französischen Aufklärung als Gastprofessorin am Jakob-Fugger-Zentrum in Augsburg.
Nota. - Der von Diderot um die Encyclopédie gesammelte Stoßtrupp der Aufklärung hieß im damaligen Frankreich nicht les scientifiques, sondern les philosophes.
JE
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen