Von Stalin lernen heisst nicht siegen lernen
von Gerald Hosp · Es gab eine Zeit, als die Sowjetunion nicht nur wegen ihres Nuklearwaffenarsenals gefürchtet war, sondern auch wegen ihres Wirtschaftswachstums. Viele Ökonomen waren zur damaligen Zeit von der von oben verordneten Kollektivierung in der Landwirtschaft und der Industrialisierung unter Josef Stalin beeindruckt. Auch wenn die Stalinsche Wirtschaftspolitik als brutal erachtet wurde, fanden sich genügend Stimmen, die den verordneten Übergang der Arbeitskräfte von der Landwirtschaft in die Industrie lobten. Stalins Russland entwickelte sich wirtschaftlich besser als das zaristische Russland vor 1913, die Investitionen im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt verdoppelten sich. Bis in die 1950er Jahren geisterte die Frage herum, wann denn die Sowjetunion die USA überholen würde. Daraus zogen auch Länder wie China und Indien Lehren, wie eine rückständige Wirtschaft zu mehr Wachstum geführt werden kann.
War aber Stalin tatsächlich notwendig für Russlands wirtschaftliche Entwicklung? Vier russische Ökonomen stellten sich in einer Studie diese Frage und kommen zu einem klaren Ergebnis: nein. Sie geben zu bedenken, dass die Entwicklung ohnehin stattgefunden hätte. Zudem sagen die Makrodaten auch nichts darüber aus, ob der einzelne Sowjetbürger von Stalins Politik profitiert hat. Um die Frage zu beantworten, greifen die Ökonomen in die Trickkiste: Sie berechnen eine kontrafaktische Wirtschaftsentwicklung in Russland; d. h. sie schauen sich an, wie die Sowjetunion ausgesehen hätte, wenn nur der Trend aus dem Zarenreich vor 1913 fortgesetzt worden wäre. Im Vergleich führte die Kollektivierung zu geringerer Produktivität und grossen Wohlfahrtseinbussen. Auch wenn der Zweite Weltkrieg nicht stattgefunden hätte und Stalins Industrialisierung weitergegangen wäre, hätte sich die Wohlfahrt verringert. Dabei werden nur ökonomische Ergebnisse verglichen, menschliches Leid durch Hungersnöte und Repression wird bei dieser Rechnung gar nicht einkalkuliert. Von Stalin gibt es wahrlich nichts zu lernen.
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