Freiheitsdrang und Hassgesang
Leipzig gedenkt der Völkerschlacht und ihrer Folgen mit einer Ausstellung über «Helden nach Mass»
Leipzig gedenkt der Völkerschlacht und ihrer Folgen mit einer Ausstellung über «Helden nach Mass»
von Joachim Güntner ·
Zweihundert Jahre später hat das grosse Gemetzel seinen Schrecken
verloren. Kaum ist zu verhindern, dass sich in das ernste Erinnern auch
Spektakel mischt. Leipzig 2013 im Banne der Völkerschlacht von 1813 -
das bedeutet Ansprache und Podiumsdiskussion, Festgottesdienst und
Friedensmusik, Theater und Lichtspiel rund ums Völkerschlachtdenkmal,
dazu jede Menge Ausstellungen bis in den Landkreis hinein. Ein
monumentales 360-Grad-Panorama zeigt Leipzig nach dem Ende der Kämpfe:
Am Horizont stehen die Dörfer in Flammen, die Gassen der Stadt fluten
Geschlagene und Gestrandete. Aufruhr und Elend verschmelzen. Eine
Zeitreise soll das dem Besucher bieten. Und weil die Sachsen eine
närrische Freude an historischer Kostümierung haben, spielen mehr als
sechstausend Laiendarsteller an diesem Sonntag in einer Senke des
Umlands Krieg wie anno dazumal und stellen Gefechte nach, zum krönenden
Beschluss der Gedenkwoche. Die Tribünenplätze für die Show sind längst
ausverkauft.
Völkerschlachtbank
Dabei gibt es nichts zu feiern.
Ein Leipziger Pfarrer brachte es dieser Tage auf den Punkt. Für Kriege
gelte: «Es töten sich Menschen, die sich nicht kennen, im Auftrag von
Menschen, die sich zwar kennen, aber nicht töten.» Neunzigtausend Tote
forderte die vier Tage währende Völkerschlacht. Fast jeder fünfte Soldat
verlor sein Leben. Ein solches Ausmass des Tötens in so kurzer Zeit
hatte es in Europa bis dahin nicht gegeben. Nicht gerechnet die an
Hunger und Seuchen Verstorbenen, die Verletzten und Verkrüppelten.
Allein in Leipzig fand der preussische Arzt Johann Christian Reil Ende
Oktober 1813 zwanzigtausend «kranke Krieger aller Nationen» vor, noch
alle in blutigen Gewändern, ohne saubere Verbände, ohne Decken und
Betten, zum Teil in ihrer eigenen Notdurft faulend. «Ihre Glieder sind,
wie nach Vergiftungen, furchtbar angelaufen, brandig und liegen nach
allen Richtungen neben den Rümpfen.» - Völkerschlacht?
Völkerschlachtbank!
«Helden nach Mass» heisst Leipzigs
offizielle, im Stadtgeschichtlichen Museum aufgebaute
Jubiläumsausstellung. Die Schau inszeniert kein Schlachtengetümmel,
sondern lenkt den Blick auf die Wirkungsgeschichte eines Mythos von
damals bis heute. Denn als Höhepunkt und Triumph der antinapoleonischen
Befreiungskriege hat die Völkerschlacht Geschichtsbilder gestiftet.
Spätere Militärs und Politiker nahmen die Taten und Helden für ihre
Zwecke in Beschlag. Historiker deuteten die Kämpfe als Erwachen eines
grossen nationalen Freiheitsdrangs des deutschen Volkes.
Damals wurde «Vaterlandsliebe» zum
politisch-ideologischen Programm. Der Einzelne sollte zu der
Überzeugung gelangen, er sei seiner Heimat die Aufopferung von Leben und
Eigentum schuldig. Die allgemeine Wehrpflicht, in Frankreich eine Folge
des revolutionären Umsturzes von 1789, wurzelt in Deutschland im Pathos
der Befreiungskriege. Preussen führte einen Tag nach der
Kriegserklärung an Frankreich am 17. März 1813 die Landwehr ein.
Patrioten, nicht Söldner waren gefragt. Freiwilligenverbände wie das
Lützowsche Freikorps, vom Dichter Theodor Körner als «Lützows wilde
Jagd» besungen, gingen ins populäre Liedgut ein und wurden zur Zugnummer
deutscher Männerchöre des 19. und 20. Jahrhunderts.
Ihrem Titel zum Trotz betreibt die
Leipziger Ausstellung keine Heldenverehrung. «Nach Mass» gearbeitet
erscheinen ihre Helden, weil sie sich nicht über einen Leisten schlagen
lassen, sondern schillernde Figuren bleiben. Kräftige Spuren in einer
zweihundertjährigen kollektiven Überlieferung hinterliessen sie alle,
auch wenn heute mancher Name verblasst ist. Eine Folge von Kabinetten
gliedert die Ausstellung thematisch. Die Stationen tragen Titel wie
«Geistige Brandstifter», «Generäle mit Rückgrat» oder «Ikonen der
Nation»; sie widmen sich nationalistischen Hasspredigern, die zugleich
gegen Tyrannei und Leibeigenschaft wüteten, oder erinnern an mutige
Gewissensentscheidungen und entschlossenes Handeln. Auf den
Franzosen-Hasser Ernst Moritz Arndt und den als «Turnvater» bekannten,
von Marx indes treffend «Turnwüterich» genannten Friedrich Ludwig Jahn
folgen weitere Volkstümler und grimmige Patrioten, darunter der schon
erwähnte Theodor Körner, ein gefühlvoller Poet, der als Kämpfer in
Lützows Korps starb und in der Ausstellung eine Locke zurückgelassen
hat.
Reformfreudige Generäle wie der
«gelehrte» Scharnhorst, der als «Marschall Vorwärts» verehrte Blücher
oder wie Gneisenau, der «Jakobiner in preussischer Uniform», geraten in
den Blick. Auch markante Frauengestalten führt Leipzigs Museum vor, etwa
die in Berlin kultisch verehrte Königin Luise, die 1807 nach verlorener
Schlacht den Usurpator Napoleon erfolglos gebeten hatte, Preussen zu
schonen. Mit der Waffe in der Hand zu Felde zog Eleonore Prochaska, die
«Jeanne d'Arc von Potsdam». Frauen wie sie waren rar, mussten ihr
unziemliches Tun mit Männerkleidung tarnen, und am
Geschlechterverhältnis änderten sie nichts. In der Schau steht Prochaska
nicht als Exempel für Gleichheit, sondern «für die Flut des Grimms».
Dass sie es, wie ein Exponat zeigt, in Gestalt eines freizügig
kostümierten Models von heute auch in den Pirelli-Kalender geschafft
hat, dürfte freilich kaum der historischen Wahrheitsfindung dienen.
Mit Bogen- und Brückenschlägen zur
Wirkungsgeschichte sorgt die Ausstellung dafür, dass das ideelle Erbe
der Befreiungskriege fassbar wird. Immer stehen neben Exponaten, welche
die Zeit um 1813 illustrieren, solche, in denen sich die Folgen
spiegeln. Hartnäckig hält sich das Eiserne Kreuz als Tapferkeitsmedaille
bis in die Gegenwart. Aus der Aktion «Gold gab ich für Eisen», bei
welcher die Bevölkerung ihren Schmuck spendete, damit Kriegsfreiwillige
gegen Napoleon ausgerüstet werden konnten, lernten später auch die
Propagandisten des Ersten und Zweiten Weltkriegs, wie man patriotische
Opferbereitschaft stimuliert.
In der DDR eine grosse Sache
BRD und DDR bedienten sich der
historischen Gestalten auf je eigene Weise. Viele Exponate bezeugen
diese Differenz. So vergab die Nationale Front der DDR für patriotische
Leistungen eine Ernst-Moritz-Arndt-Medaille (ein Preisträger war der
TV-Demagoge und antiwestliche Scharfmacher Karl-Eduard von Schnitzler),
was von offizieller Seite in der Bundesrepublik nie gewagt worden wäre.
Die DDR verstand sich als legitime Erbin der Freiheitskämpfer und beging
das Jubiläum der Völkerschlacht regelmässig mit grossen Feiern. In der
Bundesrepublik hatte die Deutung Vorrang, wonach die Befreiungskriege
einen nationalistischen Furor entzündeten, mit dem noch die Nazis die
Welt in Brand zu setzen vermochten. Heute dient die Völkerschlacht zur
Mahnung, wie teuer uns Europas Frieden sein sollte. Aber da es dafür
mittlerweile stärkere Menetekel gibt, dürfen in Leipzigs Gedenkwoche
auch Gefechtskarneval und sonstige Spektakel nicht zu kurz kommen.
Helden nach Mass. Stadtgeschichtliches Museum, Leipzig. Bis 2. März 2014. Ausführlicher Katalog mit Essays zur Historie. 247 S., € 25.-.
Nota.
'Völkerschlacht' ist ein zeitgenössischer Ausdruck. Doch bezeichnete er damals nicht (blutsverwandte) Nationen, sondern die vielen beteiligten Staatsvölker: Hessen, Sachsen, Bayern, Preußen; und auch wohl Russen, Österreicher und Franzosen. Aber nicht Franzosen und alle andern standen einander gegenüber, sondern das Gros der Streitkräfte bestand aus - Deutschen.
Napoleons Grande Armée war auf dem Rückzug aus Russland weitgehend aufgerieben, seine rasch aufgebotenes neues Heer bestand zum weit überweigenden Teil aus Soldaten der mit dem Kaiser verbündeten Rheinbund-Staaten; unausgebildete junge Männer, die den alliierten Heeren nicht wirklich gewachsen waren. In der Hauptsache kämpften in Leipzig Deutsche gegen Deutsche - nicht ganz der Stoff, aus dem nationale Heldenepen gewoben werden.
J.E.
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