Samstag, 5. Oktober 2013

Gewalt in der Antike, II.

aus NZZ, 5. 10. 2013


Die Dynamik der Rache stoppen
Martin Zimmermann über die Gewalt in der Antike. 


Von Urs Hafner 

An Gewalttätigkeiten sind die griechische und die römische Götterwelt nicht arm. Man kennt sie noch immer, die Geschichten rachsüchtiger Übermenschen, die sich gegenseitig auf alle erdenklichen Weisen zur Strecke bringen. Gewalttätige Handlungen dominieren auch die antike Dichtung und Geschichtsschreibung. Physische Gewalt schliesslich dürfte damals auch im Alltag präsent gewesen sein; jedenfalls bringt man jene Zeit mit Kriegen und Schlachten in Verbindung, ganz zu schweigen von den Gladiatorenkämpfen.

Martin Zimmermann: Gewalt. Die dunkle Seite der Antike. 
Deutsche Verlagsanstalt, München 2013. 395 S., Fr. 37.90.

War also die antike Welt, die Zeit von den altorientalischen Hochkulturen des 4. Jahrtausends v. Chr. bis zum Ende des Römischen Reichs im 5. Jahrhundert, eine gewalttätige Welt? Martin Zimmermann verneint die Frage (während die Aufmachung seines Buchs das Gegenteil suggeriert). Dem Althistoriker ist es ein Anliegen, eine differenzierte Sicht auf jene Epochen zu eröffnen, in der Götter, Pharaonen, Könige und Städte nach Belieben gegen Feinde und Untertanen gewütet haben sollen. Differenzierungen allerdings drängen sich nur schon aufgrund der vielen Kulturen und des langen Zeitraums auf. Für sie alle kann es nicht nur eine Antwort - gewalttätig oder eben nicht - geben.

Was anders war

Durch mindestens zwei Aspekte unterscheidet sich die Antike von der Gegenwart: Erstens ist Gewalt in und auf den überlieferten Texten und Bildern auffallend präsent. Es waren allerdings primär die Eliten, der Adel und die Aristokratie, welche die auf den Vasen aufgemalten Bilder und die astrologischen Ratgeber, die philosophischen Abhandlungen, die mündlich vorgetragenen Epen - stilbildend Homers «Ilias» - und die auf der Bühne aufgeführten Tragödien rezipierten. Was ein ägyptischer Taglöhner über Gewalt dachte, ist kaum auszumachen. Zweitens war Mitleid keine Tugend, auch wenn nicht jede Gewalt als gut galt. Angesichts des malträtierten Feindes sollte der Betrachter kein Mitgefühl entwickeln, im Gegenteil: Der qualvolle Tod durfte Freude bereiten. Als «Gewalt» übrigens gilt dem Historiker, der den Begriff nicht definiert, die Verletzung der physischen Integrität eines Menschen durch einen anderen.

Zimmermanns Hauptanliegen geht dahin, zu zeigen, dass die in den Texten geschilderten Gewalttätigkeiten, die von ihm anregend diskutiert, aber zusammen mit ihrem Kontext etwas langatmig referiert werden, nicht auf reale Geschehnisse verwiesen. Vielmehr habe man es bei den Ereignissen, die in ihrer Drastik noch immer erschüttern und befremden (austretende Körperflüssigkeiten, auch die des Hirns, zersplitternde Knochen, ausgerissene Augen, in den After getriebene Pfähle usw.), mit literarischen Topoi zu tun, die über Jahrhunderte tradiert und von den jeweiligen Autoren für politische Zwecke eingesetzt und reflektiert worden seien.

Der Zweck der Gewaltdarstellungen

Nach Zimmermann sollte zwar manchmal - vor allem im spätrömischen Reich - das Publikum mit schauerlichen Reizen ergötzt werden, doch meist dienten die Gewaltschilderungen dazu, legitime von illegitimen Ordnungen und statthafte von unstatthaften Handlungen zu unterscheiden, je nachdem, wessen Taten wie beschrieben und bewertet wurden. Gewaltszenen hatten den Zweck, die Stärke und Tapferkeit der eigenen Gemeinschaft zu demonstrieren und dieser das Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Gerade in friedlichen Zeiten sollte der Kontrast des Geschilderten die bestehende Ordnung in ein gutes Licht stellen. Es waren in der Regel die Fremden oder Gegner - bei den Griechen die verhassten Perser und Orientalen, im römischen Kaiserreich ein Tyrann wie Nero -, die durch einen verachtenswerten Umgang mit Gewalt auffielen, sich also bestialisch und unzivilisiert aufführten.

Über den langen Zeitraum beobachtet Zimmermann das allmähliche Entschwinden der Götter aus den Gewaltszenerien. Parallel dazu sei das Bewusstsein dafür gewachsen, dass der Mensch dem Rasen der Götter nicht ausgeliefert sei, sondern die politische Ordnung selbst gestalten und die Dynamik der Rache stoppen könne. Diese Entwicklung freilich habe der Überbietungslogik der Schilderungen keinen Abbruch getan. Auch die Christianisierung habe daran nichts geändert, sondern sogar eine weitere Steigerung gebracht, indem sie über die Märtyrer den Genuss der erlittenen Grausamkeiten etabliert habe.

Und was will der Autor sagen?

Das Buch macht den Leser zwar mit vielen interessanten Texten und einigen theoretischen Überlegungen bekannt, lässt ihn aber etwas ratlos zurück, weil ihm eine überzeugende Stossrichtung fehlt. Dass Texte, wie der Autor betont, nicht «direkt» auf die Realität verweisen, ist unbestritten. Das Argument, dass der Mensch neurobiologischen Untersuchungen gemäss keine genetische Disposition zur Gewalt besitze, sondern dass er erst dann gewalttätig werde, wenn die sozialen Grundlagen der Kooperation gestört würden, bleibt blass. Die Widerlegung Sigmund Freuds und - im gleichen Atemzug - Konrad Lorenz' durch die Hirnforschung wirkt salopp. Und die medienkritische Reflexion, dass man den Bildern - auch den heutigen - nicht trauen und auch aufgrund von Fotos nicht sagen könne, was sich wirklich abgespielt habe, auch sie ist schon des Öfteren vernommen worden.

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