Samstag, 31. Oktober 2020

Für ein liberales Rechtsverständnis.


Liberal ist eine Rechtsordnung, die in Rechtsdingen keine anderen als rechtliche Erwägungen zulässt. Außerrechtliche Erwägungen der Richter sind Willkür. Die Erhaltung der Rechtsord-nung dient der Erhaltung der freiheitlichen Gesellschaft. Das ist ein über rechtlicher Gesichts-punkr, der 'subsidiär' in Erwägung kommen darf, aber mit äußerster Vorsicht. Dass eine Straf-tat politisch motiviert ist, ist kein Milderungsgrund. Hochverrat galt immer als Kavaliersde-likt, doch wenn er bestraft wird, kann die Rechtsordnung ja nicht beschädigt worden sein.

Nicht liberal ist eine Justiz, die dazu neigt, ein Auge zuzudrücken. Sie ist nämlich willkürlich gegenüber den von Rechtsbrüchen Geschädigten. Ob Terrorakte die Rechtsordnung beschä-digt haben, ist erst die zweite Frage. Die erste Frage ist, ob natürliche Rechtsträger zu Schaden kommen, und die haben einen Anspruch auf die ganze Strenge des Gesetzes.

 

 

Donnerstag, 29. Oktober 2020

Ist der Islam eine Religion wie alle andern?


Geistesgeschichtlich, kulturgeschichtlich, theologisch betrachtet - vielleicht. Nicht aber zeit-geschichtlich. Seit gut zwei Jahrzehnten und spätestens seit dem 11. 9. 2001 ist er ein actor in der Weltpolitik. 'Den' Islam gibt es nicht? Es gibt eine sehr reale Bedrohung, die in seinem Namen tätig ist. Wer sich öffentlich zum Islam bekennt und sich doch nicht von diesem selbsternannten Repräsentanten erkennbar absetzt, wird ihm, wie kann es anders sein, zuge-rechnet. Das haben nicht die Zurechner zu verantworten, sondern die, die sich zurechnen lassen. Dort, wo sie die Mehrheit stellen, ebenso wie dort, wo sie eine Minderheit sind. Einen Generalverdacht haben sie nicht zu beklagen, sondern glaubwürdig zu zerstsreuen. Oder sie halten sich öffentlich ganz zurück.

 

Nota - Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und ihre Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Ihre Nachricht auf diesem Blog. JE

Mittwoch, 28. Oktober 2020

Popanz Kulturmarxismus.

toponline

In der gestrigen Neuen Zürcher schreibt Nico Hoppe über den in "neurechten" Kreisen neuerdings beliebten Kampfbegriff des Kulturmarxismus. Sein Schluss ist, dass er den zeitgenössischen Jam-mer-und-Zeter-Korrekten viel zu viel Ehre und Marx und dem pp. Marxismus eine unverdiente Schmach antut.

aus nzz.ch, 26. 10. 2020

...Denn es lässt sich nicht leugnen, dass die postmoderne Linke heute die Mehrheit im kulturellen, staatlichen oder staatsnahen Betrieb stellt. Das zeigt sich sowohl an der unkritischen Bejubelung gegenwärtiger Protestbewegungen für Nachhaltigkeit oder Antirassismus als auch an der als selbstverständlich inszenierten Parteinahme für politisch korrekte Sprachweisungen und Identitätspolitik. Der Widerspruch wird zwar nicht systematisch zensiert, aber er wird im linksliberalen Mainstream entweder als exotischer Einwurf von Ewiggestrigen abgestempelt («Du Reaktionär!»), oder ihm wird mit denunziatorischer Verve begegnet, indem der politische Gegner bezichtigt wird, den Mindestabstand zum Schreckgespenst Populismus nicht eingehalten zu haben («Du Rechtspopulist!»).

Zugleich werden noch die abstrusesten idealistischen Diversity-Richtlinien zur Menschheitsbeglückung überhöht, obwohl das postmoderne Bessermenschentum in erster Linie das reine Gewissen der akademisch-linken Verfechter und der ihnen zuneigenden Opportunisten aufpoliert. Dieser glänzende Moralprunk ist der attraktive Lohn der potenziell endlosen Beschäftigung mit Mikroagressionen, Triggern und Repräsentationsfragen. Geradezu repetitiv wird sich an Phänomenen abgearbeitet, die sich von selbst ins Endlose erweitern, wenn beispielsweise Rassismus schon in der Frage nach der Herkunft und belästigendes, gewalttätiges Verhalten schon im Versuch des ungezwungenen Plauschs zwischen Fremden lauern soll.

Insofern lässt sich konstatieren: Der Fokus der Linken hat sich so längst von der sozialen Frage auf Problemchen des weltanschaulichen und gemeinschaftlichen Wohlbefindens verlagert. Und das ist genau der Punkt, den die sonst durchaus klugen Kritiker der Korrektheit geflissentlich übersehen. Denn wer mit dem Begriff des Kulturmarxismus hantiert, tappt gerade in eine neue Falle der Korrektheit.

Die Pointe

Die postmoderne Linke hat sich in ihrer Hinwendung zu identitären Partikularinteressen und zum Relativismus vom marxschen Universalismus weit genug entfernt, um heute weniger einen Wiedergänger des Marxismus als vielmehr dessen endgültiger Totengräber darzustellen. Nicht mehr Dialektik und Materialismus prägen die tonangebende Linke heute, sondern Schwarz-Weiss-Denken und selbstherrliche Verzichtsethik.

Mit der These vom Kulturmarxismus wird dagegen behauptet, dass sich der Marxismus ausgehend von einer neuen Generation marxistischer Intellektueller bloss veränderten Umständen angepasst habe. Dabei lässt sich von einer Anpassung nur schwerlich reden, wo grundlegende Prämissen ausser Kraft gesetzt werden: So ersetzt die Mainstream-Linke nunmehr die ökonomische, materialistische Analyse durch den Schwerpunkt auf Innerlichkeit, kleinteiliges Engagement und Partizipation bei dem im Kulturbetrieb endemisch gewordenen Zeichensetzen.

Einem ehemals linken bis linksliberalem Milieu zu unterstellen, es arbeite an einer kulturmarxistischen Revolution, könnte nicht weiter von der Wirklichkeit entfernt sein. Dass sie dessen allerdings von rechts bezichtigt wird, kommt ihr zugute: Denn so kann die postmoderne Linke ihren Rebellenstatus konservieren, bevor es für sie und alle anderen offenkundig wird, dass sie in Wahrheit längst zum langweiligen systemerhaltenden Establishment gehört.

 

Nota. - Die "postmoderne" Linke ist nicht nur nicht marxistisch, sondern nicht einmal links. Sie ist die Bedürfnisstruktur und Gemütsverfassung eines gesellschaftlichen Gebildes, das zum Gemeinwesen ein wesentlich zehrendes Verhältnis hat und eigentlich nur will, dass es dabei bleibt. 'Emanzipieren' wollen sie am allerwenigsten sich selbst. 

JE

Montag, 26. Oktober 2020

Der untote deutsche Michel.

https://live.staticflickr.com/65535/47992135383_f73465c525_b.jpg 

Er gibt keine Ruh, doch zu neuem Leben schafft er's auch nicht. Nach Norbert Röttgen legt auch er heute in der Frankfurter Allgemeinen sein Möchtegernprogramm vor. Röttgen und Laschet wetteifern um das Erbe Angela Merkels, Laschet mit Weiter so, Röttgen mit Voll-dampf voran. Da muss - und darf endlich - der Untote sein Herz aus der Mördergrube holen und sich - distanzieren.

Aber nicht etwa direkt, er ist ja untot, aber mehr tot als un, also fragt er bedenklich, ob ihre Krisenpolitik „nicht ungewollt die Risiken für den Eintritt weiterer Krisen“ erhöht habe. Da reibt sich der deutsche Michel die schläfrigen Augen und fühlt sich an seine beste Zeit erin-nert: "Keine Experimente!"

Röttgen wenigstens, der, wenn er auch nicht gerade von einer radikalen, so doch immerhin von einer "modernen" Mitte spricht, ist sich bewusst, dass die Umbruchszeit, in die wir längst eingestiegen sind, schlechterdings eine Krisenzeit ist, und dass gerade, wer dem Wahlvolk ein Zurück zur krisenlosen, weil statischen Vergangenheit in Aussicht stellt, in die unvermeidli-chen Krisen planlos schlittert - und sie unbeherrschbar macht.

Sonntag, 25. Oktober 2020

Deutsche philosophische Unterhaltungsindustrie.


aus derStandard.at, 24. Oktober 2020            Früher war die Philosophie eindeutig farbenfroher: Raffaels Schule von Athen, 1510/11

Precht und Co: Philosophen drängen in die Mitte der Gesellschaft
Philosophen geben sich heute nicht länger mit der Verkündigung von Weisheitslehren zufrieden – eine Typologie
 
von Ronald Pohl

Nicht erst durch die Pandemie wurde schlagartig klar: Philosophen drängen in die Buchregale. Sie machen der von Digitalität und Klimakrise heimgesuchten Gesellschaft Angebote, ihren Zustand zu überdenken. Doch um in Bestsellerlisten einzusteigen, müssen die Erben Platons und Kants ihr Erscheinungsbild optimieren. Die Frage an Richard David Precht und Co lautet: Wie denkt man öffentlich – damit auch alle mitbekommen, dass man denkt? Versuch einer kleinen Typenlehre.

DER BRANDMELDER

Ein Sachverständiger für Epochenumbrüche

Den philosophischen Brandmelder treibt die Sorge um, die Gesellschaft – für die er spricht – vermöchte mit ihrer eigenen Entwicklung kaum Schritt zu halten. Bei Normalbürgern diagnostiziert er akut verkrustetes Denken. Öffentliche Denker wie der Solinger TV-Star Richard David Precht (55) verkörpern seit rund zehn Jahren das Konzept einer Philosophie zum Anfassen. Auf ZDF interviewt der Autor von leichtgängigen Moralschmökern wie Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? prominente Gesprächspartner "aus Politik und Gesellschaft".

Mit den Propheten des Alten Testaments teilt der Brandmelder (im Falle Prechts) nicht nur den Hang zu wucherndem Haupthaar, sondern auch die Fähigkeit zur Zukunftsschau. Das exponentielle Wachstum der Gegenwartsprobleme begreift er als Chance, den "Epochenumbruch" (die digitale Revolution, den Transhumanismus, die ökologische Wende) in gemeinsamer Kraftanstrengung zu meistern.

Er tut Gutes, indem der die Nachlässigkeit all jener zur Anzeige bringt, die moralphilosophisch schlechter gestellt sind als er. Philosophische Brandmelder sind Mahner. Die Leser ihrer Erbauungsschriften behandeln sie als Bahnwärter: Indem sie von ihnen verlangen, die "Weichen richtig zu stellen", erhalten öffentliche Philosophen die Fiktion am Leben, unsere Gemeinwesen wären Reisegesellschaften, deren Mitglieder sich als Zugbegleiter betätigen. Ruhigere Brandmelder wie der 3sat-Denker Gert Scobel (61) arbeiten an einer Art Abklärung brennender Gegenwartsfragen. Fortschritt? Ist jederzeit machbar, Herr Nachbar!

Richard David Precht.

ABKLÄRER

Die Lehrmeister der Genügsamkeit

Köpfe seines Schlages rechnen von vornherein mit den Unzulänglichkeiten der Gattung Homo sapiens. Der Abklärer nimmt Mängel zum Anlass, dem Menschen seinen marginalen Platz im Universum anzuweisen. Allesbedenker wie Peter Sloterdijk (73) mahnen ruhiges Blut an. Sie verfügen über "Insider"-Wissen, das sie der Allgemeinheit unter Zuhilfenahme vieler Fremdwörter zur Verfügung stellen.

Die freundlichere Variante des Abklärers verkörperte einst der "Transzendental-Belletrist" Odo Marquard (1928–2015). Die Unverfügbarkeit alter Sinnressourcen versuchte er zu kompensieren. Anstatt dass er hochfliegende Illusionen hegte, empfahl Marquard, sich mit Routinen des Alltags zu begnügen. Slogans wie "Abschied vom Prinzipiellen" helfen mit bei der Veranschaulichung von Verlusterfahrungen. Marquards Erbe verwalten heute Abklärer wie der Grazer Philosoph Peter Strasser.

Peter Sloterdijk.

LINKSÜBERHOLER

Die Traditionspfleger mit Wut im Bauch

Der Linksüberholer hält die Fiktion einer Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse engelsgeduldig aufrecht. Aus den Regalen der Buchhandelsketten sind seine hohnvollen Schriften verschwunden. Man findet sie dafür in Gewerkschaftsbuchhandlungen wieder oder abgedruckt in marxistischen Zentralorganen wie Konkret.

An der Prosa der Kritischen Theorie geschult, beharren Autoren wie Sahra Wagenknecht oder hierzulande Richard Schuberth auf ihrem Standpunkt: dem Kernstück linker Analyse. Unsere Gesellschaft stehe im Bann eines letztlich unaufgelösten Verblendungszusammenhangs. Dem Grundwiderspruch, wonach ein paar wenige sich das gesellschaftlich erarbeitete Produkt aller aneignen, hätten sich die übrigen Konflikte unterzuordnen. Die lichterloh brennende Fackel der Zeitgenossenschaft ist in die Fäuste ökologischer, feministischer oder auch postkolonialer Autoren hinübergewechselt.

Sahra Wagenknecht.

SOZIALTECHNIKER

Die Schutzbeauftragten in Moralfragen

Sozialtechniker sorgen für die Verbreitung eines "philosophisch informierten Menschenbildes". Wer nur philosophisch denkt, ohne sein Wissen bereitwillig an benachbarte Disziplinen (Technik, Ökonomie) weiterzureichen, der verrät die Aufklärung. Er unterwirft sich Modediktaten und verschleudert das moralische Erbe. Philosophiestars wie der Bonner "Realist" Markus Gabriel (40) postulieren die "Wertekrise" der liberalen Demokratie. Gleichzeitig empfehlen sie sich selbst als Schutzbeauftragte, um unser Denken vor Verflachung zu bewahren.

Anstatt für materielle Umverteilung plädieren sie für "moralischen Fortschritt" (so ein Gabriel-Buchtitel). Sie stellen sich gegen "Erosionen" aller Art, vornehmlich einen verantwortungsethischen Leistungsabfall in der Gesellschaft. Telegene Denker wie Gabriels Kollegin Svenja Flaßpöhler bearbeiten fernsehgerecht Missstände. Ihre Arbeitshypothese ist die Aufhebung impliziter Denkverbote: Nicht nur die Dilemmata von Freitodhilfe und Schuld sollen "unvoreingenommen" diskutiert werden. Flaßpöhler duldet auch im Umgang mit MeToo keinerlei Apriori: Die ins Passiv gesetzte Frau reagiere nur erst recht wieder auf die vorausgesetzte Allmacht des Phallus.

Rührige Sozialtechniker gehören ebenso gut in die Rubrik der Abklärer. Von populärphiloso-phischem Ingenium lässt sich hingegen sprechen, wenn jemand Merkmale aller genannten Kategorien in sich vereinigt. Vielleicht erfüllt sogar der Sozialphilosoph Jürgen Habermas (91) alle Erfordernisse. Sein Pech: Seine vor Leder sprühende Prosa ist für philosophische Laufkunden unlesbar.

Svenja Flaßpöhler.

Nota. - Das ist eine zeitgeschichtliche Glosse. Dass Jürgen Habermas einen Ehrenplatz bekommt, begrüße ich ausdrücklich. Und füge hinzu: Dass schließlich auch die Philosophie, und sei es in allgemeinverständlicher Form, Eingang in die Unterhaltungsindustrie gefunden hat, ist ja wohl nicht das Schlechteste, was man von ihr (? - !) sagen kann. Wenn sich die akademische Philosophie davon beschädigt fühlte, verriete sie fehlendes Selbstvertrauen, und das müsste sie selbst verantworten.

JE

Samstag, 24. Oktober 2020

Umweltveränderung und technischer Fortschritt.

   

aus nzz.ch, 22.10.2020                               Bohrungen im Koora-Becken

Umweltveränderungen beflügelten innovatives Verhalten bei frühen Menschen
Not macht erfinderisch: Das galt offenbar auch schon in Ostafrika beim Übergang der Altsteinzeit in die Mittlere Steinzeit. Das vermuten Wissenschafter, nachdem sie die Umweltbedingungen der Region fast eine Million Jahre in die Vergangenheit hinein rekonstruiert haben.
 
von Stephanie Kusma

Über mehr als zwei Millionen Jahre der Menschheitsgeschichte waren Faustkeile das Werkzeug der Wahl. Etwa 2,5 Millionen Jahre alt sind die ältesten der behauenen Steine, die charakteristisch für das Acheuléen der Altsteinzeit sind und von verschiedensten frühen Menschenformen hergestellt worden sein dürften. In der Mittleren Steinzeit Afrikas änderte sich dies. Im Olorgesailie-Becken im Süden Kenyas war der Wechsel vom Acheuléen zur Mittleren Steinzeit vor etwa 320 000 Jahren abgeschlossen: Die Steinwerkzeuge aus dieser Zeit sind diverser und feiner, man fand Hinweise auf den Gebrauch von Farbpigmenten. Obsidian, aus dem beispielsweise Pfeilspitzen hergestellt wurden, wurde über mindestens 25 Kilometer transportiert – so weit ist die nächste Quelle dieses vulkanischen Glasgesteins von Olorgesailie entfernt. Wieso kam es zu diesen Innovationen?

Eine Idee sind grossräumige Klimaveränderungen und auch tektonische Prozesse, die die Umwelt der frühen Menschen veränderten und Verhaltensanpassungen erforderten. Um mehr über die tatsächlichen lokalen Umweltbedingungen im Olorgesailie-Becken zu erfahren, haben Wissenschafter nun mit verschiedensten Analysemethoden einen knapp 140 Meter langen Erdbohrkern untersucht, der von einer etwa 25 Kilometer vom Olorgesailie-Becken entfernten Stelle im Koora-Becken stammt. Sie analysierten ihn Lage für Lage und konnten so sie die Umweltbedingungen der Gegend über fast eine Million Jahre rekonstruieren. Ihre Resultate beschreiben sie in der Fachzeitschrift «Science Advances».

Die Faustkeile der Altsteinzeit (links) wichen in der Mittleren Steinzeit diversen Werkzeugen.

Wie sich zeigte, blieben die Lebensbedingungen in der Gegend über die frühesten etwa 500 000 Jahre hinweg recht stabil. Es gab reichlich Süsswasser, trockene Perioden waren selten. Grosse Pflanzenfresser, die von einer verlässlichen Süsswasserquelle abhängig waren, lebten in Savannen mit einer Mischung aus Grasland und Bäumen. Vor etwa 470 000 Jahren allerdings begann sich dies zu ändern. Der Wasserstand und der Salzgehalt in den Seen der Region fluktuierten, trockene Perioden wurden häufiger, und auch die Vegetation änderte sich immer wieder – mal waren holzige Pflanzen dominant, dann wieder Gräser. In der Folge dieser Prozesse verschwanden die riesigen Pflanzenfresser, und an ihre Stelle traten kleinere, weniger stark vom Wasser abhängige Arten.

Insgesamt, so schliessen die Wissenschafter um Richard Potts vom Human Origins Program der Smithsonian Institution, waren die Ressourcen, auf die die früheren Hominiden noch hatten zählen können, weniger verlässlich geworden. Zudem war die Landschaft laut den Forschern kleinräumiger, tektonische Prozesse hatten Gräben entstehen lassen, die sie zerteilten. Die ökologischen Bedingungen konnten sich demnach selbst in relativer Nähe stark unterscheiden: Ein Erdbohrkern beispielsweise, der nur etwa zwanzig Kilometer weit von dem nun untersuchten gewonnen wurde, deutet laut den Forschern dort auf eine zunehmende Wüstenbildung hin.

Die Forscher vermuten nun, dass es die Kleinräumigkeit der Landschaft und auch die dadurch bedingte Unsicherheit der Ressourcen war, die den Übergang von der Alt- in die Mittlere Steinzeit begünstigte. Die frühen Menschenformen dort mussten neue Wege finden, mit der Unbeständigkeit ihrer Umwelt umzugehen. Dies leuchtet ein, sagt Christoph Zollikofer von der Universität Zürich. Doch was man beobachtet habe, sei ein zeitlicher Zusammenhang, kein Ursache-Wirkungs-Prinzip. So ist es laut dem Forscher auch möglich, dass die beobachteten Veränderungen der Steinwerkzeuge eine erhöhte Mobilität widerspiegeln: Das neue Ökosystem im Olorgesailie-Becken könnte die Besitzer der neuen Werkzeugkultur von anderswo her angezogen haben.

Freitag, 23. Oktober 2020

Panzerreiter und Feudalität.

FRANCE - CIRCA 2002: Scene of chivalry, miniature from Lancelot of the Lake, manuscript, France 15th Century. (Photo by DeAgostini/Getty Images)aus welt.de, 23. 10. 2020
 
Die Panzerreiter schlugen Löcher in die Reihen der Muslime
Mit gepanzerten Reiterkriegern schufen die Karolinger im 8. Jahrhundert eine Elitetruppe, die bald die mittelalterlichen Schlachtfelder beherrschte. Im Kloster Lorsch wird jetzt die Ausrüstung eines Ritters aufwändig rekonstruiert.
 
 
Als der karolingische Hausmeier Karl Martell im Jahr 732 zwischen Tours und Poitiers ein arabisches Heer besiegte, kämpften seine Franken weitgehend zu Fuß. Das Imperium, zu dem sein Sohn Pippin der Jüngere und der Enkel Karl der Große das Frankenreich erweiterten, wurde dagegen von Reitern erobert, genauer: Panzerreitern. Militärisch wie gesellschaftlich sollte diese Reform welthistorische Wirkungen zeitigen.
 
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Karl-Martell-Galerie 2: "Martells Widersacher Abd ar-Rahman ist auf diesem Gemälde von 1837 mit Rauschebart und Pfeil im Bein dargestellt. Er kam auf dem Schlachtfeld bei Poitiers um." CHARLES MARTEL (the Hammer) c.688-741. Founder of Carolingian dynasty, grandfather of Charlemagne. Battle of Poitiers 732 at which Charles stopped Islamic advance from Spain. Charles STEUBEN, Galerie des Batailles, Versailles
Karl "der Hammer" Martell – Retter des Abendlandes

Diese berittenen Krieger waren die Rolls-Royce-Reiter der damaligen Zeit, sagt Klaus Wirth, Leiter der archäologischen Denkmalpflege der Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim. Zu ihrem Bestand gehören Schwerter aus karolingischer Zeit. Sie wurden fotografiert, geröntgt und metallurgisch analysiert, um einen modernen Nachbau einer sogenannten Spatha schmieden zu können, eines zweischneidigen Schwertes, mit dem die Elite von Karls Truppen in die Schlacht zog. ...

Gepanzerte Reiter mit Bandhelmen und Rundschilden im Leidener Makkabäer-Codex, frühes 10. Jahrhundert 
Gepanzerte Reiter mit Bandhelmen und Rundschilden im Leidener Makkabäer-Codex, frühes 10. Jahrhundert

Denn die Ausrüstung eines berittenen Kriegers war eine enorm aufwendige und kostspielige Angelegenheit. Schild, Lanze, Lang- und Kurzschwert, eine mit Metallplatten benähte Lederweste, Eisenhelm und Beinschienen entsprachen einem Gegenwert von 18 bis 20 Kühen, ein Vermögen, wenn man bedenkt, dass auf einem durchschnittlichen Königshof etwa 45 Rinder gehalten wurden.

Hinzu kamen die Kosten für das Schlachtpferd und seine Ausrüstung. Ein ausgebildetes Tier konnte 800-mal mehr kosten als ein einfaches Arbeitspferd. Daher benötigte ein Reiter auch ein Tier für den Marsch und weitere für den Transport seiner Ausrüstung. Hinzu kamen Männer zu Fuß, die ihm beim Ankleiden halfen, sich um die Tiere sorgten und ihn gegebenenfalls im Kampf unterstützten.

Die Hauptrolle auf dem Schlachtfeld aber spielte in den folgenden Jahrhunderten der Panzerreiter. Er vervollkommnete die Taktik, im Verband mit angelegter Lanze gegen feindliche Linien anzustürmen. Bereits einige Hundert Mann reichten für solche Schockangriffe aus. Sie schlugen ein „Loch in die Mauern von Babylon“, beschrieb die staunende byzantinische Prinzessin Anna Komnene die Wirkung einer Kreuzfahrer-Attacke auf ein muslimisches Heer.

Dieser Aufwand für die Kriegsführung hatte tiefgreifende soziale Folgen. Um sich angemessen ausrüsten zu können, erhielten die fränkischen Reitersoldaten Landgüter, deren Überschüsse ein „ritterliches“ Leben ermöglichten. Diese Grundherrschaft ging nicht in den Besitz eines Stammes oder Clans über, sondern begründete eine feste Bindung zwischen dem einzelnen Ritter und dem Landesherrn. Es sollte nur wenige Generationen dauern, dass aus diesem persönlichen Vertragsverhältnis auf Zeit familiäre Besitztitel auf Dauer abgeleitet wurden, die die feudale Welt des mittelalterlichen West- und Mitteleuropas über Jahrhunderte hinweg prägten.

mit dpa
 
Nota. - Die Grundlage für die Ausbildung des feudalen Gesellschaftstyps war deer Zerfall der politischen Infrastruktur im weströmischen Reich gewesen, der als Folge den Niedergang der städtischen Zentren und den Rückzug des Grundadels auf seine ländlichen Güter mit sich brachte. So entstand die Villen-Wirtschaft, wo sich um die Landsitze der patrones Kreise von 'enkommendierten' Klienten bildeten, die wegen des Zerfalls der öffentlichen Strukturen bei potenten Privaten Schutz suchten.

Die Feudalität im Wortsinn - "Lehnswesen" - entstand, indem sich im Siedlungsgebiet der Franken von Gallien bis in die römische Germania Minor über die Villenwirtschaft das Netz der fränkischen Heeresorganisation legte.

Das mittellateinische Wort feudum und das frazösische fief gehen beide auf den deutschen Stamm Vieh zurück und haben mit Grund und Boden nichts zu tun. Wie das?
 
Obiger Beitrag macht es plausibel: Allgemeines Tauschmittel im fränkischen Gebiet war das Rind, gezählt wurde in capita, Köpfen, das französische cheptel für Herde und das weltweite Kapital stammen daher. Wollte der König seine Gefolgsleute wohlgenährt und wohlgerüstet sehen, musste er sie mit Viehherden zu ihrem Nießbrauch ausstatten. Und die Herden brauch-ten Weiden. Indem ein Ritter zum patronus über ein Dorf bestellt wurde, stand seiner Herde die dortige Gemeindewiese zur Verfügung, so wie im Allgemeinen nun der Feudalherr die An-gelegenheiten des Gemeinwesens gegenüber den Einzelhaushalten vertrat.

Das ist der Ursprung der Grundherrschaft. Es ist nur eine Schema, das für die Länder außer-halb der fränkischen Herrschaft und wohl selbst innerhalb nur mit tausend Varianten anwend-bar ist. Aber es ist das Grundmodell, das für die ersten Jahrhunderte die Dynamik und für die folgenden die Stagnation der Feudalordnung verständlich macht.
 
Noch pointierter wird der Niedergang der Feudalität in der Schlacht von Azincourt dargestellt, als das Heer der französischen Panzerreiter von den Langbögen der angelsächsischen Bauernkrieger vernichtend geschlagen wurde.
JE

Donnerstag, 22. Oktober 2020

Technische Revolution durch Hörensagen?

aus derStandard.at, 22. Oktober 2020

Kamen die bronzezeitlichen Innovationen durch "stille Post" nach Europa?
Ob Pferdezucht oder Bronzeherstellung: Das neue Wissen aus dem Osten könnte sich auch ohne große Migrationen herumgesprochen haben

Sabine Reinhold vom Deutschen Archäologischen Institut spricht von "epochalen technischen Innovationen", die sich im 4. und 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung in Mitteleuropa ereigneten. Dazu gehörten etwa die Pferdezucht oder Wagen und Waffen aus Metall – aber auch die Ausbreitung indogermanischer Sprachen, die den neuen Lebensstil in ihrem Wortschatz widerspiegelten.

Als sicher gilt, dass diese Innovationen aus Richtung Osten kamen, auch wenn das genaue Ursprungsgebiet unklar ist. Die Kaukasusregion und der daran angrenzende Süden gelten als wahrscheinlicher Kandidat. Aber wie sind all die Neuerungen von dort in den Westen gelangt?

These überprüft

Bisher wurde angenommen, dass nomadisierende Hirten diese Innovationen verbreiteten. Nun zeigte aber ein Forschungsteam um Reinhold und Kurt Alt von der Danube Private University, dass die damaligen Viehzüchter doch nicht so mobil gewesen sein dürften wie angenommen.

Die Forscher analysierten die sterblichen Überreste bronzezeitlicher Hirten und schlossen auf deren Ernährungsweise zu Lebzeiten. Es zeigte sich, dass diese angeblich so mobilen Viehhalter das Nahrungsangebot der unmittelbaren Umgebung nutzten. "Die Gemeinschaften blieben offenbar in ihrem jeweiligen Ökogebiet und wechselten nicht zwischen Steppe, Waldsteppe oder höher gelegenen Regionen", sagt Koautorin Sandra Pichler von der Universität Basel. Demnach bildeten Fleisch, Milch und Milchprodukte einen Großteil der Nahrungsgrundlage und wurden durch Wildpflanzen ergänzt.

Es spricht sich herum

"Die Ergebnisse der Untersuchungen sprechen gegen großräumige Wanderungen", fasst Reinhold die Datenauswertung zusammen. Doch wenn es keine weiträumigen Migrationen und Handelskontakte der Hirtengemeinschaften waren, welche neue Sprachen, Pferde-Domestizierung, Bronzeherstellung und neue Werkzeuge nach Westen brachten – was war es dann?

Es könnte ganz einfach so etwas wie "stille Post" gewesen sein, mutmaßen die Forscher: Nützliche Neuerungen sprachen sich herum und zogen immer weitere Kreise. Diese für die mitteleuropäischen Kulturen grundlegenden Geräte und Verhaltensweisen könnten demnach wie Stafettenstäbe von einer Gemeinschaft zur nächsten weitergereicht worden sein. Diese Verbreitung wäre wohl langsamer (und vielleicht auch konfliktärmer) abgelaufen als im anderen Szenario, aber letztlich wurden alle vom kulturellen Wandel erreicht. (red, APA,)

Mittwoch, 21. Oktober 2020

Der gesinnungstüchtige Mob übernimmt.

  pinterest
aus welt.de, 21. 10. 20

"Den beiden Chefredakteuren der „Süddeutschen Zeitung“, Wolfgang Krach und Judith Wittwer, muss man sehr dankbar sein. Sie haben im Umgang mit einem heiß diskutierten Feuilletonartikel um den Twitter-Einpeitscher, Menschenrechts-Aktivisten und Weltklassepi-anisten Igor Levit deutlich gemacht, wer das Blatt führt: Die Chefredakteure sind es eher nicht, sondern die Twitter-Brigade einer neuen linken Meinungsführerschaft, der sich nicht nur öffentlich-rechtliche Medien zunehmend beugen. In einem für das Feuilleton vollkommen normal kritischen Text über Leben und Werk des Pianisten und Moral-Darstellers Levit wurde sich auch ein wenig über dessen oft genug regressives Twitterverhalten lustig gemacht. Wer Levits Œuvre kennt: das war im Zweifel eher milde." ...


Hab ichs doch geahnt: Dass ausgerechnet die Süddeutsche sich dem korrekten Kahlschlag wie ein Fels in der Brandung entgegenstellte, konnte nicht wohl sein. Kaum wehte die erste Brise des fälligen Shitstürmchens in ihre Nasen, da knickten sie folgsamst ein. Man darf sich nun fragen, wie lange sie schamhaft warten, ehe sie ihren Musikredakteur feuern.

Dies veröffentlichte ich vorgestern in meinem Blog:

 

Haltet den Dieb!

Dike-blog                             zu Geschmackssachen
 
Den folgenden Beitrag übernehme ich, weil er in der musikalischen Öffentlichkeit zu einer erregten Auseinandersetzung geführt hat. Dass ausgerechnet über einen Autor der Süddeut-schen Zeitung ein solcher Shitstorm - so heißt das in der Welt des Showbusiness - der politi-schen Korrektheit hereinbricht, hat seinen eigenen Reiz, und das würde schon reichen, um es Ihnen mitzuteilen.

Bedeutender ist aber, dass dem Verfasser vorgeworfen wird, Künstlerisches mit Persönli-chem zu vermengen. Das ist rührend, dass sich politisch Korrekte ausgerechnet darüber aufregen! Doch wenn Sie die folgenden Zeilen aufmerksam lesen, werden Sie finden, dass der Verfasser gerade dies dem kritisierten Igor Levit vorwirft! 

Ich habe ein Buch über Michael Jackson geschrieben, in dem zu lesen ist, dass in der Unter-haltungskunst wie überhaupt in der Kulturindustrie Imagebuilding selber eine Kunstform ist, und verhehle nicht meine Bewunderung für MJ, der diese Kunst zur Vollendung gebracht hat. Sollte ich nicht also dem Imagebuilder Levit zu der Performance gratulieren?

Sie übersehen die Pointe: Wenn Igor Levit bereit wäre, sich als einen Star der Unterhaltungs-kunst zu bekennen, würde kein Helmut Mauró etwas an ihm auszusetzen finden. Er würde dann gar nichts mehr an ihm finden, aber das könnte Levit eben nicht gleichgültig sein.

JE

 
Igor Levit ist müde
Die Resonanz von Klavierkünstlern reicht weit über den Konzertsaal hinaus. Kommt es also nicht nur auf das perfekte Legato an, sondern auch auf Twitter-Virtuosentum? Alles eine Frage der Perspektive.

Von Helmut Mauró

Der Pianist Igor Levit zeigt jetzt mehr Gefühl, er zwingt sein Gesicht auf die Tastatur hinunter, als sei er so noch mehr bei der Musik oder eben immerhin bei sich. Nur eine Pose? Schwer zu sagen. Der mit 29 Jahren vier Jahre jüngere Daniil Trifonov verzieht seit jeher das Gesicht am Klavier, andere Pianisten wie Alfred Brendel waren geradezu berüchtigt für ihr Gesichtsballett. Wichtiger ist aber doch, was das eigentliche Klavierspiel beim Hörer bewirkt, wie der Künstler also in die Welt strahlt. Und Trifonov spielt da, das muss man ab und an mal sagen, in einer völlig anderen Liga als Levit.

Trifonovs technisches Raffinement, sein perfektes Legato (über das Levit leider gar nicht verfügt), sein Formbewusstsein, sein hochriskant emotionales Spiel, sein Sinn fürs Ganze, für Spannungsaufbau, für schiere musikalische Intensität heben ihn derzeit über andere weit hinaus. So auch über Levit, der sich gern aufs spielerisch Unverbindliche verlegt, dann wieder auf ein theatralisch vorgetragenes Pathos, das einen eigenen Resonanzraum bildet.

Wer oft und laut schreit, wird wahrgenommen

Diese Resonanz reicht inzwischen weit über die Musik hinaus. Levit ist als Twitter-Virtuose ebenso bekannt wie als Pianist. Und das ist für eine Karriere 2020 offenbar mindestens so entscheidend wie das Musizieren selbst. Während Trifonov sich auf ein paar private, vor allem aber künstlerisch bestimmte Tweets beschränkt, ist Levit auf Twitter nicht mehr zu entkommen. Er ist mit den richtigen Journalisten und Multiplikatoren befreundet, coram publico und aufgekratzt fällt man sich via Twitter mehr oder weniger täglich in die Arme und versichert sich gegenseitiger Bewunderung.

Das Netz ist hier nicht Kommunikation, sondern die Bühne für ein Pausenstück, dessen Clownerien eine Schattenseite haben: die vehemente Ausgrenzung vermeintlich und tatsächlich Andersdenkender. Problematisch ist dies weniger bei der Beschimpfung von Nazis, doch aber im Grenzbereich von spontaner Meinungsäußerung, grundsätzlicher Überzeugung, Kultur und Kleinkunst. Der Kabarettist Dieter Nuhr könnte, weil er sich über genau diese fast grundsätzlich vollkommen humorfreie Filterblase hin und wieder amüsiert, ein Lied davon singen, wenn er wollte. Es darf in Deutschland immer noch jeder Mensch sagen, was er will, keine Panik. Die Internet-Gesellschaft verlangt aber immer öfter und lauter nach absoluter moralischer Integrität. Niemand soll über dem Netz stehen.

Es hat sich da ein etwas diffuses Weltgericht etabliert, deren Prozesse und Urteile in Teilen auf Glaube und Vermutung, aber auch auf Opferanspruchsideologie und auch regelrechten emotionalen Exzessen beruhen. Es scheint ein opfermoralisch begründbares Recht auf Hass und Verleumdung zu geben, und nach Twitter-Art: ein neues Sofa-Richtertum. Die meisten Musikerinnen und Musiker tun sich schwer mit kunstfernen öffentlichen Auftritten, es gibt aber auch Künstler, gerade jüngere, die die Flucht nach vorne antreten und selber Forderungen an die Gesellschaft stellen. Das ist ihr gutes Recht, wer wäre in der offenen Gesellschaft gegen Partizipation?

Sie machen sich einerseits durch selbstironische Albernheiten - "Für Elise" auf der Plastiktröte - unangreifbar, senken dabei erfreulicherweise für Jüngere die Hemmschwelle, klassischen Musikern zu begegnen. Wer oft und laut schreit, wird wahrgenommen, und zur Verkaufspsychologie gehört nur leider inzwischen eine mit der Dauerpräsenz verbundene Qualitätsvermutung. Das gilt auch für Levits täglich gestreamte Hauskonzerte zum Lockdown: Entscheidend ist der persönliche, scheinbar private Auftritt vor aller Augen.

Dient die Leistung von Musikern nicht dem Gemeinwohl?

Spätestens seit Paris Hilton weiß jeder: Öffne alle Türen, dann kannst du es schaffen. Igor Levit hat nun die alte TV-Methode der verkrachten Hotelerbin via Internet noch mal richtig in Schwung gebracht. Der Erfolg gibt ihm recht. In Deutschland und England wird er auch in der analogen Welt quasi pausenlos gefeiert: Instrumentalist of the Year, Man of the Moment, Echo-Klassik, Opus-Klassik. Neulich gab es noch das Bundesverdienstkreuz des um schmucke Künstlerkontakte stets bemühten Bundespräsidenten.

Doch könnte gerade letztere Auszeichnung aus den Händen Frank-Walter Steinmeiers selbst Levit-Fans stutzig machen. Denn das Kreuz wird qua Definition für "hervorragende Leistungen für das Gemeinwesen" vergeben. Bei Katastrophenhelfern ist die Sache klar, auch Sportler werden regelmäßig geehrt. Wie steht es mit Musikern? Genuin dient deren Leistung offenbar nicht dem Gemeinwohl, so sehr sie auch berühren und das Leben bereichern mag. Das ist gut so, denn sonst müsste man ja feststellen, dass das Klavierspiel Igor Levits nicht hinreicht - selbst die aktuelle Einspielung der Beethoven-Sonaten ist eher unerheblich -, um so eine Auszeichnung zu rechtfertigen.

Zeichnete Steinmeier also den Twitterer Levit aus für seinen Kampf gegen rechts?

Auf Twitter sucht Levit - neben seinem ceterum censeo, die AfD sei eine Nazi-Partei - vor allem die Konfrontation mit deren Anhängern. Ist das mutig? Trägt es zur Bekämpfung des Faschismus bei? Während der Dirigent Daniel Barenboim als Mittler zwischen Israelis und Palästinensern auch seinen Ruf als Künstler immer wieder aufs Spiel setzt, während Anne-Sophie Mutter Benefizkonzerte spielt und Waisenhäuser in Rumänien baut, beschwört Levit, der womöglich auch sonst Gutes tut, vor allem Tag für Tag die rechten Feinde. Sind Levits Tweets aber politische Aktivitäten? Oder sind sie nur ein lustiges Hobby?

Bei Maybrit Illner wiederholte er vor einem knappen Jahr nach der berechtigten Kritik des Bild-Journalisten Ralf Schuler seine zuvor getwitterte Überzeugung, AfD-Mitglieder seien "Menschen, die ihr Menschsein verwirkt" hätten. Im Spiegel-Interview geht es gleich gegen das ganze Land: "Deutschland hat ein Menschenverachtungsproblem." Kann man das mal so eben behaupten über ein Land, in dem es zweifellos zu viele Antisemiten gibt, die große Mehrheit aber zum Beispiel nicht AfD wählt, hingegen Millionen Flüchtlinge willkommen heißt?

Das sind ja keine überstürzten Tweets, sondern es sind wohlüberlegte Aussagen. Als am 4. Oktober in Hamburg ein Mann mit einem Klappspaten auf einen jüdischen Studenten losgeht, twittert Levit: "so müde. so, so müde. und so wütend." Am 5. Oktober: "Gestern: Hamburg. Heute: Phrasen. Nie wieder-Hashtags. Wie immer. Einfach ermüdend. Ermattend." Am 9. Oktober: "wie sehr sehr müde diese Zeit doch macht ..." Am 10. Oktober: "Kaum etwas ist dieser Tage ermüdender als Nachrichten lesen."

Der neueste Tweet von Daniil Trifonov weist mit Hörprobe auf sein neues Album "Silver Age" hin. Er spielt Prokofjew.

 
PS. Ob Levit oder Trifonov besser Klavier spielt, kann ich nicht beurteilen.
JE