Wider die transatlantische Amnesie
Ob das amerikanische Jahrhundert zu Ende geht oder nicht, wird in Europa entschieden.
Von Eric T. Hansen
Ob das amerikanische Jahrhundert zu Ende geht oder nicht, wird in Europa entschieden.
Von Eric T. Hansen
Waren die USA einst das Land der Verheissung
von Freiheit und Fortschritt, Würde und Wohlstand, haben sie diesen
Nimbus heute stark eingebüsst. Noch sind sie die einzige weltweit
agierende Supermacht, doch stehen sie politisch erschöpft und finanziell
ausgelaugt da. Ihre Schwäche könnte Europas Chance sein.
Wir leben in apokalyptischen Zeiten. Hollywood produziert einen Zombie-Film nach dem anderen. Keine Woche geht vorbei, ohne dass die Welt von Aliens, Monstern und Robotern heimgesucht wird oder durch Viren, Krieg und Terrorismus ihr Ende findet. In Europa bevorzugt man ein anderes Ende, etwas leiser, aber ebenso dramatisch: Es wird auf den baldigen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems gewettet, auch die Demokratie scheint für viele ausgedient zu haben. Eines der wichtigsten Zeichen für das nahende Ende ist der Abtritt der USA als Weltmacht.
Denn Amerika ist nicht mehr das,
was es einmal war. Durch den Irakkrieg, Guantánamo und den NSA-Skandal
hat es seine einstige moralische Autorität eingebüsst. Das Land, das
einst für Vielfalt und Freiheit stand, steht jetzt für Waffenwahn,
Rassismus, Polizeistaat und Paranoia.
Die amerikanische Politik wird von
verrückten Opportunisten dominiert, die nur noch den mächtigen Lobbys
dienen, und das Zweiparteiensystem ist bis zum Gehtnichtmehr
polarisiert, so dass der hoffnungslos überschuldete Staat eigentlich
nicht mehr regiert werden kann. Bald wird das einst stolze,
idealistische Land zu einem Entwicklungsland verkommen und an den Rand
der Geschichte gedrängt.
Was unternimmt Amerika?
In den Einzelheiten stimmt all das
auch. Die USA sind tatsächlich im wirtschaftlichen, politischen und
moralischen Sinkflug begriffen. Nur die Schlussfolgerung daraus ist
Wunschdenken: Sie werden ihre Rolle als Führungsnation der westlichen
Welt nicht verlieren, und zwar aus einem einfachen Grund - es gibt kein
anderes Land, das diese Rolle übernehmen will.
Es ist ein seltsamer Widerspruch:
Fast jeden Tag höre oder lese ich als in Deutschland lebender
Amerikaner, wie Amerika absteigt. Doch wenn die Nordkoreaner mit der
Bombe fuchteln oder in Iran waffenfähiges Kernmaterial hergestellt wird,
fragt niemand: Was wird Deutschland dagegen tun? Was China, Russland,
die EU, die Uno oder die arabische Welt? Die drängende Frage lautet
immer noch: Was unternimmt Amerika?
In den letzten Wochen haben wir
dieses Phänomen auf exemplarische Weise wieder erleben können. Der
Bürgerkrieg in Syrien tobt seit zwei Jahren, und schon früh stellten die
Amerikaner die Frage, ob sie sich einmischen sollen oder nicht. Es
wurde so lange in den Zeitungen diskutiert, bis die Politiker darauf
reagieren mussten, und der Kongress diskutierte über die Frage so lange,
bis Präsident Obama Stellung nehmen musste. Das tat er im August 2012:
Die USA würden (abgesehen von Waffenlieferungen an Rebellen) nicht
eingreifen, es sei denn, Asad setze Chemiewaffen ein. Als dieses Jahr
tatsächlich Chemiewaffen zum Einsatz kamen, drohte Obama tatsächlich
auch zu handeln.
Bis anhin hat kein anderes Land
eine Intervention in Syrien ernsthaft in Betracht gezogen. Die Europäer
haben sich über den Bürgerkrieg bestürzt gezeigt, aber die Frage
ausgeklammert, ob sie eine Verantwortung haben, einzugreifen. Russland
und China haben sich ähnlich geäussert und teilweise Syrien in Schutz
genommen. Die muslimische Welt ist zerrissen. Viele Länder haben sich
immer wieder für diplomatische Lösungen ausgesprochen, womit aber noch
nichts getan ist.
Heile Welt der sechziger Jahre?
Erst als Obama mit einem
militärischen Einsatz drohte, geriet die Weltgemeinschaft in Bewegung,
und Russland machte den Vorstoss, Syrien könne doch einfach seine
Chemiewaffen abgeben. Dieser so einfache wie schlaue Vorschlag hat den
USA den Wind aus den Segeln genommen, aber nicht nur das: Er hat auch
gezeigt, wie leicht es ist, den USA den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Wenn die Weltpolizei-Rolle Barack Obama wichtig gewesen wäre, hätte er
einen militärischen Einsatz trotz dem russischen Vorschlag durchgesetzt.
Aber er war eher erleichtert, dass jemand anders Verantwortung
übernahm.
In den letzten Jahren wäre es für
Russland, China oder auch für Deutschland ein Leichtes gewesen, einen
solchen Vorschlag vor die Uno zu bringen. Aber keiner hat es getan, denn
alle sind froh, wenn jemand anders es macht. Wenn ein Europäer die
Vereinigten Staaten betrachtet, stellt sich ein merkwürdiges Phänomen
ein, das ich «transatlantische Amnesie» nenne. Er vergisst, dass er
alles schon vorher gesehen hat, und jedes neue Phänomen scheint einmalig
bedrohlich zu sein.
Vor nicht allzu langer Zeit sprach
ich mit einem besorgten Herrn über die politische Polarisierung in
meiner Heimat. Er meinte, noch nie sei es um Amerika so schlecht
bestellt gewesen wie heute, und verwies auf die Tea-Party-Bewegung. Es
war eine rätselhafte Aussage, denn er war älter als ich, und schon ich
hatte in Amerika schlimmere Dinge als die Tea-Party gesehen.
Die mächtige John Birch Society,
zum Beispiel, die während des Kalten Krieges unbedingt die Sowjetunion
angreifen wollte. Noch radikaler waren die Know-Nothings im 19.
Jahrhundert, die sämtliche eingewanderten Deutschen abschieben wollten,
und diese wiederum waren nichts gegen den ersten Ku-Klux-Klan, der kurz
nach dem Bürgerkrieg die sogenannten Jim-Crow-Gesetze ermöglichte, die
die jüngst befreiten Sklaven wieder entrechteten. Ist eine Sarah Palin
wirklich schlimmer als Joe McCarthy? George W. Bush Jr. schlimmer als
Richard Nixon? Und der Irakkrieg schlimmer als Vietnam?
Wir idealisieren die sechziger
Jahre als eine Art Ur-Amerika, als Amerika, so wie es sein soll. Aus der
Epoche Kennedys beziehen wir unsere Vorstellung von amerikanischer
Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Und vergessen dabei, dass die
Armut damals bei 19 Prozent lag (heute bei 15 Prozent) und dass Kennedy
selbst diverse Attentate und Putschversuche in Lateinamerika
veranlasste, den Vietnamkrieg initiierte und in der Kubakrise die Welt
so nah an den Rand eines Atomkrieges brachte wie nie zuvor und nie
wieder. Nüchtern betrachtet gibt es zwischen Kennedy und George Bush Jr.
keinen grossen Unterschied. Doch für uns ist Kennedy der noble Ritter
auf dem Schimmel und Bush der grösste Bösewicht aller Zeiten.
Wir bewerten die heutige
Entwicklung als eine nie da gewesene Abkehr von dem idealen Amerika, das
wir alle lieben, aber - geben wir es ruhig zu - in Wahrheit tut das
Land bloss weiterhin das, was es immer getan hat. Dieses Über-Amerika
gab es in Wirklichkeit nie. Was sich verändert hat, ist unsere
Perspektive. Europa sieht Amerika heute anders, weil es heute ein
anderes Amerika braucht: einen Widerpart.
Man kann viel über das Selbstbild
der Europäer lernen, indem man die Geschichte des europäischen
Antiamerikanismus studiert, wie es Philippe Roger in seinem Buch «Der
amerikanische Feind» getan hat. Alles begann mit der Angst Europas,
seine internationale Führungsrolle an Amerika zu verlieren. Und das,
bevor es die Vereinigten Staaten überhaupt gab: Schon 1766 versicherte
der Naturforscher Comte de Buffon seinen Landsleuten, ein Staat in
Nordamerika könne nie «gross» werden, da selbst die Pflanzen und Tiere
dort im Vergleich zur europäischen Natur «klein» - und daher
minderwertig - seien. Diese Theorie verbreitete sich wie ein Lauffeuer
unter der französischen Elite und sorgte für enorme Erleichterung. -
Amerika übernahm tatsächlich die Führungsrolle der westlichen Welt, doch
war das erst möglich, als Europa selber diese aus der Hand gab. In den
beiden Weltkriegen versank es in Chaos und Hilflosigkeit, und im Kalten
Krieg war es nicht in der Lage, sich allein gegen die Sowjetunion zur
Wehr zu setzen. Das sogenannte «amerikanische Jahrhundert» entstand,
weil Europa immer wieder von den USA gerettet werden musste.
Im Schatten des grossen Bruders
Auch moralisch: Im Zeitalter des
Faschismus zeigte Europa, dass seine aufgeklärte Bürgerlichkeit oft nur
Schein war; durch die Diktaturen, die in Spanien bis 1975 und in
Osteuropa erzwungenermassen bis 1989 herrschten, wurde klar, dass es auf
dem Kontinent mit der Demokratie nicht zum Besten stand. Im Epochenjahr
1989 änderte sich alles: Europa brauchte Amerika nicht mehr und konnte
langsam daran gehen, das verlorene Selbstvertrauen wiederzugewinnen und
aus dem Schatten des grossen Bruders herauszutreten.
Wenn man sich von seinem alten
Lehrmeister lösen will, hilft es ganz entscheidend, dessen Fehler zu
erkennen. Das ist der Grund, warum wir heute in ganz Europa eine Phase
übertriebenen USA-Bashings erleben: Je mehr Amerikas (sehr reale) Sünden
hervorgekehrt werden, desto mehr verblassen im Vergleich die
europäischen Laster. Im ständigen Vergleich mit den USA formt sich so
ein positives europäisches Selbstbild: Im Gegensatz zu den Amerikanern
haben die Europäer eine vernünftige Gesundheitsversorgung, sie sind
keine Waffennarren, Europas Politik ist gut funktionsfähig und
verstrickt sich nicht in aussichtslosen Kriegen - es sei denn, aus
gutgemeinter, aber irregeleiteter Loyalität zu ihrem politisch korrupten
transatlantischen Partner. - Dazu gehört auch die Phantasie, dass
Amerika sinkt, fällt oder gar verschwindet.
Das ist alles legitim, aber es ist
nicht alles. Denn in dieser Situation verbirgt sich eine grössere, noch
unerkannte Chance für Europa, als nur das eigene Selbstbild
aufzupolieren. Eine Chance, die Europa gerade im Begriff ist, zu
verschenken. In der «Süddeutschen Zeitung» vom Mai dieses Jahres hielt
der ehemalige deutsche Aussenminister Joschka Fischer warnend fest: «Vor
unseren Augen nimmt gegenwärtig eine postamerikanische Welt Gestalt an,
die allerdings nicht durch eine neue Ordnung abgelöst wird, sondern
vielmehr durch machtpolitische Ambivalenzen, Instabilität, ja Chaos.»
Fischer forderte den «europäischen Hühnerhof» und vor allem Deutschland
auf, die Rolle anzunehmen oder mindestens zu ergänzen, die Amerika
ausübt.
Fischer ist nicht der Einzige. Die
Appelle an Europa, entschlossener und internationaler zu handeln,
häufen sich von Monat zu Monat. Es geht dabei gar nicht um militärische
Aktionen in entfernten Krisenherden wie Syrien, sondern um die
Etablierung einer starken, gemeinsamen politischen Position. Man sollte
es ruhig aussprechen: Europa hat das Potenzial, vielleicht sogar die
Verantwortung, zur dritten Supermacht des 21. Jahrhunderts zu werden.
Der internationalen Gemeinschaft ist es längst aufgefallen, dass die EU
neben den USA und China zu den drei grössten Wirtschaftsmächten der Welt
zählt. Sollte es der EU gelingen, ihre 28 Kleinstaaten in eine
gemeinsame politische Föderation einzubinden, die als geschlossene
politische Einheit nach innen und nach aussen wirkt, gäbe es neben
Amerika und China eine dritte Supermacht auf der Welt.
Das ist trotz der derzeitigen
Finanzkrise, ja eigentlich nur wegen ihr möglich, weil die Regierungen
der angeschlagenen europäischen Staaten derzeit keine Wahl haben, als
enger miteinander zu kooperieren. So ist es heute - und nur heute -
denkbar, die Befugnisse der Europäischen Zentralbank zuungunsten der
nationalen Zentralbanken auszubauen und damit eine zentrale europäische
Finanzpolitik zu schaffen. Das wäre wiederum der erste Schritt zu einem
föderalen Europa.
Die Gunst der Stunde wird nicht
ewig dauern. Europa hat vermutlich nur etwa zehn Jahre Zeit, vielleicht
weniger, um die momentane Schwäche Amerikas auszunutzen. 2012 schätzte
die Internationale Energieagentur (IEA) in einem Bericht, dass die USA
bis zum Jahr 2020 dank der neuen Fördertechnologie «Fracking» nicht mehr
auf Ölimporte angewiesen sein, sondern im Gegenteil zu einem der
wichtigsten Ölexporteure der Welt aufsteigen werden. Damit wird der
wirtschaftliche Abschwung vermutlich gestoppt werden. In etwa zehn
Jahren ist wieder mit einer starken, selbstbewussten amerikanischen
Supermacht zu rechnen.
Nur momentane Schwäche
Ob Europa dann zu den Grossen
gehört und die Spielregeln mitbestimmt oder ob es eine Ansammlung von
kleinen, hilflosen Einzelstaaten bleibt, die sich folgsam an den Grossen
- an China und den USA - orientieren, das wird sich in den nächsten
paar Jahren entscheiden.
Viele Europäer freuen sich, dass
die Kräfte der USA momentan am Schwinden sind, weil sie das Gefühl
haben, dass jene Europas im Vergleich dazu steigen. Tatsache ist aber,
dass Europa genauso an Machtschwund leidet, so dass sich im Verhältnis
faktisch gar nichts ändert. Will Europa wieder aufsteigen, reicht es
nicht, mit dem Finger auf Amerika zu zeigen - es muss selber aktiv
werden.
Wie ich die Europäer kenne, genügt
es ihnen, die momentane Schwäche Amerikas genüsslich zu betrachten und
zu kommentieren, anstatt die Situation zum eigenen Vorteil auszunutzen.
Das ist gut für uns Amerikaner, denn nach einer kurzen Pause geht das
amerikanische Jahrhundert dann eben weiter. Es ist nur schade um das
europäische Jahrhundert, das ich gern gesehen hätte.
Eric T. Hansen, Jahrgang 1960, ist ein amerikanischer Autor, Journalist und Satiriker. Er lebt seit 25 Jahren in Deutschland und publiziert auch auf Deutsch. Er verfasst eine politische Kolumne für «Zeit Online». Sein jüngstes Buch trägt den Titel «Die ängstliche Supermacht: Warum Deutschland endlich erwachsen werden muss» (Lübbe-Verlag). - Beim abgedruckten Text handelt es sich um den Vortrag, den der Autor im Rahmen des NZZ-Podiums «Amerika - Mission und Wirklichkeit» gehalten hat. Siehe: www.nzzpodium.ch.
Nota.
Solange er Außenminister war, machte Joschka Fischer nicht gerade den Eindruck, als folgte er einer bestimmten weltpolitische Orientierung. Wenn sich das geändert hat, kann man es nur begrüßen. Aber er entscheidet ja nichts mehr.
J.E.
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