Roma? Sinti? Zigeuner?
Verbreitete Unsicherheit im medialen Umgang mit Europas grösster Minderheit
Seit der Personenfreizügigkeit in Europa sind die Roma in die Schlagzeilen gerückt. Im Bemühen um politische Korrektheit entstehen jedoch Berührungsängste. Das erschwert die Berichterstattung.
Verbreitete Unsicherheit im medialen Umgang mit Europas grösster Minderheit
Seit der Personenfreizügigkeit in Europa sind die Roma in die Schlagzeilen gerückt. Im Bemühen um politische Korrektheit entstehen jedoch Berührungsängste. Das erschwert die Berichterstattung.
von Martin Woker
Wie einfach haben es doch die
Englischsprachigen. Sie können von «gypsies» sprechen oder schreiben,
ohne dass ihnen jemand schlechte Absichten unterstellen würde. Nicht so
die Deutschsprachigen. Der Begriff Zigeuner ist politisch höchst
unkorrekt. Man sagt Roma, wurde uns in den letzten zwei Jahrzehnten
gelehrt. Und das respektieren gar jene, die sich sonst rühmen, die Dinge
beim Namen zu nennen. Von «Roma-Raubzügen» schrieb ein hiesiges
Wochenblatt im Vorjahr; es erzeugte damit (und mit einem provokativen
Titelblatt) breite Empörung und handelte sich eine Rüge des Presserats
ein. Jene, die keine Gelegenheit verpassen, sogenannte Gutmenschen in
die Pfanne zu hauen, waren um eine Lehre reicher: Selbst politisch
korrektes Vokabular schützt vor Strafe nicht.
Etwas stimmt da nicht
Gar doppelt verboten wäre, was in
balkanischen Revolverblättern noch üblich ist: das Wort
Zigeunerkriminalität. Eine erwiesenermassen benachteiligte und
marginalisierte Minderheit darf man hierzulande nicht pauschal
verurteilen. Selbst wenn nach Straftaten alle Indizien auf die
Täterschaft eines Roma-Clans hindeuten, wird in offiziellen
Verlautbarungen im westlichen Europa auf eine allfällige ethnische
Zuschreibung meist verzichtet.
Irritierend daran ist, dass viele
der Angehörigen dieser Minderheit sich selbst als Zigeuner bezeichnen.
Den Plural ihrer Eigenbezeichnung, Roma, kennen sie allenfalls vom
Hörensagen, aber weder die männliche Form Singular (Rom) noch die
weibliche Form (Romni) ist ihnen geläufig. Irgendetwas stimmt da nicht.
Doch was?
In Europa leben zwischen acht und
zwölf Millionen Roma. Dass dem so ist, wurde einer breiteren
Öffentlichkeit erst mit dem Gewähren der Personenfreizügigkeit für die
EU-Staaten im Osten und Südosten Europas überhaupt bewusst. Mit eigenen
Augen gesehen hatte man bis dahin «Zigeuner» allenfalls in der Camargue.
In Liederbüchern und Filmen waren sie romantisch überhöht aufgetaucht.
Und man glaubte zu wissen, es handle sich bei ihnen um die letzten nicht
sesshaften Europäer. Zum medial verbreiteten Allgemeinwissen zählte die
chronische Knappheit der Standplätze für Fahrende, was periodisch
Lokalbehörden in Not brachte und immer noch bringt. Dieser Dauerbrenner
in der Regionalberichterstattung festigte den Umstand, dass Fahrende und
Zigeuner synonym verwendet wurden und darob eine heillose
Begriffsverwirrung entstand, die bis heute anhält.
Verbreitetes Unwissen
Die Ursache der Unschärfe gründet
in einem verbreiteten Unwissen über Europas grösste ethnische
Minderheit. Hinzu kommt eine gewisse Berührungsangst seitens
wohlmeinender Medienleute. Das Thema ist ein mediales Minenfeld. Es
droht den Autoren die Gefahr, als Rassist oder Naivling hingestellt zu
werden. Fachkundige Anleitung tut not. Der Sache angenommen hat sich die
deutsche Südosteuropa-Gesellschaft unlängst an einer Konferenz zum
Thema der Bildungssituation von Roma. Aus aktuellem Anlass wurde die
Lage in Duisburg thematisiert, wo im Quartier Rheinhausen das Verhalten
rumänischer Zuwanderer die Medien in Atem hält. Der Fall ist
beispielhaft für eine Situation, die derzeit von Skandinavien bis
Italien für Schlagzeilen sorgt.
Die Ursache der Aufregung ist
jeweils ähnlich: eine örtliche Massierung von Zuwanderern aus
Südosteuropa, die mangels Alternative in einer ghettoähnlichen Umgebung
leben. Bei den Bewohnern dieser teilweise illegalen Siedlungen und
überbelegten Wohnbauten handelt es sich fast ausschliesslich um Roma.
Allein diesen Umstand zu erwähnen, fällt deutschen Amtsstellen aber
schwer, weil sie sich um keinen Preis dem Vorwurf des Antiziganismus
aussetzen wollen. Mit gutem Grund. Im Bundesland Baden-Württemberg soll
Antiziganismus noch in diesem Jahr zum Straftatbestand erhoben werden.
Speziell in Deutschland ist politische Korrektheit im Umgang mit Roma
wohl begründet. Dem Rassenwahn der nationalsozialistischen Ideologie
sind in Vernichtungslagern über 200 000 Roma zum Opfer gefallen.
Seltsame Doppelbezeichnung
Im Zuge der lange schleppend
vorangekommenen Aufarbeitung dieses Unrechts etablierte sich als
führende Dachorganisation aller einstigen Opfer der Zentralrat Deutscher
Sinti und Roma. Die Bedeutung dieses Gremiums und dessen mediale
Präsenz hatten in Deutschland zur Folge, dass «Sinti und Roma» zur
stehenden Wendung wurde. Entwicklungsgeschichtlich ist der Begriff wenig
sinnvoll, weil es sich bei den Sinti um eine Untergruppe der Roma
handelt, die seit dem 18. Jahrhundert im heutigen Deutschland
beheimatet ist und dort teilweise assimiliert wurde. Doch es bleibt
dabei: Wer sich in Deutschland korrekt ausdrücken will, verwendet stets
den Doppelbegriff «Sinti und Roma» - wenn auch der Singular, nämlich
Sinto und Sintiza, nur wenigen geläufig ist.
Schwierig wird die Sache nun im
Fall von Duisburg und jenen vielen andern Orten, wo Roma aus
Südosteuropa zum medialen Thema werden; Sinti sind meist keine unter
ihnen. Sie aber einfach nach ihrer nationalen Herkunft zu benennen -
Ungarn, Slowaken, Bulgaren, Serben, Albaner - geht auch nicht, weil in
diesem Fall unweigerlich die jeweilen diplomatischen Gesandtschaften
Protest einlegen. In Sofia, Budapest, Pristina, Belgrad und Bukarest ist
man der negativen Schlagzeilen satt, die, so heisst es jeweils, «von
einer kleinen Minderheit ihrer Landleute» verursacht werden und der
Mehrheitsbevölkerung eine beträchtliche Rufschädigung beifügten.
Im Falle des Strassenstrichs in
Zürich, wo junge Prostituierte aus Ostungarn für Schlagzeilen sorgten,
war es im Interesse der ungarischen Behörden, die betreffenden Frauen
als Roma bezeichnet zu sehen. Die Präzisierung ist ihnen wichtig.
Der prüfende Blick
Viele Bewohner des Balkans und
Mittelosteuropas rühmen sich, ihrem Gegenüber eine allfällige
Roma-Abstammung anzusehen, unbesehen davon, ob Name oder Aussehen einen
Hinweis darauf geben. Während der sozialistischen Regierungszeit waren
die Roma insofern kein Thema, als sie von offizieller Seite als
unterprivilegierte Gesellschaftsschicht galten. Deren vollständige
Integration in die Gesellschaft der Werktätigen war das Ziel.
Sesshaftigkeit, wo nicht vorhanden, wurde behördlich verordnet. Über die
Einhaltung der Schulpflicht wachte die Polizei, und die Möglichkeit zu
unqualifizierter Arbeit in Staatsbetrieben wurde, wo nicht ohnehin
vorhanden, für die Roma geschaffen. Als Folge dieser oft mit
menschenverachtender Härte durchgeführten Politik erreichte die
Assimilation der Roma besonders in Rumänien einen vergleichsweise hohen
Stand.
Die Situation änderte sich
schlagartig nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme.
Die Roma-Bevölkerung war auf den Systemwechsel am schlechtesten
vorbereitet. Im Zug der Privatisierung von Staatsbetrieben fielen die
Jobs für Unqualifizierte als erste dem Zwang zur
Produktivitätssteigerung zum Opfer. Und für den Erwerb von ehemals
staatlichem Wohnraum fehlte den über Nacht mit Erwerbslosigkeit
konfrontierten Roma das nötige Geld. Eine der Folgen davon war die
Bildung informeller Roma-Quartiere, wie es sie in den Städten
Südosteuropas vor der Systemwende nicht gegeben hatte. Weil Kinder in
solchen Vierteln oft zum wirtschaftlichen Überleben der Familien
beitragen müssen, gehen sie kaum zur Schule. Die Folge ist ein
wachsender Analphabetismus in den Roma-Ghettos Südosteuropas,
demgegenüber die staatlichen Institutionen wegen fehlender Mittel meist
hilflos sind.
Staatliche Förderprogramme für
Roma in Osteuropa, oft von Mitteln der EU alimentiert, lösen
unweigerlich Neid unter den andern Verlierern des Systemwechsels aus.
Ausdruck davon sind jeweils Aufmärsche rechtsextremer Nationalisten in
Roma-Quartieren, wie sie regelmässig in Ungarn, aber auch in andern
Ländern im Osten Europas zu beobachten sind. Auch in Deutschland zieht
die medial aufbereitete Aufregung über Roma jeweils rechtsextreme
Bewegungen an, die auf den Zug eines latenten Hasses auf alles
Zigeunerische aufzuspringen versuchen. So hatte die unter dem Namen «Pro
Deutschland» firmierende ausländerfeindliche Bewegung in Duisburg die
Lage auszunutzen versucht. Mehrere hundert Gegendemonstranten stellten
sich dem Aufmarsch schliesslich entgegen.
Die Lokalbehörden gerieten
zwischen die Fronten, weil sie über die tatsächlichen Probleme in dem
betroffenen Quartier Rheinhausen im Bild sind. Dort wohnen laut
Schätzungen der Polizei in mehreren älteren Wohnblöcken rund 1400
Roma-Zuwanderer in insgesamt 74 Wohnungen. Die Überbelegung der
Infrastruktur führte zu etwelchen Immissionen, was Klagen in der
Nachbarschaft bewirkte und offenbar auch die Liegenschaftspreise sinken
liess.
Exakt diese Situation kennt man in
unzähligen Kommunen und Städten Südosteuropas zur Genüge. Nötig wäre
eine griffige Sozialpolitik, für die aber meistens das Geld fehlt. In
Westeuropa ist das Phänomen jünger. Es besteht die Tendenz, etwas
voreilig einen tief verwurzelten Antiziganismus zu wittern. Anstatt die
real existierenden Probleme als solche zu erkennen und darauf mit
sozialpolitischen Massnahmen zu reagieren, erfolgt seitens der Behörden
und Medien oft nur die Flucht in ein politisch korrektes Vokabular, um
zumindest so guten Willen zu beweisen.
Was heisst RAE?
Ein Beispiel dafür liefert die von
internationalen, meist europäischen Funktionären geprägte
Beamtensprache in Kosovo, wo konsequent nicht von «Gypsies», sondern von
RAE die Rede ist. Diese für Uneingeweihte unverständliche Abkürzung
meint «Roma, Ashkali, Egyptian». Während manche der Roma in Kosovo
serbischsprachig sind und am Rand von serbischen Siedlungen wohnen,
handelt es sich bei den Ashkali und Egyptian um albanischsprachige Roma,
ihrerseits eine Untergruppe der Roma.
In der Alltagssprache ist der
Begriff RAE unbekannt. Sehr wichtig hingegen ist, dass die RAE in Kosovo
den Status einer nationalen Minderheit haben, der ihnen jene
Bürgerrechte zugesteht, die in balkanischer Tradition oft nur
Mehrheitsbevölkerungen für sich in Anspruch nehmen. Genau darin besteht
für Medienleute die grosse Aufgabe: Den besten Beweis der
Wertgemeinschaft erbringt Europa im Umgang mit seiner grössten
ethnischen Minderheit - egal, wie sie sich selbst bezeichnet.
Gut lesbare Fachliteratur zum Thema: Norbert Mappes-Niediek: Arme Roma, böse Zigeuner. Ch.-Links-Verlag, Berlin 2012. 208 S., Fr. 26.90.
Nota.
In einem Qualitätsblatt - nein, natürlich nicht der NZZ - las ich einmal diese Unterschrift zu einem Foto: "Eine [1] Sinti- und-Roma-Familie vor ihrem Wohnwagen"....
J.E.
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