Donnerstag, 10. Oktober 2013

Analphabetismus 2.0.

aus NZZ, 9. 10. 2013                                                                                                         andreas stix  / pixelio.de
 
Analphabeten am Computer
Erste Pisa-Studie für Erwachsene zeigt vielfältige Defizite auf

Wer als Erwachsener über Lesevermögen und Mathematikwissen sowie über digitale Kompetenz verfügt, kommt viel besser durchs Leben. In der ersten entsprechenden Pisa-Studie schneiden Japan, Finnland und die Niederlande sehr gut ab.

von Manfred Rist, Paris

Zehn Jahre nach der Lancierung der ersten Pisa-Studie zum Schulwissen* von Jugendlichen hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine erste entsprechende Untersuchung für Erwachsene vorgelegt. Dabei geht es nicht nur um eine Überprüfung und um Vergleiche in allgemeiner Kompetenz, darunter etwa das digitale Know-how. Die Ergebnisse geben auch Aufschluss über die Bedeutung des sozialen Hintergrunds.

Fußstapfen der Eltern

Letzterer, so ein Ergebnis der vergleichenden Erhebungen, ist beispielsweise für das Lesevermögen in Deutschland entscheidend. Kinder leseschwacher Eltern bewegen sich also in deren Fussstapfen. Dieser herausfordernde Befund trifft, wie die OECD betont, für Japan und Korea nicht zu.

In dem am Dienstag vorgestellten Bericht zu 24 Ländern, in dem die Schweiz noch nicht erfasst ist (wohl aber deren Nachbarländer), treten markante Unterschiede im Kompetenzniveau der 16- bis 65-Jährigen auf. Beispielsweise bei Lesevermögen und mathematischen Fähigkeiten: In beiden liegen Japan, Finnland, die Niederlande (sowie das flandrische Belgien) an der Spitze. Und auf beiden Skalen sind Italien, Spanien und Frankreich am Schluss aufgeführt.
 

In der Analyse der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird etwa explizit darauf verwiesen, dass Erwachsene mit Bildung auf Sekundarschulniveau in Japan und in den Niederlanden in den Tests gar besser abschneiden als Personen mit Universitätsausbildung in Italien oder Spanien. Die Ergebnisse der «Erhebung über die Fähigkeiten und Fertigkeiten Erwachsener» (PIAAC ) werden vielleicht nicht gleich hohe Wellen werfen wie die bereits bestens etablierten Pisa-Vergleiche. Aber sie werden in Zukunft sicherlich einen festen Platz bei der Erörterung der Erwachsenenbildung und der Weiterbildung am Arbeitsplatz einnehmen. Letztlich geht es um «human capital»: Das Datenmaterial zeigt nämlich ganz klar, dass man mit besserem Lesevermögen, rechnerischem Können und Computer-Skills wirtschaftlich besser fährt, am Arbeitsplatz wertvoller ist, besser bezahlt wird und sich allgemein besser fühlt, etwa auch bezüglich Gesundheit.

Arbeitsplatz wichtig

Dazu kommen ein paar banale Erkenntnisse, die man aber doch in Erinnerung rufen darf, weil sie vor allem eines zeigen: Schul- und Arbeitsjahre verbessern das Kompetenzniveau jeweils beträchtlich: Je länger jemand also die Schulbank drückt, umso besser schneidet er oder sie in den Bereichen Lesen (und Analysieren von Text), Rechnen sowie Problemlösen mit modernen Geräten wie Computer beziehungsweise Internet ab; und natürlich bildet auch der Einschluss ins Erwerbsleben entsprechend weiter, was weiter illustriert, dass Langzeitarbeitslosigkeit in der Regel auch Know-how-Verluste mit sich bringt.

Zwar zeigt das Datenmaterial, dass die älteren Jahrgänge tendenziell schlechter abschneiden als die jüngeren; doch je höher die Qualifikation am Arbeitsplatz, desto besser ist auch das Ranking. Deutschland und Österreich liegen bei den Resultaten im Mittelfeld, wobei zu berücksichtigen ist, dass auf der Skala (siehe Grafik) sieben Punkte etwa dem Zugewinn eines Schuljahrs entsprechen. Bei den USA und Kanada fällt auf, dass die Unterschiede im Fähigkeitsniveau in der Gesellschaft ausgeprägter sind als in Europa.

Wo sollte angesetzt werden? Die Studie zeigt auf, dass die grössten Defizite in allen Ländern bei der Problemlösung via Computer liegen. Am besten schneidet hier die Alterskategorie der 25- bis 34-Jährigen ab, die man auch als erste Gruppe der «digital natives» mit Arbeitserfahrung klassieren könnte. Bei den älteren Erwachsenen indessen liegen die Dinge im Argen: 27% der Personen zwischen 45 und 54 Jahren können Computer nicht bedienen, bei den 55- bis 65-Jährigen sind es sogar fast 58%, die keine Erfahrung mit einem Computer haben. Von der gesamten Stichprobe der Personen zwischen 16 und 65 Jahren schafft nur rund ein Drittel (Deutschland: 36%) ein komplizierteres Surfen oder Einsortieren von E-Mails.


*) Nota. 

Es ist nicht zu glauben: Selbst ein Weltblatt von der Qualität der NZZ erzählt uns das Märchen, in den PISA-Studien seit 2001 werde das Schulwissen getestet! Ebendas wird es nicht. Getestet wurde, was fünfzehnjährige junge Leute, die in den OECD-Ländern alle Schüler sind, im Leben anfangen können mit dem, was sie bislang - in der Schule oder sonstwo - gelernt haben. Ob das über die jeweiligen Schulsysteme etwas aussagt oder mehr über die sonst in den Ländern obwaltenden soziokulturellen Bedingungen, wäre Gegenstand weiterführender Erörterungen gewesen - aber nicht geworden, weil die interessierten Parteien sogleich über die Statistiken hergefallen sind und sie samt und sonders das haben sagen lassen, was der eine oder die andere sowieso schon immer gewusst hatte. (Witzig, dass auch diesml das flandrische Belgien aus dem Rahmen fällt!)

Die neuen Ergebnisse für die Erwachsenen haben den Vorzug, dass sie den interessierten Debatten über Schulformen nurmehr sehr mittelbar nutzbar zu machen sind. Man wird über die jeweils gegebenen soziokulturellen Bedingungen unmittelbar reden müssen - und verblüfft feststellen (denke ich doch), dass sie für die schulischen Systeme verantwortlich sind und nicht umgekehrt.
J.E.

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