Freitag, 11. Oktober 2013

Ist das amerikanische Jahrhundert doch noch nicht vorbei?

aus NZZ, 7.10. 2013


Wider die transatlantische Amnesie
Ob das amerikanische Jahrhundert zu Ende geht oder nicht, wird in Europa entschieden.  


Von Eric T. Hansen

Waren die USA einst das Land der Verheissung von Freiheit und Fortschritt, Würde und Wohlstand, haben sie diesen Nimbus heute stark eingebüsst. Noch sind sie die einzige weltweit agierende Supermacht, doch stehen sie politisch erschöpft und finanziell ausgelaugt da. Ihre Schwäche könnte Europas Chance sein.

Wir leben in apokalyptischen Zeiten. Hollywood produziert einen Zombie-Film nach dem anderen. Keine Woche geht vorbei, ohne dass die Welt von Aliens, Monstern und Robotern heimgesucht wird oder durch Viren, Krieg und Terrorismus ihr Ende findet. In Europa bevorzugt man ein anderes Ende, etwas leiser, aber ebenso dramatisch: Es wird auf den baldigen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems gewettet, auch die Demokratie scheint für viele ausgedient zu haben. Eines der wichtigsten Zeichen für das nahende Ende ist der Abtritt der USA als Weltmacht.

Denn Amerika ist nicht mehr das, was es einmal war. Durch den Irakkrieg, Guantánamo und den NSA-Skandal hat es seine einstige moralische Autorität eingebüsst. Das Land, das einst für Vielfalt und Freiheit stand, steht jetzt für Waffenwahn, Rassismus, Polizeistaat und Paranoia.

Die amerikanische Politik wird von verrückten Opportunisten dominiert, die nur noch den mächtigen Lobbys dienen, und das Zweiparteiensystem ist bis zum Gehtnichtmehr polarisiert, so dass der hoffnungslos überschuldete Staat eigentlich nicht mehr regiert werden kann. Bald wird das einst stolze, idealistische Land zu einem Entwicklungsland verkommen und an den Rand der Geschichte gedrängt.

Was unternimmt Amerika?

In den Einzelheiten stimmt all das auch. Die USA sind tatsächlich im wirtschaftlichen, politischen und moralischen Sinkflug begriffen. Nur die Schlussfolgerung daraus ist Wunschdenken: Sie werden ihre Rolle als Führungsnation der westlichen Welt nicht verlieren, und zwar aus einem einfachen Grund - es gibt kein anderes Land, das diese Rolle übernehmen will.

Es ist ein seltsamer Widerspruch: Fast jeden Tag höre oder lese ich als in Deutschland lebender Amerikaner, wie Amerika absteigt. Doch wenn die Nordkoreaner mit der Bombe fuchteln oder in Iran waffenfähiges Kernmaterial hergestellt wird, fragt niemand: Was wird Deutschland dagegen tun? Was China, Russland, die EU, die Uno oder die arabische Welt? Die drängende Frage lautet immer noch: Was unternimmt Amerika?

In den letzten Wochen haben wir dieses Phänomen auf exemplarische Weise wieder erleben können. Der Bürgerkrieg in Syrien tobt seit zwei Jahren, und schon früh stellten die Amerikaner die Frage, ob sie sich einmischen sollen oder nicht. Es wurde so lange in den Zeitungen diskutiert, bis die Politiker darauf reagieren mussten, und der Kongress diskutierte über die Frage so lange, bis Präsident Obama Stellung nehmen musste. Das tat er im August 2012: Die USA würden (abgesehen von Waffenlieferungen an Rebellen) nicht eingreifen, es sei denn, Asad setze Chemiewaffen ein. Als dieses Jahr tatsächlich Chemiewaffen zum Einsatz kamen, drohte Obama tatsächlich auch zu handeln.

Bis anhin hat kein anderes Land eine Intervention in Syrien ernsthaft in Betracht gezogen. Die Europäer haben sich über den Bürgerkrieg bestürzt gezeigt, aber die Frage ausgeklammert, ob sie eine Verantwortung haben, einzugreifen. Russland und China haben sich ähnlich geäussert und teilweise Syrien in Schutz genommen. Die muslimische Welt ist zerrissen. Viele Länder haben sich immer wieder für diplomatische Lösungen ausgesprochen, womit aber noch nichts getan ist.

Heile Welt der sechziger Jahre?

Erst als Obama mit einem militärischen Einsatz drohte, geriet die Weltgemeinschaft in Bewegung, und Russland machte den Vorstoss, Syrien könne doch einfach seine Chemiewaffen abgeben. Dieser so einfache wie schlaue Vorschlag hat den USA den Wind aus den Segeln genommen, aber nicht nur das: Er hat auch gezeigt, wie leicht es ist, den USA den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wenn die Weltpolizei-Rolle Barack Obama wichtig gewesen wäre, hätte er einen militärischen Einsatz trotz dem russischen Vorschlag durchgesetzt. Aber er war eher erleichtert, dass jemand anders Verantwortung übernahm.

In den letzten Jahren wäre es für Russland, China oder auch für Deutschland ein Leichtes gewesen, einen solchen Vorschlag vor die Uno zu bringen. Aber keiner hat es getan, denn alle sind froh, wenn jemand anders es macht. Wenn ein Europäer die Vereinigten Staaten betrachtet, stellt sich ein merkwürdiges Phänomen ein, das ich «transatlantische Amnesie» nenne. Er vergisst, dass er alles schon vorher gesehen hat, und jedes neue Phänomen scheint einmalig bedrohlich zu sein.

Vor nicht allzu langer Zeit sprach ich mit einem besorgten Herrn über die politische Polarisierung in meiner Heimat. Er meinte, noch nie sei es um Amerika so schlecht bestellt gewesen wie heute, und verwies auf die Tea-Party-Bewegung. Es war eine rätselhafte Aussage, denn er war älter als ich, und schon ich hatte in Amerika schlimmere Dinge als die Tea-Party gesehen.

Die mächtige John Birch Society, zum Beispiel, die während des Kalten Krieges unbedingt die Sowjetunion angreifen wollte. Noch radikaler waren die Know-Nothings im 19. Jahrhundert, die sämtliche eingewanderten Deutschen abschieben wollten, und diese wiederum waren nichts gegen den ersten Ku-Klux-Klan, der kurz nach dem Bürgerkrieg die sogenannten Jim-Crow-Gesetze ermöglichte, die die jüngst befreiten Sklaven wieder entrechteten. Ist eine Sarah Palin wirklich schlimmer als Joe McCarthy? George W. Bush Jr. schlimmer als Richard Nixon? Und der Irakkrieg schlimmer als Vietnam?

Wir idealisieren die sechziger Jahre als eine Art Ur-Amerika, als Amerika, so wie es sein soll. Aus der Epoche Kennedys beziehen wir unsere Vorstellung von amerikanischer Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Und vergessen dabei, dass die Armut damals bei 19 Prozent lag (heute bei 15 Prozent) und dass Kennedy selbst diverse Attentate und Putschversuche in Lateinamerika veranlasste, den Vietnamkrieg initiierte und in der Kubakrise die Welt so nah an den Rand eines Atomkrieges brachte wie nie zuvor und nie wieder. Nüchtern betrachtet gibt es zwischen Kennedy und George Bush Jr. keinen grossen Unterschied. Doch für uns ist Kennedy der noble Ritter auf dem Schimmel und Bush der grösste Bösewicht aller Zeiten.

Wir bewerten die heutige Entwicklung als eine nie da gewesene Abkehr von dem idealen Amerika, das wir alle lieben, aber - geben wir es ruhig zu - in Wahrheit tut das Land bloss weiterhin das, was es immer getan hat. Dieses Über-Amerika gab es in Wirklichkeit nie. Was sich verändert hat, ist unsere Perspektive. Europa sieht Amerika heute anders, weil es heute ein anderes Amerika braucht: einen Widerpart.

Man kann viel über das Selbstbild der Europäer lernen, indem man die Geschichte des europäischen Antiamerikanismus studiert, wie es Philippe Roger in seinem Buch «Der amerikanische Feind» getan hat. Alles begann mit der Angst Europas, seine internationale Führungsrolle an Amerika zu verlieren. Und das, bevor es die Vereinigten Staaten überhaupt gab: Schon 1766 versicherte der Naturforscher Comte de Buffon seinen Landsleuten, ein Staat in Nordamerika könne nie «gross» werden, da selbst die Pflanzen und Tiere dort im Vergleich zur europäischen Natur «klein» - und daher minderwertig - seien. Diese Theorie verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter der französischen Elite und sorgte für enorme Erleichterung. - Amerika übernahm tatsächlich die Führungsrolle der westlichen Welt, doch war das erst möglich, als Europa selber diese aus der Hand gab. In den beiden Weltkriegen versank es in Chaos und Hilflosigkeit, und im Kalten Krieg war es nicht in der Lage, sich allein gegen die Sowjetunion zur Wehr zu setzen. Das sogenannte «amerikanische Jahrhundert» entstand, weil Europa immer wieder von den USA gerettet werden musste.

Im Schatten des grossen Bruders

Auch moralisch: Im Zeitalter des Faschismus zeigte Europa, dass seine aufgeklärte Bürgerlichkeit oft nur Schein war; durch die Diktaturen, die in Spanien bis 1975 und in Osteuropa erzwungenermassen bis 1989 herrschten, wurde klar, dass es auf dem Kontinent mit der Demokratie nicht zum Besten stand. Im Epochenjahr 1989 änderte sich alles: Europa brauchte Amerika nicht mehr und konnte langsam daran gehen, das verlorene Selbstvertrauen wiederzugewinnen und aus dem Schatten des grossen Bruders herauszutreten.

Wenn man sich von seinem alten Lehrmeister lösen will, hilft es ganz entscheidend, dessen Fehler zu erkennen. Das ist der Grund, warum wir heute in ganz Europa eine Phase übertriebenen USA-Bashings erleben: Je mehr Amerikas (sehr reale) Sünden hervorgekehrt werden, desto mehr verblassen im Vergleich die europäischen Laster. Im ständigen Vergleich mit den USA formt sich so ein positives europäisches Selbstbild: Im Gegensatz zu den Amerikanern haben die Europäer eine vernünftige Gesundheitsversorgung, sie sind keine Waffennarren, Europas Politik ist gut funktionsfähig und verstrickt sich nicht in aussichtslosen Kriegen - es sei denn, aus gutgemeinter, aber irregeleiteter Loyalität zu ihrem politisch korrupten transatlantischen Partner. - Dazu gehört auch die Phantasie, dass Amerika sinkt, fällt oder gar verschwindet.

Das ist alles legitim, aber es ist nicht alles. Denn in dieser Situation verbirgt sich eine grössere, noch unerkannte Chance für Europa, als nur das eigene Selbstbild aufzupolieren. Eine Chance, die Europa gerade im Begriff ist, zu verschenken. In der «Süddeutschen Zeitung» vom Mai dieses Jahres hielt der ehemalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer warnend fest: «Vor unseren Augen nimmt gegenwärtig eine postamerikanische Welt Gestalt an, die allerdings nicht durch eine neue Ordnung abgelöst wird, sondern vielmehr durch machtpolitische Ambivalenzen, Instabilität, ja Chaos.» Fischer forderte den «europäischen Hühnerhof» und vor allem Deutschland auf, die Rolle anzunehmen oder mindestens zu ergänzen, die Amerika ausübt.

Fischer ist nicht der Einzige. Die Appelle an Europa, entschlossener und internationaler zu handeln, häufen sich von Monat zu Monat. Es geht dabei gar nicht um militärische Aktionen in entfernten Krisenherden wie Syrien, sondern um die Etablierung einer starken, gemeinsamen politischen Position. Man sollte es ruhig aussprechen: Europa hat das Potenzial, vielleicht sogar die Verantwortung, zur dritten Supermacht des 21. Jahrhunderts zu werden. Der internationalen Gemeinschaft ist es längst aufgefallen, dass die EU neben den USA und China zu den drei grössten Wirtschaftsmächten der Welt zählt. Sollte es der EU gelingen, ihre 28 Kleinstaaten in eine gemeinsame politische Föderation einzubinden, die als geschlossene politische Einheit nach innen und nach aussen wirkt, gäbe es neben Amerika und China eine dritte Supermacht auf der Welt.

Das ist trotz der derzeitigen Finanzkrise, ja eigentlich nur wegen ihr möglich, weil die Regierungen der angeschlagenen europäischen Staaten derzeit keine Wahl haben, als enger miteinander zu kooperieren. So ist es heute - und nur heute - denkbar, die Befugnisse der Europäischen Zentralbank zuungunsten der nationalen Zentralbanken auszubauen und damit eine zentrale europäische Finanzpolitik zu schaffen. Das wäre wiederum der erste Schritt zu einem föderalen Europa.

Die Gunst der Stunde wird nicht ewig dauern. Europa hat vermutlich nur etwa zehn Jahre Zeit, vielleicht weniger, um die momentane Schwäche Amerikas auszunutzen. 2012 schätzte die Internationale Energieagentur (IEA) in einem Bericht, dass die USA bis zum Jahr 2020 dank der neuen Fördertechnologie «Fracking» nicht mehr auf Ölimporte angewiesen sein, sondern im Gegenteil zu einem der wichtigsten Ölexporteure der Welt aufsteigen werden. Damit wird der wirtschaftliche Abschwung vermutlich gestoppt werden. In etwa zehn Jahren ist wieder mit einer starken, selbstbewussten amerikanischen Supermacht zu rechnen.

Nur momentane Schwäche

Ob Europa dann zu den Grossen gehört und die Spielregeln mitbestimmt oder ob es eine Ansammlung von kleinen, hilflosen Einzelstaaten bleibt, die sich folgsam an den Grossen - an China und den USA - orientieren, das wird sich in den nächsten paar Jahren entscheiden.

Viele Europäer freuen sich, dass die Kräfte der USA momentan am Schwinden sind, weil sie das Gefühl haben, dass jene Europas im Vergleich dazu steigen. Tatsache ist aber, dass Europa genauso an Machtschwund leidet, so dass sich im Verhältnis faktisch gar nichts ändert. Will Europa wieder aufsteigen, reicht es nicht, mit dem Finger auf Amerika zu zeigen - es muss selber aktiv werden.

Wie ich die Europäer kenne, genügt es ihnen, die momentane Schwäche Amerikas genüsslich zu betrachten und zu kommentieren, anstatt die Situation zum eigenen Vorteil auszunutzen. Das ist gut für uns Amerikaner, denn nach einer kurzen Pause geht das amerikanische Jahrhundert dann eben weiter. Es ist nur schade um das europäische Jahrhundert, das ich gern gesehen hätte.

Eric T. Hansen, Jahrgang 1960, ist ein amerikanischer Autor, Journalist und Satiriker. Er lebt seit 25 Jahren in Deutschland und publiziert auch auf Deutsch. Er verfasst eine politische Kolumne für «Zeit Online». Sein jüngstes Buch trägt den Titel «Die ängstliche Supermacht: Warum Deutschland endlich erwachsen werden muss» (Lübbe-Verlag). - Beim abgedruckten Text handelt es sich um den Vortrag, den der Autor im Rahmen des NZZ-Podiums «Amerika - Mission und Wirklichkeit» gehalten hat. Siehe: www.nzzpodium.ch.


Nota.

Solange er Außenminister war, machte Joschka Fischer nicht gerade den Eindruck, als folgte er einer bestimmten weltpolitische Orientierung. Wenn sich das geändert hat, kann man es nur begrüßen. Aber er entscheidet ja nichts mehr. 
J.E. 

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