Wer bin ich? Wer sind wir?
Vincent Descombes kritisiert das Konzept einer «pluralen Identität».
Von Ralf Konersmann
Wir alle sehen uns täglich von Botschaften und Aufrufen bedrängt, die den Kaufimpuls wecken und überdies unser Meinungssystem verändern wollen. Das Objekt der Begierde ist unsere Art zu leben, ist das, was wir denken, fühlen, mögen und sind. Kurz: Das wahre Objekt der Begierde ist unsere Identität.
Vincent Descombes kritisiert das Konzept einer «pluralen Identität».
Von Ralf Konersmann
Wir alle sehen uns täglich von Botschaften und Aufrufen bedrängt, die den Kaufimpuls wecken und überdies unser Meinungssystem verändern wollen. Das Objekt der Begierde ist unsere Art zu leben, ist das, was wir denken, fühlen, mögen und sind. Kurz: Das wahre Objekt der Begierde ist unsere Identität.
Welche Vorstellungen von Identität solchen Vorgängen zugrunde liegen,
ist freilich unklar. Offen ist schon die Frage, ob der moderne Bürger
vieler Welten mit einer einzigen Identität überhaupt auskommt oder nicht
doch gleich mehrere Identitäten bereithalten sollte. Ebenso offen ist
die Frage, ob eine nationale Identität heute noch zulässig ist oder
durch eine Art Weltbürgerlichkeit ersetzt werden müsste. Andererseits:
Wie soll das gehen, und wie sollte eine solche Identität aussehen? Ist
es nicht seltsam, einen Kosmopolitismus in einem einzigen Land zu
fordern?
Vincent Descombes: Die Rätsel der Identität.
Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp, Berlin 2013. 249 S., Fr. 38.90. Das Buch ist ab 9. November im Handel.
Vincent Descombes: Die Rätsel der Identität.
Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp, Berlin 2013. 249 S., Fr. 38.90. Das Buch ist ab 9. November im Handel.
Wer genauer nachfragt, kann nur
staunen, wie viele Unsicherheiten und Klischees das Identitätskonzept
belasten. Der französische Philosoph Vincent Descombes hat jetzt den
überfälligen Versuch gemacht, ein wenig Licht in das Gestrüpp der
Erwartungen und Verheissungen zu bringen, die den Gebrauch dieses
Begriffs begleiten, seit ihn in der Mitte des 20. Jahrhunderts der Psychoanalytiker und Kulturanthropologe Erik H.
Erikson in die Debatte geworfen hat. Als analytischer, auf den
Gebrauch der Begriffe spezialisierter Philosoph ist Descombes genau der
Richtige für die Aufgabe. Seine Rekapitulation, die er zuerst am Wiener
Institut für die Wissenschaft vom Menschen vorgetragen hat, ist
gründlich, wohlinformiert und klar. Um der uferlosen
Begriffsverwendungspraxis der letzten sechzig Jahre Herr zu werden,
teilt Descombes das thematische Feld und unterscheidet grob zwischen
einer Identität im subjektiven Sinne und verschiedenen Modellen
kollektiver Identität. Dieser elementaren Gegenüberstellung sind weitere
Unterscheidungen zugeordnet: nominale und reale, buchstäbliche und
wahre, faktische und normative Identität.
Dass humanwissenschaftliche Begriffe unterbestimmt seien, ist eine verbreitete Klage. Häufig liefert sie den Vorwand, um die Konzepte empirisch zu erden - was dann in der Regel darauf hinausläuft, sie auszuhöhlen und ihnen das zu nehmen, wofür sie einmal standen. Im Fall der Identität sind allerdings Zweifel angebracht, ob dieser Begriff überhaupt jemals eine fassbare Idee vertreten hat. Schon Erikson hat, wie er Ende der sechziger Jahre einräumte, die Vorgabe einer verbindlichen Definition sorgfältig vermieden. Biografisch argumentierende Wissenschaftshistoriker werden ihr Vergnügen an der Pointe haben, dass der jüdischstämmige Psychoanalytiker Erikson ursprünglich gar nicht Erikson, sondern Erik Homburger hiess, dass er den Namen erst bei seiner Einbürgerung in die USA annahm und sich mit ebendieser Namenswahl zu seinem eigenen Sohn erklärte. Offenbar wusste Erikson, wovon er sprach, als er für sich selbst und für uns alle die «Identitätskrise» erfand.
Nun ging selbst diese anekdotisch
verbürgte Evidenz des Identitätsbegriffs verloren, als er sich
ausbreitete und von den konkurrierenden Schulen der Sozialwissenschaften
je nach Bedarf und Zweck verschieden interpretiert wurde. Erikson sah
die Identität als lebenslange Integrationsleistung, die wir als
Individuen erbringen müssen, und betonte als wesentliches Merkmal die
Sichselbstgleichheit. Eine Identität auszubilden, hiess: zu werden, was man ist. Dem widersprachen die «Interaktionisten», die noch heute den identity talk
beherrschen, mit dem pragmatischen Argument, die im ursprünglichen
Wortsinn auf «Identität» angelegte Identität sei unter den
gesellschaftlichen Anforderungen der Moderne nicht durchzuhalten. Die
vielfaltsbetonende, die plurale Identität, zu der sie stattdessen raten,
soll von der pathologischen Unbeweglichkeit eines auf Einheit und
Einzigartigkeit verpflichtenden Selbstentwurfs entlasten.
An dieser Stelle interveniert
Descombes und klopft die Gründe ab, die für das Pluralitätsmodell ins
Feld geführt werden. Dabei zeigt sich, dass diese Argumente weniger
wissenschaftlich als politisch sind. Pluralität, das klingt nach
Friedfertigkeit, nach Offenheit und Toleranz, und so ruft man uns dazu
auf, zugunsten dieser Werte unser Eigenes und das, als was wir uns
selbst verstehen, zurückzustellen. Das Ethos der Pluralität ist eine
Verzichtleistung und endet als Ethos der Sterilität: Als Menschen mit
pluraler Identität distanzieren wir uns vorsorglich von uns selbst und
präsentieren uns als Leute, die alles Mögliche sind, aber nichts
Bestimmtes - als Menschen ohne Eigenschaften.
Wie aber kann eine solche
Vorstellung, die ja das Identitätsproblem nur zudeckt, als hinnehmbar
und sogar attraktiv erscheinen? Descombes folgt der Diagnose Charles
Taylors, der den Weg in die Moderne als einen illusionären Prozess der
Entsorgung beschrieben hat. Demnach wäre die Vorstellung einer pluralen
Identität die einstweilen letzte Stufe einer Entwicklung, in der man das
Regelwerk der Tradition immer deutlicher als hinderlich empfand und es
zurückdrängte in der Erwartung, das Individuum werde im Zug der
Zivilisationsentwicklung von den Fesseln der Vergangenheit befreit. Das
Stereotyp der fortschreitenden Gepäckerleichterung übersieht allerdings,
dass «Individualität» gleichfalls ein voraussetzungsreiches Konzept ist
und dem Prozess der Zivilisation nicht etwa als natürliche Form des
Menschseins vorauslag, sondern überhaupt erst aus ihm hervorgegangen
ist. Das historische Datum der Individualität, das war schon die
Ausgangsintuition Eriksons, ist nichts, worüber wir nach Belieben
verfügen. Der Begriff des Individuums umreisst einen spezifisch modernen
Anforderungsbereich, der nach Zuwendung und Engagement verlangt. Auch
wenn wir es nicht wahrhaben wollen, müssen wir dabei wie eh und je mit
kulturellen Vorgaben rechnen, die in unsere Selbstentwürfe
hineinregieren und sie mitgestalten.
Das Konzept der pluralen
Identität, resümiert Descombes, ist illusionär und sowohl unter
anthropologischen als auch unter historischen Aspekten unhaltbar.
Überdies ist es selbstwidersprüchlich. Eine Identität zu haben, heisst
eben, sich darüber klarzuwerden, wie man sich selbst versteht. Eine
Identität hingegen, die viele Identitäten sein und über alle frei
verfügen will, ist ein Unding. In einer besonders gelungenen Sentenz
fasst Descombes, der bei Pascal und Hegel ebenso zu Hause ist wie bei
Wittgenstein und Quine, noch einmal zusammen, weshalb die Aufgabe der
Identitätswahrung so anspruchsvoll ist und weshalb sie uns nicht
erlassen werden kann: «Das Individuum definiert sich, indem es erklärt,
was in seinen Augen zu seiner Identität gehört. Aber das, was zu seiner
Identität gehört, zu dem gehört es auch selbst.»
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