Dienstag, 24. September 2019

Aseptische Wohlfühlwissenschaft.

Williams College in Massachusetts
aus nzz.ch, 24.9.2019

An der Wohlfühluniversität sind unbequeme Gedanken unerwünscht
Stereotypes Denken in sicheren Umgebungen fördert die Komfortidylle. Die Universität als Ort der Wissensproduktion hingegen scheint vorbei zu sein. Zu diesem Schluss kommt die Studie eines amerikanischen Philosophieprofessors.

von Marc Neumann, Washington

Die Jugend ist nicht mehr wie früher: Dieser Satz ist wohl immer wahr. Aber wie genau verändert sie sich? In den USA hat Steven B. Gerrard, Philosophieprofessor am Williams College in Massachusetts, den Kulturwandel im Endstadium der Jugend – an der Universität – unter die Lupe genommen. Sein Fazit: Das zurzeit an höheren Bildungsinstituten herrschende Klima lässt sich am besten mit dem Ausdruck «Comfort College» umschreiben, zu Deutsch: Wohlfühluniversität.

Wer jetzt an «Sicherheitszonen» und «Trigger-Warnungen» vor «Mikro-Aggressionen» denkt, liegt richtig. Der Hintergrund: Vergangenes Jahr hatte Gerrard vorgeschlagen, Studenten zu einem Gelöbnis auf die Redefreiheit an der Universität zu bewegen, da diese Privilegierte wie Minderheiten gleichermassen schütze.

Flugs kam die gepfefferte Antwort einiger Studenten: «Redefreiheit» sei «von rechtsgerichteten und liberalen Gruppen als diskursiver Deckbegriff für Rassismus, Xenophobie, Antisemitismus, Homophobie, Transphobie, Ableismus und Klassismus kooptiert worden». Diese durch Redefreiheit getriggerten Phobien und Ismen (Ableismus ist übrigens Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen) stehen Behaglichkeit und Komfort auf dem Campus im Wege. 

Eine Typologie der Universität 

Das Ende für den professoralen Fahneneid auf die Redefreiheit markierte den Anfang für Gerrards Aufsatz «Der Aufstieg des Comfort College». Er geht über die bekannte Kritik an sich progressiv dünkenden Kräften hinaus, indem er eine interessante Typologie der amerikanischen Universität bietet.

Das Comfort-College ist die letzte einer Reihe von Inkarnationen der Universität: Im Anfang war das «Christliche College», eine theologisch oder zumindest theistisch fundierte Lehranstalt der frühen USA, als der Gott der Aufklärung noch in Verfassung und Denken hineinfunkte. Diese wandelte sich zum «Gentlemen College», der Eliteschmiede von Söhnen (ohne ihre Schwestern) mächtiger US-Familien Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.

Dank Suffragetten und Bürgerrechtskämpfern wurde die chauvinistische Universität schliesslich vom «Consumer College» abgelöst, Bildung wurde zur Ware für studentische Konsumenten. Und da Inklusion und Diversität die Zahl der Konsumenten und damit auch den Marktanteil der Universität als Profitzentrum erhöhten, wurde diese gemischter, reichhaltiger – und reicher.

Prinzipiell tönt das prima: Diversität und Inklusion studentischer Konsumenten erlaubten schwach repräsentierten Gruppen akademische Ausbildung und Präsenz. Wozu also brauchte es da noch das Comfort-College? 

Wozu das Ganze noch?

Als Grund sieht Gerrard einen Produktwechsel. In den historischen Verkörperungen bis zum «Consumer College» war die Universität Produzent und Anbieter von Wissen (selbst wenn aufs Christliche, «Gentlemännliche» reduziert). Erschien «Inklusion & Diversität» an der Konsumuniversität als willkommenes Nebenprodukt der Wissensproduktion, ändert sich das am «Comfort College» radikal: Inklusion und Diversität selbst sind Produkt und Dienstleistung der Uni, ihre Markenidentität beruht auf einer behaglichen und komfortablen Erfahrung der studentischen Konsumenten.

Diesen kultischen Wohlfühlglauben stören wissensproduzierende Staubfänger wie Wahrheit, Logos und die Freiheit, Skepsis und kritisches Denken zu äussern, nur noch. Also weg damit, so die studentischen Komfortkunden. Und weil der Kunde König ist, machen die Universitätsleitungen, das Management des «Comfort College», eben brav mit.

Sollte Gerrard recht haben, haben unbequeme Dinge wie Forschungs- und Redefreiheit an der Uni bald nichts mehr zu suchen. Nur – wofür braucht’s dann noch Universitäten?


Nota. - Zu bedenken aber, dass die führenden US-Universitäten privat betrieben werden; da ist der Kuunde König, denn der Betrieb muss sich rentieren. Bei uns ist es eher die öffentliche Verwaltung, die auf den Geist drückt. Doch je nach Laune der öffentlichen Meinung kann es unterm Strich auf dasselbe hinauslaufen. In der Philosophie beispielsweise geben auch bei uns 'Kontinentalen' die amerikanischen 'Systematiker' zusehnds den Ton an.
JE

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