Sonntag, 29. September 2019

Was bleibt von Niklas Luhmann.


aus nzz.ch, 27.9.2019

Hätschle dein Problem, so dass es immer grösser wird:
Es ist dieser eine Gedanke, der von Niklas Luhmann bleibt 
Niklas Luhmann zählt zu den grossen Intellektuellen. Seine Systemtheorie ist jedoch ausserhalb des akademischen Betriebs fast vergessen. Aber auch im Zeitalter des neuen Realismus hält er noch eine intellektuelle Überraschung für uns bereit.

Er starb ziemlich jung, für viele jedenfalls: zu jung. Das reiche intellektuelle Leben des Niklas Luhmann kam am 6. November 1998 in seinem 71. Jahr zu einem Ende, nachdem er jahrelang an einer schweren Autoimmunkrankheit gelitten hatte. Obwohl seine ebenso zahlreichen wie faszinierten Leser das Ende hatten kommen sehen, traf die am Beginn aller prominenten Nachrichtensendungen erwähnte Meldung das intellektuelle Deutschland wie ein unfassbares Ereignis.

Denn Luhmanns Denken hatte die Nation seit den sechziger Jahren elektrisiert – und gespalten. Wer geistig auf sich hielt, musste damals zwischen zwei Möglichkeiten wählen. Entweder sprach er entlang von Begriffen und Argumenten (manchmal sogar in der eigentümlich hohen Stimmlage), die der persönlich distanziert wirkende Professor aus Bielefeld in Umlauf gebracht hatte. Oder er übernahm die Rolle des Anti-Luhmannianers und schwor den neomarxistischen Prinzipien der Frankfurter Schule ewige Treue, jenen Grundsätzen, zur deren Herausforderer Luhmann seit einer vielbeachteten Debatte mit Jürgen Habermas in den frühen siebziger Jahren geworden war.
 
Die Nostalgie 


Seine Anhänger gingen davon aus, dass die von ihm entworfene Systemtheorie der Gesellschaft bald die internationalen Nervenzentren der sozialwissenschaftlichen Diskussion beherrschen würde. Manche verstiegen sich sogar zur Behauptung, ihre Sicht der Dinge sei ausserhalb der akademischen Welt bereits «der Fall der Gegenwart». 

Niklas Luhmann scheute die Komplexität nie, er gewann ihr stattdessen Erkenntnis ab. (Bild: Imago)   Niklas Luhmann scheute die Komplexität nie, er gewann ihr stattdessen Erkenntnis ab. 

Gut zwanzig Jahre später hat sich keine dieser Erwartungen oder Befürchtungen erfüllt. Mit vielen anderen Veteranen aus jener Zeit erinnere ich mich an die Systemtheorie im bittersüssen Gefühl einer Jugendliebe, die wir als Liebe unseres Lebens umarmen wollten.

Die Gesamtausgabe von Luhmanns Werken ist im überwältigenden Volumen seines Nachlasses und in juristischen Streitigkeiten unter den Erben stecken geblieben. Aus der vorhergesagten Global-Rezeption seiner Theorie ist eine Diaspora-Präsenz geworden: Nur an wenigen juristischen Fakultäten der Vereinigten Staaten sind Luhmanns meist frühe Schriften zur Rechtssoziologie Pflichtlektüre geblieben.

In einigen Ländern – zum Beispiel in Mexiko – haben dank breiter Übersetzungsprojekte Luhmann-Sekten aus Mitgliedern im heute fortgeschrittenen Pensionsalter überlebt. Wer zwischen seiner Geburtsstadt Lüneburg und dem Universitätssüden von Konstanz immer noch systemtheoretisch spricht oder schreibt, der darf sich bestenfalls auf einen Nostalgie-Effekt verlassen. 

Die Biografie 

Wie können wir diesen drastischen Konjunktur-Umschlag erklären? Und vor allem: Existiert doch noch ein Versprechen lohnender Neulektüre unter früher eingeklammerten Voraussetzungen? Für produktive Antworten auf diese Fragen ist ein Blick auf besondere Zweideutigkeiten in Luhmanns beruflicher Biografie erhellend, wo sich Etappen der Verwaltungsarbeit und der philosophischen Reflexion zu einer eigentümlichen, wohl auch für ihn selbst nur schwer durchschaubaren Oszillation verknüpften. 1944 der NSDAP beigetreten, ohne je eine Mitgliedsnummer erhalten zu haben, wie Luhmann 1949 in einem Fragebogen zur Entnazifizierung angab, diente er seit dem fünfzehnten Lebensjahr als Flakhelfer. Er verbrachte mehrere Monate in amerikanischer Kriegsgefangenschaft und schloss zwischen 1946 und 1949 ein Jurastudium im deutschen Freiburg ab. Beim Lüneburger Oberverwaltungsgericht absolvierte er die Referendarausbildung, wurde 1955 ins niedersächsische Kultusministerium abgeordnet und erwarb dort einen Ruf als intellektuell herausragender Beamter, der ihm 1960 bis 1961 ein Fortbildungsstipendium in Harvard einbrachte. Nach der Rückkehr war er für drei Jahre Referent an der Verwaltungshochschule Speyer. Er promovierte und habilitierte sich innerhalb von fünf Monaten in Münster, wurde 1968 an die neugegründete Bielefelder Reformuniversität berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1993 lehrte. Als spät entdeckter Überflieger der akademischen Welt pflegte Luhmann einen Verhaltensstil der administrativen Nüchternheit und eine Sprache, deren durchgehaltener Indikativ hochfliegenden Spekulations-Ekstasen den trockenen (und zuweilen eleganten) Ton juristischer Gewissheiten auferlegte. 

Die Phasen 

In der Entfaltung seiner Theorie lösten drei Phasen einander ab, die er – entgegen dem heute vorherrschenden Eindruck einer eigenständigen Ableitung – ostentativ mit den Namen anderer Denker verband.

Die in Deutschland bis heute sprichwörtlich gebliebene These, dass soziale Systeme prinzipiell Funktionen der Komplexitätsreduktion gegenüber ihren verschiedenen, aber immer überkomplexen Umwelten erfüllen, schrieb er dem Soziologen Talcott Parsons zu, an dessen Seminaren in Harvard Luhmann teilgenommen hatte. Die Idee der internen autopoetischen Reproduktion von Systemen in Reaktion auf verschiedene Umweltbedingungen führte er auf die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela zurück. Und für das Verstehen sozialer Systeme als sich selbst beobachtend und deshalb bis zu einem gewissen Grad auch selbst steuernd rekurrierte auf den Formbegriff des britischen Mathematikers George Spencer-Brown.

Während aber die System/Umwelt-Unterscheidung und das Konzept der geschlossenen autopoetischen Systeme innovative Impulse in die soziologischen Diskussionen einbrachten, führte die Prämisse von der Selbstbeobachtung der Systeme als Matrix jeder Theorie-Bildung den späten Luhmann zu einer Übereinstimmung mit traditionellen Positionen der Hermeneutik und mit den damals grassierenden Binsenweisheiten vom sozialen Konstruiertsein der Wirklichkeit. Ebendieser Konstruktivismus hat die Systemtheorie im neorealistisch gewordenen Philosophie-Klima der Gegenwart mit der Patina eines unumkehrbar vergangenen Denkens überzogen. 

Das Werk 


Ob Luhmann selbst wusste, dass die wachsende Akzeptanz seiner Arbeit ein Effekt solcher Annäherungen an Hermeneutik und Konstruktivismus war, werden wir nie erfahren. Ebenso unbeantwortet wird die Frage bleiben, ob jene Generation von Parsons-, Maturana/Varela- und Spencer-Brown-Spezialisten, die seine Zitate an deutschen Universitäten ins beamtete Brot gesetzt hatten, ihn selbst davon überzeugt hätten, dass es einen internationalen Stand der Systemtheorie gebe. Eigentlich sprach er selbst ja bloss von den jeweils erreichten Phasen des eigenen Denkens, wenn er sich auf diesen Horizont bezog, der ausserhalb seines eigenen Schüler- und Leserkreises nicht existierte.

War Luhmann ein Opfer seines nüchtern-beschreibenden Verwaltungsdiskurses geworden, der Referenzen brauchte, oder inszenierte er ein brillant-diabolisches Spiel der Ironie für – und gegen – seine Leser? Jedenfalls erklärt die Asymmetrie zwischen der Systemtheorie als individueller Leistung und dem Diskurs ihrer Selbstpräsentation, warum sie nach Luhmanns Tod rasch der schon erwähnten Diaspora anheimfiel, statt sich als globales Paradigma durchzusetzen.

Doch wieso liebte es der so sehr bewunderte Niklas Luhmann, über seine Arbeit aus einer Perspektive zu reden, die von ihm selbst als potenziell heroischem Subjekt oder intellektuellem Genie ablenkte – und damit die Bewunderung nur weiter steigerte? Wieso setzte er den bis heute fortlebenden Köhlerglauben in die Welt, dass er seine besten Ideen aus der Kommunikation mit einem eher konventionellen Zettelkasten beziehe? Wieso dankte er beim akademischen Hochamt zur Feier seines sechzigsten Geburtstags mit stirnrunzelndem Erstaunen den aus aller Welt angereisten Kollegen, dass sie nach Bielefeld gekommen waren, «um sein Werk zu ehren» (nicht ihn selbst)? 

Was bleibt 

Immerhin weigerte sich Luhmann auch, ein rundes Äquivalent für die klassischen Begriffe des Subjekts oder des Menschen bereitzustellen. Statt homogen zu sein, sollte die «menschliche Selbstreferenz» (wie der Mensch systemtheoretisch hiess) – gegenintuitiv – in einer schwierigen Koppelung zwischen drei Systemen, nämlich dem Körper («biologisches System»), dem Bewusstsein («psychisches System») und der Gesellschaft («soziales System»), existieren.

Für diesen ausgefallenen Theorie-Schachzug hatte Luhmann einen spezifischen Grund, auf den er nicht oft zu sprechen kam. Im Zeitalter der Ideologien nach dem Ersten und im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen, wollte er in seiner Arbeit jede Möglichkeit vermeiden, im Namen der Menschheit – und potenziell totalitär – vollmundig ethische, politische und eben ideologische Ansprüche zu stellen.

Die eigene intellektuelle Stärke lag – ganz auf der anderen Seite – in den provokativen Gesten einer philosophischen Verfremdung, mit der er seine Leser unablässig konfrontierte. Solche Strategien laufen zusammen in Luhmanns Wissenschaftstheorie, die ich als das eine, seit der Spätphase seines Werks immer bedeutsamer gewordene Versatzstück der Systemtheorie ansehe.

Unter allen sozialen Systemen, schrieb er, diene allein die Wissenschaft nicht der Reduktion von Umweltkomplexität, sondern steigere sie. Wissenschaft soll also unseren Blick auf die Welt komplexer, ja komplizierter machen, statt Probleme zu lösen. Zu liefern, was im Denken und als Weltsicht «der Fall ist», darf also gerade nicht ihre Aufgabe sein, sondern das Aufzeigen von Alternativen, die das Denken auch und vor allem unter Problemdruck in Gang halten.

Ob die sich heute zu einer reinen Institution der Vermittlung von Berufswissen verhärtende Universität fähig ist, diesen Luhmann-Vorschlag wirklich werden zu lassen, steht auf einem anderen Blatt. Gegebenenfalls bleibt auch die Möglichkeit, Luhmanns Wissenschaftstheorie als Vorlage für ein neues Selbstverständnis des Intellektuellen aufzufassen.

Dessen klassische Funktion des Engagements für bereits existierende politische Positionen ist in einer Welt ans Ende gekommen, wo – nicht nur für Donald Trump – Resonanz an die Stelle von Repräsentation getreten ist. Wir müssen diese neue Situation also konzeptuell erfassen, statt uns in larmoyanter Nostalgie über sie zu beklagen. Es ist an uns, Alternativen zu imaginieren, statt einem vergangenen Status quo der aufklärerischen Vernunft nachzutrauern.

Ohne einen Sinn für Ironie allerdings oder als Rezeptwissen für intellektuelle Kreativität wird man diese Dimension der Systemtheorie nicht zum Leben erwecken. Vielmehr sollte heute mehr denn je gelten, was Niklas Luhmann in den späten achtziger Jahren den Stipendiaten eines Graduiertenkollegs mit heller Alt-Stimme dringend empfahl: «Und wenn Sie ein Problem haben, meine Damen und Herren, bitte nicht lösen – bewahren, hätscheln Sie Ihr Problem.»

Solange wir vorgeben, über Antworten zu verfügen, werden wir pikiert bleiben angesichts der geringen Resonanz, die sie finden. Allein die Fähigkeit, Komplexität zu akzeptieren und Alternativen zu denken, macht unsere – und Luhmanns – zu oft vergessene Stärke aus. 

Hans Ulrich Gumbrecht ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaften in Stanford und Autor. Zuletzt ist von ihm das Buch «Brüchige Gegenwart: Reflexionen und Reaktionen» (Reclam, 2019) erschienen.


Nota. - Ich habe nie ganz verstanden, wovon Luhmanns Systemtheorie eigentlich handelt noch wozu sie gut ist. Gumbrechts Nachruf erklärt mir immerhin, weshalb ichs nicht verstehen konnte; seine Auffassung von der Sozialwissenschaft erlaubt so eine Frage gar nicht. Denn wenn sie einen Zweck verfolgte oder auch nur ein bestimmtes Problem behandelte, könnte ihr Verfahren nichts anderes sein als eben: Reduktion von Komplexität. Sie müsste die Aspekte auswählen, die mit ihrem Thema in pragmatischem oder logischem Zusammenhang stehen, und von allem absehen, 'was nicht zur Sache gehört'.

Sie müsste wohl oder übel ihre 'Sache' wie jede andere Wissenschaft definieren; eingrenzen und in sich unter- scheiden – aber unterscheiden in einer Größenordnung, die dem logischen oder technischen Zugriff erfassbar bleibt. Wie ichs auch drehe und wende: Wenn sie überhaupt eine Absicht hat, muss sie Mannigfaltiges synthe- tisieren alias „Komplexität reduzieren“. Wenn sie eine Absicht aber nicht verfolgt, wird natürlich auch nicht kenntlich, was sie tut, und mein Unverständnis wäre entschuldigt.

Doch wird mir nun erst recht unverständlich, wie er zu seinen Kategorien kam – denn wenn ich nicht weiß, wohin sein Weg zielt, kann ich nicht zurückverfolgen, woher er kommt. Und recht verstanden: Seine Grundbe- griffe System, Autopoiesis und Selbstreferenzialität haben für ihn apriorische Bedeutung wie für Kant die Kate- gorien und Anschauungsformen.*

Welchen Gewinn habe ich, wenn ich ein Mannigfaltiges als ein System auffasse? Denn es geht ja nicht darum, das wird er kaum bestreiten, was 'objektiv' System ist oder nicht, sondern was das erkennende Subjekt zweck- mäßiger Weise als System auffasst. Wenn die Frage der Zweckmäßigkeit nicht vorwärts, nicht im Sinne eines zu verfolgenden Zieles gestellt werden soll, muss sie rückwärts im Sinne eines treibenden Grundes gestellt werden. Denn wohlbemerkt: Würde auch diese Frage als illegitim abgewiesen, bliebe kein Erkenntnisgewinn und ergo kein wissenschaftlicher Sinn übrig. Die ganze Theorie wäre lediglich ein autopoietisches und selbstreferenziel- les System mit dem Zweck, in akademischem Rahmen gehätschelt zu werden. 

*) Kant hat das Woher seines Apriori ausdrücklich nicht erörtert - um nämlich 'für den Glauben Platz zu schaffen'.
JE 




Samstag, 28. September 2019

Erleben wir eine zweite Renaissance?


aus legimi.de 

von Ian Goldin und Chris Kutarna 
Oxford, Januar 2016

Inhalt

1 Scheitern oder prosperieren? ................................................................... 14 

Teil I: Die Fakten, die ein Zeitalter zur Renaissance machen......................29 
Die Neue Welt ......................................................................................... 30
Neue Vernetzungen ................................................................................. 59 
Der vitruvianische Mensch ....................................................................101

Teil II: Die Blütezeit der Genialität .......................................................... 149 
5 Kopernikanische Revolutionen .............................................................. 150 
6 Kathedralen, Gläubige und Zweifler ..................................................... 199 

Teil III: Blütezeit der Risiken .................................................................... 241 
7 Die Syphilis breitet sich aus, Venedigs Glanz verblasst ........................ 242 
8 Der gebrochene Gesellschaftsvertrag und seine Spaltwirkung .............. 283 

Teil IV: Wettlauf um unsere Zukunft .......................................................... 325 
9 David .......................................................................................................326


Scheitern oder prosperieren?  
Die Zeit, in der wir leben 

Wenn Michelangelo in unserer heutigen Zeit, inmitten den Turbulenzen, die unser modernes Zeitalter kenn- zeichnen, wiedergeboren werden würde, würde er scheitern oder erneut zu Ruhm gelangen? Jedes Jahr strömen Millionen von Menschen in die Sixtinische Kapelle, um ehrfürchtig Michelangelo Buonarrotis Werk Die Erschaffung Adams zu bestaunen. Noch mehr Menschen strömen in den Louvre, um Leonardo da Vincis Mona Lisa zu bewundern. Fünf Jahrhunderte lang haben wir diese Meisterwerke der Renaissance sorgfältig konserviert und als Objekte der Schönheit und Inspiration verehrt.Sie sind aber auch eine Herausforderung.Die Künstler, die diese genialen Kunstwerke von 500 Jahren geschaffen haben, lebten keineswegs in einem magischen Zeitalter universel-ler Schönheit, sondern eher in einer äußerst turbulenten Zeit, die von histo rischen Meilensteinen und Entdeckungen gekennzeichnet war, aber auch von verheerenden Katastrophen. Dank Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse (in den 1450er-Jahren), Kolumbus’ Entdeckung der Neuen Welt (1492) und Vasco da Gamas Entdeckung der Seeroute zu Asiens Reichtümern (1497), war die Welt auf beispiellose Weise näher zusam-mengerückt. Das Schicksal der Menschheit veränderte sich in mancherlei Hinsicht sogar radikal. Der Schwarze Tod war endlich besiegt, Europas Bevölkerung befand sich auf dem Weg der Regenerierung und allgemei-ne Gesundheit, Bildung und Wohlstand nahmen zu. 


Diese Bedingungen brachten das Genie zum Blühen, das zeigen die Leis-tungen jener Zeit (insbesondere zwischen den 1490er-Jahren und den 1520er-Jahren) wie Kopernikus’ revolutionäre Theorie über einen Kos-mos, in dem die Sonne den Mittelpunkt bildet (1510er-Jahre) und andere bahnbrechende Fortschritte, die in einem breiten Spektrum an Diszipli-nen, von der Biologie über Technik und Navigation bis zur Medizin erzielt wurden. Grundlegende allgemein bekannte »Wahrheiten«, die über Jahr-hunderte – wenn nicht Jahrtausende – Bestand hatten, wurden plötzlich über den Haufen geworfen: Die Erde stand nicht still. Die Sonne drehte sich nicht um die Erde. Die »bekannte« Welt bildete nicht einmal die Hälfte des gesamten Planeten. Das menschliche Herz war nicht die See-le, sondern ein Muskel mit Pumpfunktion. In wenigen Jahrzehnten ließ der Buchdruck die Buchproduktion von einigen Hundert auf Millionen Exemplare pro Jahr anschwellen, und die darin veröffentlichten seltsa-men Fakten und neuen Ideen verbreiteten sich schneller und weiter als je zuvor.Aber auch die Risiken und Gefahren erlebten eine neue Blütezeit. Grauenhafte neue Krankheiten verbreiteten sich wie Lauffeuer auf bei-den Seiten des nun erdteilverbindenden Atlantiks. Mithilfe einer »neuen« Waffe, dem Schießpulver, eroberten die Osmanen in einer beeindrucken-den Serie an Land- und Seesiegen, die einen bedrohlichen Schatten über ganz Europa warfen, den östlichen Mittelmeerraum für den Islam. Martin Luther (1483–1546) nutzte die neue Drucktechnik, um flammende Predig-ten gegen die katholische Kirche zu verbreiten, die zum Auslöser einer ge-waltigen Welle an religiös motivierter Gewalt wurden, die den gesamten Kontinent erfasste. Die Kirche, die seit mehr als 1000 Jahren jede Heraus-forderung ihrer Autorität überstanden hatte und zur wichtigsten und all-gegenwärtigen Autorität im europäischen Leben geworden war, spaltete sich unter dieser immensen Belastung. 

So waren die Zeiten beschaffen, als Michelangelo am 8. September 1504 im italienischen Florenz seine Statue David auf dem Hauptplatz der Stadt enthüllte. Die imposante Statue aus feinstem Carrara-Marmor mit ihrer stolzen Höhe von mehr als fünf Metern und einem Gewicht von mehr als sechs Tonnen war ein Monument des Reichtums der Stadt und der Fertigkeiten ihres Erschaffers (siehe Abbildung 1.1). Die alttestamentarische Geschichte von David und Goliath, die von einem tapferen jungen Krieger handelt, der nach echter Underdog-Manier in einem einzigen Kampf einen unwahrscheinlichen Sieg über einen feindlichen Riesen errang, ist bestens bekannt. Dem Moment, den Michelangelo in Marmor verewigte, haftet jedoch etwas ganz Neues, Unbekanntes an. Er muss diejenigen, die dem Moment der Enthüllung der Statue beiwohnten, in einige Verwirrung gestürzt haben. Davids Gesicht und Nacken sind gespannt. Seine Augenbrauen zusammengezogen und sein konzentrierter Blick richtet sich auf einen fernen Punkt. So steht er da, nicht triumphierend einen Fuß auf den Leichnam seines Feindes platziert (das Standardporträt), aber bereit und mit der unbarmherzigen Entschlossen-heit desjenigen, der weiß, welchen Schritt er als Nächstes tut, aber nicht weiß, welche Folgen er haben wird. Und dann erkennen die Betrachter plötzlich klar die Botschaft des Künstlers: Michelangelo hat in David den schicksalhaften Augenblick zwischen Entschluss und Handlung verewigt; zwischen der Erkenntnis, was er tun muss, und dem Mutfassen zur Aus-führung des Unvermeidlichen.Die Betrachter erkannten wohl diesen Moment wieder. Denn sie lebten in ihm. 

Die Vergangenheit ist Prolog 

Das gilt auch für uns. Das gegenwärtige Zeitalter gleicht einem Wettkampf: zwischen den positiven und den negativen Konsequenzen der globalen Vernetzung und der menschlichen Entwicklung; zwischen den Kräften der Inklusion und der Exklusion; zwischen der Blütezeit der Genialität und der Blü-tezeit der Risiken und Gefahren. Ob wir untergehen oder uns zu neu-er Blüte aufschwingen, ob das 21. Jahrhundert als eines der besten oder schlimmsten Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte in die Geschichtsbücher eingeht, hängt davon ab, was wir alle tun, um die Möglichkeiten zu fördern und die Gefahren zu dämpfen, die dieser Wettkampf mit sich bringt.

Der Einsatz könnte nicht höher sein. Jeder von uns hat das gefährliche Glück, in einem historischen Augenblick geboren worden zu sein – ei-nem entscheidenden Augenblick –, in dem Ereignisse und Entscheidun-gen, die zu unseren Lebzeiten getroffen werden, die Bedingungen unzäh-liger zukünftiger Lebenszeiten diktieren werden. Ja, jede Generation glaubt von sich, maßgeblich zu sein, aber dieses Mal trifft es zu. Die langfristigen Fakten sprechen lauter, als unsere Egos es je könnten. Die Urbanisierung der Menschheit, die vor ungefähr 10.000 Jahren von unseren steinzeitlichen Vorfahren begonnen wurde, hat in unse-rer eigenen Lebenszeit die 50-Prozent-Marke überschritten.1 

Wir sind die erste Generation der urbanen Epoche. Die weltweite Kohlendioxidemission hat die Treibhausgase in der Atmosphäre auf ein beispielloses Niveau getrieben; 14 der 15 heißesten Jahre seit dem Beginn der Klimaaufzeich-nung fielen in das 21. Jahrhundert.2 Zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte ist die Zahl der Armen weltweit zurückgegangen (um mehr als eine Milliarde Menschen seit 1990) und gleichzeitig hat die Weltbevölkerung zugenommen (um ungefähr zwei Milliarden Menschen). Die Zahl der lebenden Wissenschaftler übertrifft die Zahl aller Wissenschaftler der Geschichte, die bis 1980 gelebt haben, und – was zum Teil ihren Errungenschaften zu verdanken ist – die durchschnittliche Lebenserwartung ist in den vergangenen 50 Jahren stärker angestiegen als in den vorhergehenden 1000 Jahren. 

Aber auch kurze Zeiträume können Geschichte machen. Das Internet, das vor 20 Jahren praktisch noch nicht existierte, vernetzte im Jahr 2005 eine Milliarde Menschen, im Jahr 2010 zwei Milliarden Menschen und im Jahr 2015 drei Milliarden Menschen. Inzwischen ist mehr als die Hälfte der Menschheit online.3 China hat sich von einem isolierten, selbstgenügsamen Land in den größten Exporteur und die größte Ökonomie der Welt verwandelt. Indien folgt ihm auf den Fersen. Die Berliner Mauer ist weg und der Zusammenprall zweier unversöhnlicher Wirtschaftsideologien, der die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt hat, ist mit ihr verschwunden. 

All diese Dinge wirken wie uralte Nachrichten, wenn man sie gegen die Schlagzeilen hält, die uns seit der Jahrtausendwende beherrschen: der 11. September, verheerende Tsunamis und Wirbelstürme, eine globale Finanzkrise, die selbst die bestbezahlten Gehirne der Welt auf dem linken Fuß erwischte, eine nukleare Kernschmelze im hypersicheren Japan; Selbstmordattentäter im Herzen von Paris, der Stadt der Liebe; Aufstände gegen die Ungleichheit – und glücklichere Ereignisse wie die Explosion von mobilen und sozialen Medien, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms, die Erfindung des 3D-Drucks, der Bruch mit langwährenden Tabus wie der gleichgeschlechtlichen Ehe, die Entdeckung von Gravitationswellen und der Entdeckung erdähnlicher Planeten, die um nahegelegene Sterne kreisen. 

Es scheint, als würden wir jeden Tag einen neuen Schock erleben. Und der Schock selbst ist der schlagendste Beweis, dass dieses Zeitalter vollkommen anders ist als andere, weil es seine Daten aus sich selbst heraus generiert. Schock ist unser persönlicher Beweis für den historischen Wandel – ein psychischer Zusammenprall zwischen Erwartungen und der Realität – und er ist das unermüdliche Thema in unserem Leben. Er rüttelt uns auf und regt uns an und wird es auch weiterhin tun. In diesem Moment sprechen wir kaum über Geotechnik, organische Energie, super-intelligente Maschinen, biotechnische Plagen, Nanofabriken oder künstliche menschliche Chromosomen, aber schon in der nahen Zukunft – Überraschung! – könnte es passieren, dass wir über nichts anderes mehr sprechen. 

Uns mangelt es an der nötigen Perspektive 


Aus Unkenntnis der großen Richtung lassen wir uns von unmittelbaren Krisen und den Ängsten, die sie auslösen, bedrängen, um nicht zu sagen, tyrannisieren. Wir ziehen uns zurück, anstatt offen auf die Herausforderungen zuzugehen. In einem Zeitalter, das beherztes Handeln verlangt, neigen wir zu Verzagtheit. Global betrachtet, gibt das die derzeitige Stimmung wieder. Unter den US-Bürgern, die einst die größten Förderer und Befürworter des Freihandels waren, wächst inzwischen die Ablehnung.4 Weltweit häuft beziehungsweise verteilt die Industrie Rekordsummen an Bargeld an ihre Aktionäre, anstatt das Geld zu investieren. Ende 2015 hielten die globalen Unternehmen schätzungsweise mehr als 15 Billionen Dollar in Bargeld und Bargeldäquivalenten – viermal so viel wie noch vor einem Jahrzehnt.5 Insgesamt verteilten die Unternehmen des S&P 500 fast alle Gewinne des Jahres 2014 an ihre Aktionäre (in Form von Dividenden und Aktienrückkäufen), anstatt in neue Projekte und Ideen zu investieren.6

Sowohl der extreme rechte Flügel der Politik (der die Öffnung der Gesellschaft für gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Immigration und globale Verantwortlichkeiten zurückdrehen möchte) als auch die extreme Linke (die versucht, die Öffnung der Gesellschaft für Handel und privatwirtschaftliche Unternehmungen rückgängig zu machen) erfahren in großen Teilen der entwickelten Welt einen vermehrten Zulauf. In den 1990er-Jahren war das Wort »Globalisierung« allgegenwärtig. Für viele bedeutete es unter anderem ein weltweites Zusammenrücken und das Versprechen einer besseren Welt für alle. Heute ist das Wort zunehmend unpopulär (außer unter Politikern, die es als bequemen Sündenbock für die Probleme missbrauchen, für die sie keine Lösung finden)

Was uns fehlt und wir so dringend brauchen, ist Perspektive. Mit der richtigen Perspektive können wir den Wettbewerb erkennen, der unser Leben definiert, und unseren eigenen Willen besser gegen die breiteren Kräfte behaupten, die die Welt prägen. Wenn sich Erschütterndes ereignet, wir schockiert sind, können wir einen Schritt zurücktreten und das Ereignis in einen breiteren Kontext stellen, was uns eine größere Kontrolle über seine Bedeutung (und unsere Reaktion) ermöglicht. 

Zivile und politische Führer müssen perspektivisch denken, um eine überzeugende Vision zu entwickeln, die eine Beziehung zwischen den großen Triebkräften der Veränderung und unserem Alltagsleben herstellt. Geschäftsleute brauchen eine klare Perspektive, um sich im Chaos der allgegenwärtigen Informations- und Nachrichtenflut zu orientieren und kluge Entscheidungen zu treffen. Die Jugend braucht Perspektiven, um Antworten auf ihre großen, brennenden Fragen und einen Weg zur Verwirklichung ihrer Leidenschaften zu finden. Eine Perspektive zu haben befähigt uns, die Summe der einzelnen gelebten Tage in ein übergeordnetes Narrativ zu verwandeln. Und erhöht unsere Chancen, das 21. Jahrhundert gemeinsam zum besten Jahrhundert der Menschheitsgeschichte zu machen. 

»Perspektive ist Orientierung und Eingangstor; ohne sie gelingt nichts wirklich gut.«7 Als Leonardo da Vinci (1452–1519) diese Worte schrieb, beriet und betreute er andere Künstler, er hätte aber leicht seine gesamte Generation beraten können. Als Zeitgenosse Michelangelos (1475–1564) lebte Leonardo in genau dem Augenblick des schicksalhaften Wettkampfes, den Michelangelo in Marmor gemeißelt hatte. Um eine Perspektive über unser derzeitiges Zeitalter zu gewinnen, müssen wir nur zurücktreten, einen Blick in die Vergangenheit werfen und erkennen: Das ist alles schon dage­wesen. Die Kräfte, die vor 500 Jahren in Europa zusammenspielten, Genialität freisetzten und die soziale Ordnung umwälzten, sind in unserer Lebens-zeit erneut aktiv. Nur dass sie heute stärker und weltumspannend sind.

 Das ist die zentrale Botschaft dieses Buches. Sie sollte uns mit einer Mischung aus Hoffnung und Entschlossenheit erfüllen. Hoffnung, weil wir die Renaissance 500 Jahre später immer noch als eines der aufgeklärtesten und strahlendsten Zeitalter der Menschheit feiern. Wenn wir unser eigenes goldenes Zeitalter erreichen wollen, ist jetzt der Zeitpunkt gekommen. Die Bedingungen sind gegeben. Wir können diesen Augenblick nutzen und eine neue Blütezeit herbeiführen, die die Blütezeit der Renaissance oder irgendeine andere Hochzeit in der Geschichte in Bezug auf ihre Größenordnung, ihre geografische Reichweite und ihre positiven Folgen für das Wohlergehen der Menschheit bei Weitem in den Schatten stellen wird. Dazu brauchen wir Entschlossenheit, denn dieses neue goldene Zeitalter wird nicht von alleine eintreten; wir müssen es errichten. 

Das ist kein einfaches Unterfangen. Im Jahr 1517 schrieb Niccolò Machiavelli (1469–1527), einer der größten Philosophen seiner Zeit und Gründungsvater der modernen politischen Wissenschaften: Wer die Zukunft voraussehen will, muss sich mit der Vergangenheit beschäftigen, denn menschliche Ereignisse ähneln stets denen vergangener Zeiten. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass sie von Menschen herbeigeführt werden, die von immer gleicher Leidenschaft angetrieben wurden und immer angetrieben sein werden. Das Ergebnis ist, dass in jedem Zeitalter die gleichen Probleme auftreten.8 

Wir sind gewarnt. Die Renaissance war eine Zeit der großen Aufstände und Umstürze, die die Gesellschaft bis zur Bruchstelle und gelegentlich darüber hinaus belastete. Nun riskieren wir erneut große Turbulenzen – auf individueller und gesellschaftlicher Ebene und als Spezies. Einige Male sind wir bereits gestrauchelt. Diese Episoden haben viele von uns zu Zynikern und Kassandras gemacht. Wenn wir erneut zu wahrer Größe gelangen wollen, zu der die Menschheit durchaus befähigt ist, müssen wir uns das Vertrauen bewahren, dass sie erreichbar ist. Wir müssen alles tun, um diese Größe Wirklichkeit werden zu lassen. Der Nutzen des Fortschritts muss einer möglichst breiten Gemeinschaft zugutekommen. Und wir müssen uns gegenseitig helfen, die Erschütterungen zu überstehen, die niemand kommen sieht.


Nota. - Da wäre viel zu zu sagen... 

Für heute begnüge ich mich mit der Bemerkung: In einem haben sie Recht - nämlich, dass eine Perspektive fehlt. Aber in welche Richtung es gehen sollte, lässt sich schon ahnen.
JE

Freitag, 27. September 2019

Die Entstehung der Türkei vor hundert Jahren.


aus nzz.ch, 25.6.2019 
                                            
Der Beginn vom Ende des kleinasiatischen Griechentums
Venizelos’ Überheblichkeit und Kemals kometenhafter Aufstieg
1919 steht für den Beginn des griechisch-türkischen Konflikts in Kleinasien, der in die Vertreibung und in die Flucht des kleinasiatischen Griechentums mündete. Hundert Jahre später wäre es an der Zeit, dass beide Seiten sich der historischen Komplexität des damaligen Geschehens stellen. Doch dazu dürfte es nicht kommen.

von Ekkehard Kraft

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs lag nicht nur das Schicksal des deutschen Kaiserreichs und der Habsburger Doppelmonarchie, sondern auch das des mit den beiden Mittelmächten verbündeten Osmanischen Reichs in der Hand der siegreichen Entente-Staaten. Am 30. November 1918 war in Mudros auf der Ägäisinsel Limnos der Waffenstillstand unterzeichnet worden. Die Hauptstadt Istanbul und andere Teile des Landes wurden von Truppen der Siegermächte besetzt.

In Griechenland, das 1917 an der Seite der Entente in den Weltkrieg eingetreten war, glaubte man, nun sei der Zeitpunkt gekommen, die Vision eines Griechenlands der zwei Kontinente und fünf Meere Realität werden zu lassen. Wegen des von ihm angestrebten Bündnisses mit der Entente hatte Ministerpräsident Eleftherios Venizelos den Konflikt mit dem deutschfreundlichen König Konstantin und die politische Spaltung des Landes in Kauf genommen. Seine territorialen Ansprüche deckten sich nicht mit der Demografie in Kleinasien. Aber Venizelos glaubte, mit Umsiedlungen und freiwilligem Bevölkerungsaustausch ethnisch homogene Gebiete schaffen zu können. Auf den Friedensverhandlungen in Paris lobbyierte er für seine Ziele und nahm mit seinem Charisma die Diplomaten und Politiker der Grossmächte für sich ein. 

Britische Sympathien

Um die britischen Sympathien musste er sich nicht sonderlich bemühen: Im Foreign Office gab es eine einflussreiche Gruppe von Philhellenen, die ein grösseres Griechenland als Hauptverbündeten Grossbritanniens in der Region wollten. Premierminister David Lloyd George teilte diese Auffassung. Er sah in Griechenland die neue Macht im östlichen Mittelmeer, die nicht nur das Erbe des Osmanischen Reichs antreten, sondern auch als Gegengewicht gegen Frankreich und Italien in der Region fungieren könne. Allerdings fanden die griechischen Ansprüche in Kleinasien keineswegs ungeteilte Zustimmung. Ein Memorandum des Generalstabs befand hellsichtig, die Abtretung von Izmir und dessen Hinterland schaffe eine Quelle permanenter Unruhe; die türkische Seite könne zudem versuchen, das Gebiet zurückzuerobern. Auch britische Offiziere vor Ort warnten.
Es dürften die bewährten nationalen Narrative beschworen werden – mit den Opfern auf der eigenen und den Tätern auf der anderen Seite.

Doch die Einwände wurden Makulatur, als US-Präsident Woodrow Wilson, Lloyd George und Frankreichs Premierminister Georges Clemenceau am 6. Mai 1919 ganz allein die Entscheidung trafen, Griechenland das Mandat für Izmir und die angrenzende Provinz Aydin zu übertragen. Wunschdenken, Realitätsverweigerung und erhebliche Unkenntnis der Materie waren – wie so oft bei politischen Entscheidungen – die massgeblichen Faktoren. Am 15. Mai 1919 landeten griechische Truppen in der ägäischen Metropole. Unter der dortigen griechischen Bevölkerung herrschte Festtagsstimmung, der orthodoxe Metropolit segnete die Soldaten. Weltweit fand das Ereignis seinen Widerhall in der Presse.

Kaum Beachtung fand dagegen der junge General der ehemaligen osmanischen Armee namens Mustafa Kemal Pascha, der wenige Tage später, am 19. Mai, in Samsun am Schwarzen Meer den Boden Anatoliens betrat. Er sollte als Armee-Inspekteur im Auftrag der Regierung des Sultans, die in Istanbul unter der Aufsicht der Entente stand, die osmanischen Truppen demobilisieren und die Gewalt zwischen den ethnisch-religiösen Volksgruppen beenden. Diese beiden Ereignisse im Mai 1919 standen damals zwar in keinem direkten Zusammenhang, die griechische Besetzung Izmirs sollte sich im Nachhinein aber als Wendepunkt in der Nachkriegsentwicklung und Katalysator des türkischen Widerstands gegen die befürchtete Aufteilung des Landes erweisen.

Kemal als neue Führungsfigur

Bis dahin hatten die entsprechenden Bemühungen der im Land verbliebenen mittleren Kader der nationalistischen Jungtürken – deren in den Völkermord an den Armeniern verstrickte Führung hatte das Land bei Kriegsende verlassen – in der Bevölkerung nur verhaltene Resonanz gefunden. Nach den beiden Balkankriegen und dem Weltkrieg herrschten Erschöpfung und Resignation vor.

  Griechisch besiedelte Gebiete vor dem Ersten Weltkrieg.

Dies änderte sich schlagartig nach dem 15. Mai. In Istanbul und allen wichtigen Städten kam es zu Protesten, an denen sich nicht nur die Anhänger der Jungtürken, sondern auch anderer politischer Lager beteiligten. In dieser Situation traf Mustafa Kemal in Samsun ein. Eine jungtürkische Geheimorganisation hatte zuvor schon Offiziere nach Anatolien entsandt, wo bereits während des Weltkriegs Waffen- und Munitionsdepots angelegt worden waren; dort standen auch noch Teile der osmanischen Armee unter Waffen. Was noch fehlte, war eine Führungsfigur, die die Widerstandsbewegung vor Ort koordinierte.

Mustafa Kemal Atatürk (Bild: pd-Ottoman)
Kratzer auf der Ikone Atatürks

Als politisch unbelasteter Offizier, der in der Armee hohes Ansehen genoss, schien Kemal der geeignete Mann zu sein. Den offiziellen Auftrag der Regierung nahm er nicht ernst. Als diese ihn abberufen wollte, war es bereits zu spät. In den folgenden Monaten konnte er seine Position weiter festigen. Die Zeit arbeitete für ihn und die Nationalisten in Ankara, die immer mehr diskreditierte Regierung des Sultans wurde zu einer Quantité négligeable.

Gerade in dem Gebiet, das 1919 griechischer Verwaltung übereignet wurde, waren die Grundlagen des Zusammenlebens von Muslimen und Nichtmuslimen als Folge der jungtürkischen Politik, die Anatolien als exklusives Kernland der türkischen Nation sah, schwer erschüttert worden. Die Ansiedlung von Muslimen vom Balkan und aus dem Kaukasus in der Region sorgte für Spannungen, die Regierung stand hinter Gewaltakten gegen die griechische Bevölkerung, die sie zur Emigration bewegen wollte.

Denkbar schlechte Beziehungen

Während des Ersten Weltkriegs wurde ein Teil der Griechen von der Küste ins Landesinnere deportiert. Auch wenn ihnen das Schicksal der Armenier erspart blieb, so waren die Beziehungen 1918/19, als sich die Machtverhältnisse zu ändern schienen, denkbar schlecht. Die neue Ordnungsmacht erwies sich, wie zu erwarten war, alles andere als unparteiisch. Dies sollte sich bereits am 15. Mai zeigen, als es in Izmir zu Gewaltausbrüchen mit Hunderten von Opfern, in der grossen Mehrheit Türken, kam. Die Gewalt breitete sich in der ganzen Region aus und eskalierte.

Venizelos überschätzte sträflich die Kapazitäten seines eigenen Landes, so wie er die Reaktionen und den Widerstandswillen des erweckten Nationalismus auf türkischer Seite unterschätzte. Er war auch nicht imstande, die Dynamik der Politik der Grossmächte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, deren Schwäche und Unentschlossenheit, der Türkei die Friedensbedingungen aufzuzwingen, zu erkennen.

Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Sèvres im August 1920, der Ostthrakien und die Region Smyrna Griechenland zusprach und nur noch einen türkischen Rumpfstaat vorsah, setzte er alles auf eine Karte: Er bot der Entente an, die Umsetzung des Vertrags durch die griechische Armee mit Waffengewalt zu erzwingen, die daraufhin weiter vorrückte. Am Ende jenes Jahres war Venizelos nach einer verlorenen Parlamentswahl aber bereits nicht mehr im Amt. Die neue Regierung setzte den bisherigen Kurs fort, der schliesslich im Sommer 1922 in die militärische Niederlage und die kleinasiatische Katastrophe mündete. Die Unterstützung der Entente hatte Griechenland nach der Rückkehr von König Konstantin, der vor allem Frankreich als Persona non grata galt, weitgehend verloren. Grossbritannien blieb zwar bei seiner politischen Unterstützung, war aber nicht bereit, sich selbst militärisch zu engagieren.

Der traumatische Untergang des Osmanischen Reiches befeuert das türkische Selbstbewusstsein
 
Der 19. Mai 1919 ist in der Türkei als Atatürk-Gedenktag und Feiertag der Jugend und des Sports ein gesetzlicher Feiertag. In der offiziellen Historiografie gilt er als Beginn des nationalen Befreiungskriegs. Der 15. Mai 1919 hat dagegen in der griechischen Erinnerungskultur keinen Platz.

Hier steht das Jahr 1922 im Mittelpunkt, mit dem Brand von Smyrna, der Vertreibung und der Flucht des kleinasiatischen Griechentums. Ein Jahrhundert später müsste eigentlich die Zeit gekommen sein, dass sich beide Seiten der historischen Komplexität des damaligen Geschehens stellen. Doch dazu dürfte es infolge des bis heute anhaltenden gespannten Verhältnisses nicht kommen. Vielmehr dürften bereits im Vorfeld der anstehenden runden Gedenktage die bewährten nationalen Narrative beschworen werden – mit den Opfern auf der eigenen und den Tätern auf der anderen Seite.

Ekkehard Kraft ist Historiker und lebt in Dossenheim in Baden-Württemberg.