Montag, 7. Oktober 2013

Bin ich identisch?

aus NZZ, 5. 10. 2013                                                                                                                         Peter Bast  / pixelio.de

Wer bin ich? Wer sind wir?   
Vincent Descombes kritisiert das Konzept einer «pluralen Identität».  

Von Ralf Konersmann 

Wir alle sehen uns täglich von Botschaften und Aufrufen bedrängt, die den Kaufimpuls wecken und überdies unser Meinungssystem verändern wollen. Das Objekt der Begierde ist unsere Art zu leben, ist das, was wir denken, fühlen, mögen und sind. Kurz: Das wahre Objekt der Begierde ist unsere Identität.

Welche Vorstellungen von Identität solchen Vorgängen zugrunde liegen, ist freilich unklar. Offen ist schon die Frage, ob der moderne Bürger vieler Welten mit einer einzigen Identität überhaupt auskommt oder nicht doch gleich mehrere Identitäten bereithalten sollte. Ebenso offen ist die Frage, ob eine nationale Identität heute noch zulässig ist oder durch eine Art Weltbürgerlichkeit ersetzt werden müsste. Andererseits: Wie soll das gehen, und wie sollte eine solche Identität aussehen? Ist es nicht seltsam, einen Kosmopolitismus in einem einzigen Land zu fordern?

Vincent Descombes: Die Rätsel der Identität. 
Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Suhrkamp, Berlin 2013. 249 S., Fr. 38.90. Das Buch ist ab 9. November im Handel.

Wer genauer nachfragt, kann nur staunen, wie viele Unsicherheiten und Klischees das Identitätskonzept belasten. Der französische Philosoph Vincent Descombes hat jetzt den überfälligen Versuch gemacht, ein wenig Licht in das Gestrüpp der Erwartungen und Verheissungen zu bringen, die den Gebrauch dieses Begriffs begleiten, seit ihn in der Mitte des 20. Jahrhunderts der Psychoanalytiker und Kulturanthropologe Erik H. Erikson in die Debatte geworfen hat. Als analytischer, auf den Gebrauch der Begriffe spezialisierter Philosoph ist Descombes genau der Richtige für die Aufgabe. Seine Rekapitulation, die er zuerst am Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen vorgetragen hat, ist gründlich, wohlinformiert und klar. Um der uferlosen Begriffsverwendungspraxis der letzten sechzig Jahre Herr zu werden, teilt Descombes das thematische Feld und unterscheidet grob zwischen einer Identität im subjektiven Sinne und verschiedenen Modellen kollektiver Identität. Dieser elementaren Gegenüberstellung sind weitere Unterscheidungen zugeordnet: nominale und reale, buchstäbliche und wahre, faktische und normative Identität.


Dass humanwissenschaftliche Begriffe unterbestimmt seien, ist eine verbreitete Klage. Häufig liefert sie den Vorwand, um die Konzepte empirisch zu erden - was dann in der Regel darauf hinausläuft, sie auszuhöhlen und ihnen das zu nehmen, wofür sie einmal standen. Im Fall der Identität sind allerdings Zweifel angebracht, ob dieser Begriff überhaupt jemals eine fassbare Idee vertreten hat. Schon Erikson hat, wie er Ende der sechziger Jahre einräumte, die Vorgabe einer verbindlichen Definition sorgfältig vermieden. Biografisch argumentierende Wissenschaftshistoriker werden ihr Vergnügen an der Pointe haben, dass der jüdischstämmige Psychoanalytiker Erikson ursprünglich gar nicht Erikson, sondern Erik Homburger hiess, dass er den Namen erst bei seiner Einbürgerung in die USA annahm und sich mit ebendieser Namenswahl zu seinem eigenen Sohn erklärte. Offenbar wusste Erikson, wovon er sprach, als er für sich selbst und für uns alle die «Identitätskrise» erfand.

Nun ging selbst diese anekdotisch verbürgte Evidenz des Identitätsbegriffs verloren, als er sich ausbreitete und von den konkurrierenden Schulen der Sozialwissenschaften je nach Bedarf und Zweck verschieden interpretiert wurde. Erikson sah die Identität als lebenslange Integrationsleistung, die wir als Individuen erbringen müssen, und betonte als wesentliches Merkmal die Sichselbstgleichheit. Eine Identität auszubilden, hiess: zu werden, was man ist. Dem widersprachen die «Interaktionisten», die noch heute den identity talk beherrschen, mit dem pragmatischen Argument, die im ursprünglichen Wortsinn auf «Identität» angelegte Identität sei unter den gesellschaftlichen Anforderungen der Moderne nicht durchzuhalten. Die vielfaltsbetonende, die plurale Identität, zu der sie stattdessen raten, soll von der pathologischen Unbeweglichkeit eines auf Einheit und Einzigartigkeit verpflichtenden Selbstentwurfs entlasten.

An dieser Stelle interveniert Descombes und klopft die Gründe ab, die für das Pluralitätsmodell ins Feld geführt werden. Dabei zeigt sich, dass diese Argumente weniger wissenschaftlich als politisch sind. Pluralität, das klingt nach Friedfertigkeit, nach Offenheit und Toleranz, und so ruft man uns dazu auf, zugunsten dieser Werte unser Eigenes und das, als was wir uns selbst verstehen, zurückzustellen. Das Ethos der Pluralität ist eine Verzichtleistung und endet als Ethos der Sterilität: Als Menschen mit pluraler Identität distanzieren wir uns vorsorglich von uns selbst und präsentieren uns als Leute, die alles Mögliche sind, aber nichts Bestimmtes - als Menschen ohne Eigenschaften.

Wie aber kann eine solche Vorstellung, die ja das Identitätsproblem nur zudeckt, als hinnehmbar und sogar attraktiv erscheinen? Descombes folgt der Diagnose Charles Taylors, der den Weg in die Moderne als einen illusionären Prozess der Entsorgung beschrieben hat. Demnach wäre die Vorstellung einer pluralen Identität die einstweilen letzte Stufe einer Entwicklung, in der man das Regelwerk der Tradition immer deutlicher als hinderlich empfand und es zurückdrängte in der Erwartung, das Individuum werde im Zug der Zivilisationsentwicklung von den Fesseln der Vergangenheit befreit. Das Stereotyp der fortschreitenden Gepäckerleichterung übersieht allerdings, dass «Individualität» gleichfalls ein voraussetzungsreiches Konzept ist und dem Prozess der Zivilisation nicht etwa als natürliche Form des Menschseins vorauslag, sondern überhaupt erst aus ihm hervorgegangen ist. Das historische Datum der Individualität, das war schon die Ausgangsintuition Eriksons, ist nichts, worüber wir nach Belieben verfügen. Der Begriff des Individuums umreisst einen spezifisch modernen Anforderungsbereich, der nach Zuwendung und Engagement verlangt. Auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, müssen wir dabei wie eh und je mit kulturellen Vorgaben rechnen, die in unsere Selbstentwürfe hineinregieren und sie mitgestalten.

Das Konzept der pluralen Identität, resümiert Descombes, ist illusionär und sowohl unter anthropologischen als auch unter historischen Aspekten unhaltbar. Überdies ist es selbstwidersprüchlich. Eine Identität zu haben, heisst eben, sich darüber klarzuwerden, wie man sich selbst versteht. Eine Identität hingegen, die viele Identitäten sein und über alle frei verfügen will, ist ein Unding. In einer besonders gelungenen Sentenz fasst Descombes, der bei Pascal und Hegel ebenso zu Hause ist wie bei Wittgenstein und Quine, noch einmal zusammen, weshalb die Aufgabe der Identitätswahrung so anspruchsvoll ist und weshalb sie uns nicht erlassen werden kann: «Das Individuum definiert sich, indem es erklärt, was in seinen Augen zu seiner Identität gehört. Aber das, was zu seiner Identität gehört, zu dem gehört es auch selbst.»


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