Freitag, 27. September 2019

Die Entstehung der Türkei vor hundert Jahren.


aus nzz.ch, 25.6.2019 
                                            
Der Beginn vom Ende des kleinasiatischen Griechentums
Venizelos’ Überheblichkeit und Kemals kometenhafter Aufstieg
1919 steht für den Beginn des griechisch-türkischen Konflikts in Kleinasien, der in die Vertreibung und in die Flucht des kleinasiatischen Griechentums mündete. Hundert Jahre später wäre es an der Zeit, dass beide Seiten sich der historischen Komplexität des damaligen Geschehens stellen. Doch dazu dürfte es nicht kommen.

von Ekkehard Kraft

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs lag nicht nur das Schicksal des deutschen Kaiserreichs und der Habsburger Doppelmonarchie, sondern auch das des mit den beiden Mittelmächten verbündeten Osmanischen Reichs in der Hand der siegreichen Entente-Staaten. Am 30. November 1918 war in Mudros auf der Ägäisinsel Limnos der Waffenstillstand unterzeichnet worden. Die Hauptstadt Istanbul und andere Teile des Landes wurden von Truppen der Siegermächte besetzt.

In Griechenland, das 1917 an der Seite der Entente in den Weltkrieg eingetreten war, glaubte man, nun sei der Zeitpunkt gekommen, die Vision eines Griechenlands der zwei Kontinente und fünf Meere Realität werden zu lassen. Wegen des von ihm angestrebten Bündnisses mit der Entente hatte Ministerpräsident Eleftherios Venizelos den Konflikt mit dem deutschfreundlichen König Konstantin und die politische Spaltung des Landes in Kauf genommen. Seine territorialen Ansprüche deckten sich nicht mit der Demografie in Kleinasien. Aber Venizelos glaubte, mit Umsiedlungen und freiwilligem Bevölkerungsaustausch ethnisch homogene Gebiete schaffen zu können. Auf den Friedensverhandlungen in Paris lobbyierte er für seine Ziele und nahm mit seinem Charisma die Diplomaten und Politiker der Grossmächte für sich ein. 

Britische Sympathien

Um die britischen Sympathien musste er sich nicht sonderlich bemühen: Im Foreign Office gab es eine einflussreiche Gruppe von Philhellenen, die ein grösseres Griechenland als Hauptverbündeten Grossbritanniens in der Region wollten. Premierminister David Lloyd George teilte diese Auffassung. Er sah in Griechenland die neue Macht im östlichen Mittelmeer, die nicht nur das Erbe des Osmanischen Reichs antreten, sondern auch als Gegengewicht gegen Frankreich und Italien in der Region fungieren könne. Allerdings fanden die griechischen Ansprüche in Kleinasien keineswegs ungeteilte Zustimmung. Ein Memorandum des Generalstabs befand hellsichtig, die Abtretung von Izmir und dessen Hinterland schaffe eine Quelle permanenter Unruhe; die türkische Seite könne zudem versuchen, das Gebiet zurückzuerobern. Auch britische Offiziere vor Ort warnten.
Es dürften die bewährten nationalen Narrative beschworen werden – mit den Opfern auf der eigenen und den Tätern auf der anderen Seite.

Doch die Einwände wurden Makulatur, als US-Präsident Woodrow Wilson, Lloyd George und Frankreichs Premierminister Georges Clemenceau am 6. Mai 1919 ganz allein die Entscheidung trafen, Griechenland das Mandat für Izmir und die angrenzende Provinz Aydin zu übertragen. Wunschdenken, Realitätsverweigerung und erhebliche Unkenntnis der Materie waren – wie so oft bei politischen Entscheidungen – die massgeblichen Faktoren. Am 15. Mai 1919 landeten griechische Truppen in der ägäischen Metropole. Unter der dortigen griechischen Bevölkerung herrschte Festtagsstimmung, der orthodoxe Metropolit segnete die Soldaten. Weltweit fand das Ereignis seinen Widerhall in der Presse.

Kaum Beachtung fand dagegen der junge General der ehemaligen osmanischen Armee namens Mustafa Kemal Pascha, der wenige Tage später, am 19. Mai, in Samsun am Schwarzen Meer den Boden Anatoliens betrat. Er sollte als Armee-Inspekteur im Auftrag der Regierung des Sultans, die in Istanbul unter der Aufsicht der Entente stand, die osmanischen Truppen demobilisieren und die Gewalt zwischen den ethnisch-religiösen Volksgruppen beenden. Diese beiden Ereignisse im Mai 1919 standen damals zwar in keinem direkten Zusammenhang, die griechische Besetzung Izmirs sollte sich im Nachhinein aber als Wendepunkt in der Nachkriegsentwicklung und Katalysator des türkischen Widerstands gegen die befürchtete Aufteilung des Landes erweisen.

Kemal als neue Führungsfigur

Bis dahin hatten die entsprechenden Bemühungen der im Land verbliebenen mittleren Kader der nationalistischen Jungtürken – deren in den Völkermord an den Armeniern verstrickte Führung hatte das Land bei Kriegsende verlassen – in der Bevölkerung nur verhaltene Resonanz gefunden. Nach den beiden Balkankriegen und dem Weltkrieg herrschten Erschöpfung und Resignation vor.

  Griechisch besiedelte Gebiete vor dem Ersten Weltkrieg.

Dies änderte sich schlagartig nach dem 15. Mai. In Istanbul und allen wichtigen Städten kam es zu Protesten, an denen sich nicht nur die Anhänger der Jungtürken, sondern auch anderer politischer Lager beteiligten. In dieser Situation traf Mustafa Kemal in Samsun ein. Eine jungtürkische Geheimorganisation hatte zuvor schon Offiziere nach Anatolien entsandt, wo bereits während des Weltkriegs Waffen- und Munitionsdepots angelegt worden waren; dort standen auch noch Teile der osmanischen Armee unter Waffen. Was noch fehlte, war eine Führungsfigur, die die Widerstandsbewegung vor Ort koordinierte.

Mustafa Kemal Atatürk (Bild: pd-Ottoman)
Kratzer auf der Ikone Atatürks

Als politisch unbelasteter Offizier, der in der Armee hohes Ansehen genoss, schien Kemal der geeignete Mann zu sein. Den offiziellen Auftrag der Regierung nahm er nicht ernst. Als diese ihn abberufen wollte, war es bereits zu spät. In den folgenden Monaten konnte er seine Position weiter festigen. Die Zeit arbeitete für ihn und die Nationalisten in Ankara, die immer mehr diskreditierte Regierung des Sultans wurde zu einer Quantité négligeable.

Gerade in dem Gebiet, das 1919 griechischer Verwaltung übereignet wurde, waren die Grundlagen des Zusammenlebens von Muslimen und Nichtmuslimen als Folge der jungtürkischen Politik, die Anatolien als exklusives Kernland der türkischen Nation sah, schwer erschüttert worden. Die Ansiedlung von Muslimen vom Balkan und aus dem Kaukasus in der Region sorgte für Spannungen, die Regierung stand hinter Gewaltakten gegen die griechische Bevölkerung, die sie zur Emigration bewegen wollte.

Denkbar schlechte Beziehungen

Während des Ersten Weltkriegs wurde ein Teil der Griechen von der Küste ins Landesinnere deportiert. Auch wenn ihnen das Schicksal der Armenier erspart blieb, so waren die Beziehungen 1918/19, als sich die Machtverhältnisse zu ändern schienen, denkbar schlecht. Die neue Ordnungsmacht erwies sich, wie zu erwarten war, alles andere als unparteiisch. Dies sollte sich bereits am 15. Mai zeigen, als es in Izmir zu Gewaltausbrüchen mit Hunderten von Opfern, in der grossen Mehrheit Türken, kam. Die Gewalt breitete sich in der ganzen Region aus und eskalierte.

Venizelos überschätzte sträflich die Kapazitäten seines eigenen Landes, so wie er die Reaktionen und den Widerstandswillen des erweckten Nationalismus auf türkischer Seite unterschätzte. Er war auch nicht imstande, die Dynamik der Politik der Grossmächte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, deren Schwäche und Unentschlossenheit, der Türkei die Friedensbedingungen aufzuzwingen, zu erkennen.

Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Sèvres im August 1920, der Ostthrakien und die Region Smyrna Griechenland zusprach und nur noch einen türkischen Rumpfstaat vorsah, setzte er alles auf eine Karte: Er bot der Entente an, die Umsetzung des Vertrags durch die griechische Armee mit Waffengewalt zu erzwingen, die daraufhin weiter vorrückte. Am Ende jenes Jahres war Venizelos nach einer verlorenen Parlamentswahl aber bereits nicht mehr im Amt. Die neue Regierung setzte den bisherigen Kurs fort, der schliesslich im Sommer 1922 in die militärische Niederlage und die kleinasiatische Katastrophe mündete. Die Unterstützung der Entente hatte Griechenland nach der Rückkehr von König Konstantin, der vor allem Frankreich als Persona non grata galt, weitgehend verloren. Grossbritannien blieb zwar bei seiner politischen Unterstützung, war aber nicht bereit, sich selbst militärisch zu engagieren.

Der traumatische Untergang des Osmanischen Reiches befeuert das türkische Selbstbewusstsein
 
Der 19. Mai 1919 ist in der Türkei als Atatürk-Gedenktag und Feiertag der Jugend und des Sports ein gesetzlicher Feiertag. In der offiziellen Historiografie gilt er als Beginn des nationalen Befreiungskriegs. Der 15. Mai 1919 hat dagegen in der griechischen Erinnerungskultur keinen Platz.

Hier steht das Jahr 1922 im Mittelpunkt, mit dem Brand von Smyrna, der Vertreibung und der Flucht des kleinasiatischen Griechentums. Ein Jahrhundert später müsste eigentlich die Zeit gekommen sein, dass sich beide Seiten der historischen Komplexität des damaligen Geschehens stellen. Doch dazu dürfte es infolge des bis heute anhaltenden gespannten Verhältnisses nicht kommen. Vielmehr dürften bereits im Vorfeld der anstehenden runden Gedenktage die bewährten nationalen Narrative beschworen werden – mit den Opfern auf der eigenen und den Tätern auf der anderen Seite.

Ekkehard Kraft ist Historiker und lebt in Dossenheim in Baden-Württemberg.

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