aus nzz.ch, 27.9.2019
Hätschle dein Problem, so dass es immer grösser wird:
Es ist dieser eine Gedanke, der von Niklas Luhmann bleibt
Niklas Luhmann zählt zu den grossen Intellektuellen. Seine Systemtheorie ist jedoch ausserhalb des akademischen Betriebs fast vergessen. Aber auch im Zeitalter des neuen Realismus hält er noch eine intellektuelle Überraschung für uns bereit.
Er starb ziemlich jung, für viele jedenfalls: zu jung. Das reiche intellektuelle Leben des Niklas Luhmann kam am 6. November 1998 in seinem 71. Jahr zu einem Ende, nachdem er jahrelang an einer schweren Autoimmunkrankheit gelitten hatte. Obwohl seine ebenso zahlreichen wie faszinierten Leser das Ende hatten kommen sehen, traf die am Beginn aller prominenten Nachrichtensendungen erwähnte Meldung das intellektuelle Deutschland wie ein unfassbares Ereignis.
Denn Luhmanns Denken hatte die Nation seit den sechziger Jahren elektrisiert – und gespalten. Wer geistig auf sich hielt, musste damals zwischen zwei Möglichkeiten wählen. Entweder sprach er entlang von Begriffen und Argumenten (manchmal sogar in der eigentümlich hohen Stimmlage), die der persönlich distanziert wirkende Professor aus Bielefeld in Umlauf gebracht hatte. Oder er übernahm die Rolle des Anti-Luhmannianers und schwor den neomarxistischen Prinzipien der Frankfurter Schule ewige Treue, jenen Grundsätzen, zur deren Herausforderer Luhmann seit einer vielbeachteten Debatte mit Jürgen Habermas in den frühen siebziger Jahren geworden war.
Die Nostalgie
Seine Anhänger gingen davon aus, dass die von ihm entworfene Systemtheorie der Gesellschaft bald die internationalen Nervenzentren der sozialwissenschaftlichen Diskussion beherrschen würde. Manche verstiegen sich sogar zur Behauptung, ihre Sicht der Dinge sei ausserhalb der akademischen Welt bereits «der Fall der Gegenwart».
Niklas Luhmann scheute die Komplexität nie, er gewann ihr stattdessen Erkenntnis ab.
Gut zwanzig Jahre später hat sich keine dieser Erwartungen oder Befürchtungen erfüllt. Mit vielen anderen Veteranen aus jener Zeit erinnere ich mich an die Systemtheorie im bittersüssen Gefühl einer Jugendliebe, die wir als Liebe unseres Lebens umarmen wollten.
Die Gesamtausgabe von Luhmanns Werken ist im überwältigenden Volumen seines Nachlasses und in juristischen Streitigkeiten unter den Erben stecken geblieben. Aus der vorhergesagten Global-Rezeption seiner Theorie ist eine Diaspora-Präsenz geworden: Nur an wenigen juristischen Fakultäten der Vereinigten Staaten sind Luhmanns meist frühe Schriften zur Rechtssoziologie Pflichtlektüre geblieben.
In einigen Ländern – zum Beispiel in Mexiko – haben dank breiter Übersetzungsprojekte Luhmann-Sekten aus Mitgliedern im heute fortgeschrittenen Pensionsalter überlebt. Wer zwischen seiner Geburtsstadt Lüneburg und dem Universitätssüden von Konstanz immer noch systemtheoretisch spricht oder schreibt, der darf sich bestenfalls auf einen Nostalgie-Effekt verlassen.
Die Biografie
Wie können wir diesen drastischen Konjunktur-Umschlag erklären? Und vor allem: Existiert doch noch ein Versprechen lohnender Neulektüre unter früher eingeklammerten Voraussetzungen? Für produktive Antworten auf diese Fragen ist ein Blick auf besondere Zweideutigkeiten in Luhmanns beruflicher Biografie erhellend, wo sich Etappen der Verwaltungsarbeit und der philosophischen Reflexion zu einer eigentümlichen, wohl auch für ihn selbst nur schwer durchschaubaren Oszillation verknüpften. 1944 der NSDAP beigetreten, ohne je eine Mitgliedsnummer erhalten zu haben, wie Luhmann 1949 in einem Fragebogen zur Entnazifizierung angab, diente er seit dem fünfzehnten Lebensjahr als Flakhelfer. Er verbrachte mehrere Monate in amerikanischer Kriegsgefangenschaft und schloss zwischen 1946 und 1949 ein Jurastudium im deutschen Freiburg ab. Beim Lüneburger Oberverwaltungsgericht absolvierte er die Referendarausbildung, wurde 1955 ins niedersächsische Kultusministerium abgeordnet und erwarb dort einen Ruf als intellektuell herausragender Beamter, der ihm 1960 bis 1961 ein Fortbildungsstipendium in Harvard einbrachte. Nach der Rückkehr war er für drei Jahre Referent an der Verwaltungshochschule Speyer. Er promovierte und habilitierte sich innerhalb von fünf Monaten in Münster, wurde 1968 an die neugegründete Bielefelder Reformuniversität berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1993 lehrte. Als spät entdeckter Überflieger der akademischen Welt pflegte Luhmann einen Verhaltensstil der administrativen Nüchternheit und eine Sprache, deren durchgehaltener Indikativ hochfliegenden Spekulations-Ekstasen den trockenen (und zuweilen eleganten) Ton juristischer Gewissheiten auferlegte.
Die Phasen
In der Entfaltung seiner Theorie lösten drei Phasen einander ab, die er – entgegen dem heute vorherrschenden Eindruck einer eigenständigen Ableitung – ostentativ mit den Namen anderer Denker verband.
Die in Deutschland bis heute sprichwörtlich gebliebene These, dass soziale Systeme prinzipiell Funktionen der Komplexitätsreduktion gegenüber ihren verschiedenen, aber immer überkomplexen Umwelten erfüllen, schrieb er dem Soziologen Talcott Parsons zu, an dessen Seminaren in Harvard Luhmann teilgenommen hatte. Die Idee der internen autopoetischen Reproduktion von Systemen in Reaktion auf verschiedene Umweltbedingungen führte er auf die chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela zurück. Und für das Verstehen sozialer Systeme als sich selbst beobachtend und deshalb bis zu einem gewissen Grad auch selbst steuernd rekurrierte auf den Formbegriff des britischen Mathematikers George Spencer-Brown.
Während aber die System/Umwelt-Unterscheidung und das Konzept der geschlossenen autopoetischen Systeme innovative Impulse in die soziologischen Diskussionen einbrachten, führte die Prämisse von der Selbstbeobachtung der Systeme als Matrix jeder Theorie-Bildung den späten Luhmann zu einer Übereinstimmung mit traditionellen Positionen der Hermeneutik und mit den damals grassierenden Binsenweisheiten vom sozialen Konstruiertsein der Wirklichkeit. Ebendieser Konstruktivismus hat die Systemtheorie im neorealistisch gewordenen Philosophie-Klima der Gegenwart mit der Patina eines unumkehrbar vergangenen Denkens überzogen.
Das Werk
Ob Luhmann selbst wusste, dass die wachsende Akzeptanz seiner Arbeit ein Effekt solcher Annäherungen an Hermeneutik und Konstruktivismus war, werden wir nie erfahren. Ebenso unbeantwortet wird die Frage bleiben, ob jene Generation von Parsons-, Maturana/Varela- und Spencer-Brown-Spezialisten, die seine Zitate an deutschen Universitäten ins beamtete Brot gesetzt hatten, ihn selbst davon überzeugt hätten, dass es einen internationalen Stand der Systemtheorie gebe. Eigentlich sprach er selbst ja bloss von den jeweils erreichten Phasen des eigenen Denkens, wenn er sich auf diesen Horizont bezog, der ausserhalb seines eigenen Schüler- und Leserkreises nicht existierte.
War Luhmann ein Opfer seines nüchtern-beschreibenden Verwaltungsdiskurses geworden, der Referenzen brauchte, oder inszenierte er ein brillant-diabolisches Spiel der Ironie für – und gegen – seine Leser? Jedenfalls erklärt die Asymmetrie zwischen der Systemtheorie als individueller Leistung und dem Diskurs ihrer Selbstpräsentation, warum sie nach Luhmanns Tod rasch der schon erwähnten Diaspora anheimfiel, statt sich als globales Paradigma durchzusetzen.
Doch wieso liebte es der so sehr bewunderte Niklas Luhmann, über seine Arbeit aus einer Perspektive zu reden, die von ihm selbst als potenziell heroischem Subjekt oder intellektuellem Genie ablenkte – und damit die Bewunderung nur weiter steigerte? Wieso setzte er den bis heute fortlebenden Köhlerglauben in die Welt, dass er seine besten Ideen aus der Kommunikation mit einem eher konventionellen Zettelkasten beziehe? Wieso dankte er beim akademischen Hochamt zur Feier seines sechzigsten Geburtstags mit stirnrunzelndem Erstaunen den aus aller Welt angereisten Kollegen, dass sie nach Bielefeld gekommen waren, «um sein Werk zu ehren» (nicht ihn selbst)?
Was bleibt
Immerhin weigerte sich Luhmann auch, ein rundes Äquivalent für die klassischen Begriffe des Subjekts oder des Menschen bereitzustellen. Statt homogen zu sein, sollte die «menschliche Selbstreferenz» (wie der Mensch systemtheoretisch hiess) – gegenintuitiv – in einer schwierigen Koppelung zwischen drei Systemen, nämlich dem Körper («biologisches System»), dem Bewusstsein («psychisches System») und der Gesellschaft («soziales System»), existieren.
Für diesen ausgefallenen Theorie-Schachzug hatte Luhmann einen spezifischen Grund, auf den er nicht oft zu sprechen kam. Im Zeitalter der Ideologien nach dem Ersten und im Zweiten Weltkrieg aufgewachsen, wollte er in seiner Arbeit jede Möglichkeit vermeiden, im Namen der Menschheit – und potenziell totalitär – vollmundig ethische, politische und eben ideologische Ansprüche zu stellen.
Die eigene intellektuelle Stärke lag – ganz auf der anderen Seite – in den provokativen Gesten einer philosophischen Verfremdung, mit der er seine Leser unablässig konfrontierte. Solche Strategien laufen zusammen in Luhmanns Wissenschaftstheorie, die ich als das eine, seit der Spätphase seines Werks immer bedeutsamer gewordene Versatzstück der Systemtheorie ansehe.
Unter allen sozialen Systemen, schrieb er, diene allein die Wissenschaft nicht der Reduktion von Umweltkomplexität, sondern steigere sie. Wissenschaft soll also unseren Blick auf die Welt komplexer, ja komplizierter machen, statt Probleme zu lösen. Zu liefern, was im Denken und als Weltsicht «der Fall ist», darf also gerade nicht ihre Aufgabe sein, sondern das Aufzeigen von Alternativen, die das Denken auch und vor allem unter Problemdruck in Gang halten.
Ob die sich heute zu einer reinen Institution der Vermittlung von Berufswissen verhärtende Universität fähig ist, diesen Luhmann-Vorschlag wirklich werden zu lassen, steht auf einem anderen Blatt. Gegebenenfalls bleibt auch die Möglichkeit, Luhmanns Wissenschaftstheorie als Vorlage für ein neues Selbstverständnis des Intellektuellen aufzufassen.
Dessen klassische Funktion des Engagements für bereits existierende politische Positionen ist in einer Welt ans Ende gekommen, wo – nicht nur für Donald Trump – Resonanz an die Stelle von Repräsentation getreten ist. Wir müssen diese neue Situation also konzeptuell erfassen, statt uns in larmoyanter Nostalgie über sie zu beklagen. Es ist an uns, Alternativen zu imaginieren, statt einem vergangenen Status quo der aufklärerischen Vernunft nachzutrauern.
Ohne einen Sinn für Ironie allerdings oder als Rezeptwissen für intellektuelle Kreativität wird man diese Dimension der Systemtheorie nicht zum Leben erwecken. Vielmehr sollte heute mehr denn je gelten, was Niklas Luhmann in den späten achtziger Jahren den Stipendiaten eines Graduiertenkollegs mit heller Alt-Stimme dringend empfahl: «Und wenn Sie ein Problem haben, meine Damen und Herren, bitte nicht lösen – bewahren, hätscheln Sie Ihr Problem.»
Solange wir vorgeben, über Antworten zu verfügen, werden wir pikiert bleiben angesichts der geringen Resonanz, die sie finden. Allein die Fähigkeit, Komplexität zu akzeptieren und Alternativen zu denken, macht unsere – und Luhmanns – zu oft vergessene Stärke aus.
Hans Ulrich Gumbrecht ist emeritierter Professor für Literaturwissenschaften in Stanford und Autor. Zuletzt ist von ihm das Buch «Brüchige Gegenwart: Reflexionen und Reaktionen» (Reclam, 2019) erschienen.
Nota. - Ich habe nie ganz
verstanden, wovon Luhmanns Systemtheorie eigentlich handelt noch
wozu sie gut ist. Gumbrechts Nachruf erklärt mir immerhin, weshalb
ichs nicht verstehen konnte; seine Auffassung von der
Sozialwissenschaft erlaubt so eine Frage gar nicht. Denn wenn sie
einen Zweck verfolgte oder auch nur ein bestimmtes Problem
behandelte, könnte ihr Verfahren nichts anderes sein als eben:
Reduktion von Komplexität. Sie müsste die Aspekte auswählen, die
mit ihrem Thema in pragmatischem oder logischem Zusammenhang stehen,
und von allem absehen, 'was nicht zur Sache gehört'.
Sie müsste wohl oder übel ihre 'Sache' wie jede andere Wissenschaft definieren; eingrenzen und in sich unter- scheiden – aber unterscheiden in einer Größenordnung, die dem logischen oder technischen Zugriff erfassbar bleibt. Wie ichs auch drehe und wende: Wenn sie überhaupt eine Absicht hat, muss sie Mannigfaltiges synthe- tisieren alias „Komplexität reduzieren“. Wenn sie eine Absicht aber nicht verfolgt, wird natürlich auch nicht kenntlich, was sie tut, und mein Unverständnis wäre entschuldigt.
Doch wird mir nun erst recht unverständlich, wie er zu seinen Kategorien kam – denn wenn ich nicht weiß, wohin sein Weg zielt, kann ich nicht zurückverfolgen, woher er kommt. Und recht verstanden: Seine Grundbe- griffe System, Autopoiesis und Selbstreferenzialität haben für ihn apriorische Bedeutung wie für Kant die Kate- gorien und Anschauungsformen.*
Welchen Gewinn habe ich, wenn ich ein Mannigfaltiges als ein System auffasse? Denn es geht ja nicht darum, das wird er kaum bestreiten, was 'objektiv' System ist oder nicht, sondern was das erkennende Subjekt zweck- mäßiger Weise als System auffasst. Wenn die Frage der Zweckmäßigkeit nicht vorwärts, nicht im Sinne eines zu verfolgenden Zieles gestellt werden soll, muss sie rückwärts im Sinne eines treibenden Grundes gestellt werden. Denn wohlbemerkt: Würde auch diese Frage als illegitim abgewiesen, bliebe kein Erkenntnisgewinn und ergo kein wissenschaftlicher Sinn übrig. Die ganze Theorie wäre lediglich ein autopoietisches und selbstreferenziel- les System mit dem Zweck, in akademischem Rahmen gehätschelt zu werden.
Sie müsste wohl oder übel ihre 'Sache' wie jede andere Wissenschaft definieren; eingrenzen und in sich unter- scheiden – aber unterscheiden in einer Größenordnung, die dem logischen oder technischen Zugriff erfassbar bleibt. Wie ichs auch drehe und wende: Wenn sie überhaupt eine Absicht hat, muss sie Mannigfaltiges synthe- tisieren alias „Komplexität reduzieren“. Wenn sie eine Absicht aber nicht verfolgt, wird natürlich auch nicht kenntlich, was sie tut, und mein Unverständnis wäre entschuldigt.
Doch wird mir nun erst recht unverständlich, wie er zu seinen Kategorien kam – denn wenn ich nicht weiß, wohin sein Weg zielt, kann ich nicht zurückverfolgen, woher er kommt. Und recht verstanden: Seine Grundbe- griffe System, Autopoiesis und Selbstreferenzialität haben für ihn apriorische Bedeutung wie für Kant die Kate- gorien und Anschauungsformen.*
Welchen Gewinn habe ich, wenn ich ein Mannigfaltiges als ein System auffasse? Denn es geht ja nicht darum, das wird er kaum bestreiten, was 'objektiv' System ist oder nicht, sondern was das erkennende Subjekt zweck- mäßiger Weise als System auffasst. Wenn die Frage der Zweckmäßigkeit nicht vorwärts, nicht im Sinne eines zu verfolgenden Zieles gestellt werden soll, muss sie rückwärts im Sinne eines treibenden Grundes gestellt werden. Denn wohlbemerkt: Würde auch diese Frage als illegitim abgewiesen, bliebe kein Erkenntnisgewinn und ergo kein wissenschaftlicher Sinn übrig. Die ganze Theorie wäre lediglich ein autopoietisches und selbstreferenziel- les System mit dem Zweck, in akademischem Rahmen gehätschelt zu werden.
*) Kant hat das Woher seines Apriori ausdrücklich nicht erörtert - um nämlich 'für den Glauben Platz zu schaffen'.