Montag, 15. Juni 2020

Wieviele Leben werden gerettet?

Quentin de Metsys
aus welt.de, 15. 6. 2020

Shutdown rettete Millionen – 
aber senkt unsere Lebenserwartung erheblich
Der Lockdown hat gewirkt und Leben gerettet. Doch weil Wachstum und Lebenserwartung eng zusammenhängen, hat der Stillstand massive Folgen. Eine ökonomische Analyse kommt zu dem Schluss, dass der Lockdown deutlich mehr Leben kostet, als bewahrt. 

Von Dorothea Siems

Die Maßnahmen, die in Deutschland und anderen Staaten in den vergangenen Wochen gegen die Ausbreitung der Pandemie ergriffen wurden, haben Millionen Covid-19-Infektionen und Todesfälle verhindert. Dies zeigen zwei Studien renommierter Forschungseinrichtungen aus den USA und Großbritannien, über deren Ergebnisse das Wissenschaftsmagazin „Nature“ berichtet.

Ohne den Lockdown mit weitreichenden Kontaktverboten und der Schließung von Schulen, Betrieben und nationalen Grenzen hätte es allein in elf europäischen Staaten – darunter Deutschland, Italien, Großbritannien und Spanien – 3,1 Millionen Corona-Tote mehr gegeben, so das Fazit der britischen Forschergruppe vom Imperial College London. Und die amerikanischen Wissenschaftler von der Universität Berkeley, die den Pandemieverlauf in sechs Ländern (China, USA, Frankreich, Italien, Südkorea und dem Iran) analysiert haben, kommen allein für diese Staaten auf 530 Millionen verhinderter Infektionen.

„Ich denke, kein anderes menschliches Unterfangen hat jemals in so kurzer Zeit so viele Leben gerettet“, lautet das Fazit von Studienleiter Solomon Hsiang von der Universität Berkeley. Denn die tatsächlichen Corona-Zahlen liegen weit niedriger: Registriert wurden bislang weltweit rund 7,6 Millionen Covid-19-Infizierte und etwa 430.000 Menschen, die an oder mit dem Virus gestorben sind.

Das Bild von der segensreichen Wirkung der tief greifenden Corona-Beschränkungen ist nicht falsch – aber unvollständig. Denn die politisch verordnete Vollbremsung der Wirtschaft hat nicht nur ökonomisch enorme negative Auswirkungen.

Sie reduziert auch ganz erheblich die Lebenserwartung in der Bevölkerung. Dies zeigen Berechnungen des Finanzwissenschaftlers Bernd Raffelhüschen von der Universität Freiburg, die WELT exklusiv vorliegen.

„Unter dem Strich kostet der Wachstumseinbruch deutlich mehr Lebensjahre, als wir bewahren konnten“, sagt der Ökonom. „Verlierer sind wir alle, die Jungen mehr, die Alten weniger.“ Insgesamt seien die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie deshalb unverhältnismäßig gewesen.

Dabei stellt der Leiter des Forschungszentrums Generationenverträge überhaupt nicht infrage, dass durch den Lockdown die Zahl der Corona-Toten in Deutschland vergleichsweise niedrig gehalten wurde. Bislang wurden hierzulande rund 186.000 Infektionen festgestellt, fast 8800 Menschen sind gestorben. Hätte man stattdessen wie Schweden auf die umfassenden Kontaktbeschränkungen und Schließungen verzichtet, läge die Zahl der an oder mit dem neuartigen Virus Verstorbenen schon jetzt fast fünf Mal höher.

Diese Größenordnung ergibt sich, wenn man die schwedischen Mortalitätszahlen auf die Bundesrepublik überträgt. Und die Differenz zwischen diesem „Laissez-faire-Szenario“ und der tatsächlich in Deutschland zu erwartenden Entwicklung, dem „Status-quo-Szenario“, würde in den kommenden Wochen immer größer.

Das zeigt die Projektion der Todesfälle für beide Szenarien, die Raffelhüschen auf Basis von Daten des Robert-Koch-Instituts, der Johns-Hopkins-Universität und des Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME) der Universität Washington erstellt hat. Insgesamt hat der Lockdown nach diesen Berechnungen rund 60.000 Corona-Todesfälle verhindert.



„Fakt ist, dass keine Regierung der Welt imstande ist, Leben zu retten – wir können nur Leben verlängern oder verkürzen“, betont der Ökonom im Gespräch mit WELT. Eine verhinderte Erkrankung bedeutet mehr Lebenszeit. Die Pandemie stellt vor allem für Hochbetagte ein mitunter tödliches Risiko dar.

Das Durchschnittsalter der mit Covid-19 Verstorbenen liegt bei knapp 81 Jahren. Berücksichtigt man zudem, dass es vor allem Menschen mit Vorerkrankungen sind, die eine Infektion nicht überstehen, reduziert sich die gewonnene Lebensspanne noch einmal erheblich von durchschnittlich 9,2 auf 2,9 Jahre pro verhinderten Todesfall.

Somit werden pro verhinderten Todesfall im Durchschnitt auch nur einige Jahre verbleibende Lebenszeit „gerettet“. Insgesamt hat Deutschland nach Raffelhüschens Berechnung durch den Lockdown maximal 557.000 Lebensjahre gewonnen. Kalkuliert man den Aspekt der Vorerkrankungen ein, kommt man auf knapp das Minimum von 180.000 gewonnenen Lebensjahren.

Schrumpfung des BIP kostet auch Leben
 
Der Ökonom macht aber noch eine andere Rechnung auf. Denn auch die Schrumpfung des Bruttoinlandspro-dukts (BIP) habe Auswirkungen auf Lebenserwartung – und zwar der gesamten Bevölkerung. „Eine einprozen-tige BIP-Veränderung führt zu einer Veränderung der Lebenserwartung um fast einen Monat, genau um 0,89 Monate“, sagt Raffelhüschen.

Dies zeige die langfristige Entwicklung des realen BIP pro Kopf in Deutschland, die seit den 50er-Jahren mit einem stetigen Anstieg der Lebenserwartung einhergehe. Die entsprechenden Berechnungen des Forschungs-zentrums Generationenverträge basieren auf Daten des Statistischen Bundesamtes.

 
„Fakt ist, dass mit einem Einbruch des BIP nicht nur das Wohlstandsniveau sinkt, sondern auch der Anstieg der Lebenserwartung der Bevölkerung mindestens gebremst wird, sie unter Umständen sogar sinken könnte“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler.

Der Grund für die enge Korrelation von Wirtschaftswachstum und steigender Lebenserwartung sei die Tatsache, dass ein BIP-Anstieg technischen Fortschritt bringe, der wiederum mit medizinischem Fortschritt einhergehe.

Auch wenn jetzt viel Geld in die Forschung nach einem Impfstoff und Therapien gegen Covid-19 fließt, bremst der herbe Konjunkturrückgang dennoch insgesamt gesehen den medizinischen Fortschritt etwa in der Krebs- oder Herzinfarktbekämpfung ab.

BIP-Rückgang von 6,3 Prozent erwartet
 
Die Bundesregierung erwarte für dieses Jahr einen Rückgang des realen BIP um 6,3 Prozent. „Damit ist ein Verlust von mehreren Millionen Lebensjahren zu befürchten“, sagt Raffelhüschen. In seinen Berechnungen kommt er für die Gesamtbevölkerung auf mehr als 37 Millionen verlorene Lebensjahre, die diese schwerste Rezession der Nachkriegszeit zur Folge haben werde.

Für jeden Einwohner bedeute dies im Durchschnitt einen Verlust an gut fünf Monaten fernerer Lebenserwar-tung, rechnet der Ökonom vor. Und selbst wenn die Gesamtzahl der infolge der BIP-Schrumpfung verlorenen Jahre am Ende nur ein Zehntel dessen betrüge, wäre sie noch immer um ein Vielfaches größer als die Zahl der Lebensjahre, die Deutschland bei einem ungebremsten Verlauf der Pandemie mit gut 645.000 voraussichtlich eingebüßt hätte, sagt der Wissenschaftler.

Deutschlands Wirtschaft wäre allerdings auch dann extrem eingebrochen, wenn es zwar im Land selbst keinen Lockdown gegeben hätte, aber in den meisten anderen Staaten schon. Denn auch Schweden verzeichnet laut der Prognose der Industrieländerorganisation OECD trotz des gewählten Sonderwegs einen herben Konjunkturein-bruch.

 
Infolge der starken internationalen Arbeitsteilung haben schon die Unterbrechungen der Lieferketten und die Schrumpfung des Welthandels dafür gesorgt, dass sich die Wirtschaftskrise ebenso wie die Pandemie auf der gesamten Welt ausbreiten konnte.

Nur wenn neben Deutschland auch alle anderen Länder keinen Lockdown gemacht hätten, wäre man hierzulande nach Einschätzung Raffelhüschens weitaus besser gefahren, wenn die Politik auf die rigiden Anti-Corona-Maßnahmen verzichtet hätte.

Dass weltweit die Maßnahmen gegen die Pandemie nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in sozialer und medizinischer Hinsicht gravierende Nebenwirkungen haben, zeigt sich besonders dramatisch in Schwellen- und Entwicklungsländern. Die Weltbank rechnet damit, dass in diesem Jahr 40 bis 60 Millionen Menschen in die extreme Armut rutschen, also weniger als 1,90 Dollar am Tag zur Verfügung haben.

Ein düsteres Bild zeichnen auch das Kinderhilfswerk Unicef und die Internationale Arbeitsorganisation ILO, die in einer aktuellen Studie davon ausgehen, dass die Kinderarbeit wieder auf das Niveau von vor 20 Jahren ansteigt. Global gesehen dürfte die Schrumpfung der Weltwirtschaft infolge der staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen sehr viele Menschenleben verkürzen. Bei einer Gesamtbilanz der Pandemiebekämpfung ist das zu berücksichtigen. 


Nota. - Erst einmal musste das Kind in den Brunnen fallen, damit diese Untersuchung überhaupt möglich war. Für diesmal hilft sie uns nicht, aber beim nächsten Mal wissen wir Bescheid. Es wrd dann nicht mehr eine Frage an die Wissenschaft sein: Was wird sein? sondern an die Politik: Was ziehen wir vor? Viele Tote jetzt oder noch mehr Tote später? Das ist unmittelbar ein moralische Frage. Oder doch eher ein ökonomische?

Das ist aber vielleicht gar keine Alternative, sondern läuft aufs selbe hinaus. Der katalanische PsychologeAlbert Costa hat das Problem der Moralität wissenschaftlich exakt gelöst: Es ist eine Frage der Menge. Ausschlag-gebend ist immer die Frage, wie viele Leben gerettet oder beschädigt werden.


Bei der nächstfolgenden und vieleicht garnicht so unwahrscheinlichen Gelegenheit werden die Politikeer wissen: Je mehr Leben wir heute verschonen, umso mehr gehen hinterher verloren. Nach Prof. Costas Moral ist klar: Im moralischen Saldo ist es richtiger, die Seuche ungehindert laufen zu lassen, als die folgende Generation umso tiefer zu schädigen.

Das von Costa verpönte Bauchgefühl wird sagen: Aber für mich ist es doch etwas anderes, ober ich einen, der schon lebt, opfere, oder ob ich eine küftige Geburt belaste oder gar verhindere. Der eine ist schon da und lebt, die andere ist noch ganz hypothetisch: ein statistischer Anonymus. Das kann ich doch nicht gegeneinander verrechnen!

Verrechnen ist aber der Modus von Prof. Costas Moral. Sie ist ökonomisch. Doch eben darum nicht moralisch. 

Ob die Politik so oder so sein soll, haben aber die Bürger selber zu verantworten, indem sie diese oder jene Politiker auswählen, freilich nur dort, wo sie wählen können.
JE

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