Donnerstag, 5. September 2019

Holodomor.


aus nzz.ch, 11. 7. 2019                                                    Ein Monument in Kiew gedenkt der Opfer der Hungerkatastrophe von 1932/33

«Jeden Tag verhungern zehn bis zwanzig Familien» 
– wie Stalins Terror die Ukraine prägte
1932 und 1933 grassierte in der Ukraine eine schlimme Hungersnot. Die Historikerin Anne Applebaum schildert das Desaster und zeigt, warum Stalin das Problem verschärfte, anstatt es zu lösen. 

von Thomas Speckmann 

Geschichte hat immer Vorgeschichte. Mal liegt sie länger zurück, mal kürzer. Mal gehen von ihr direkte Folgen aus, mal indirekte. Nur selten kommt es vor, dass es keinerlei Verbindungen gibt. Diese Wechselwirkungen sind das grosse Thema von Anne Applebaum. Sie durchziehen ihre Artikel und Bücher. Hier ist sie immer zugleich Historikerin und Journalistin. Das Vergangene und das Aktuelle scheinen sie gleichermassen zu fesseln. Dies mag nicht zuletzt an ihrer Berufsbiografie liegen: Sie begann ihre Karriere 1988 als Korrespondentin des «Economist» in Warschau. Von Polen aus berichtete sie über den Zusammenbruch des Kommunismus. Schon damals prägte der Blick zurück und zugleich nach vorn ihr Tagesgeschäft.

Bis heute stützt Applebaum ihre politischen Analysen auf historische Betrachtungen. Kurz vor dem Ende der Sowjetunion unternahm sie eine Reise durch Litauen, Weissrussland und die Ukraine und schilderte ihre bei Erscheinen 1994 bereits zeitgeschichtlichen Eindrücke in «Between East and West: Across the Borderlands of Europe». Es folgte 2003 ihr mit dem Pulitzerpreis gekröntes Porträt des Gulag. Hier beschrieb sie, wie sich aus dem Chaos der russischen Revolutionsjahre ein weitverzweigtes, zentral gesteuertes und in seinem Umfang bis dahin beispielloses System zur Ausbeutung von Zwangsarbeit entwickeln und bis in die 1980er Jahre bestehen konnte.



Einen breiteren geografischen Bogen schlug sie dann erneut 2012 mit ihrer Untersuchung der kommunistischen Machtergreifung in Osteuropa ab 1944, vor allem in Polen, Ungarn und der späteren DDR. In «Der Eiserne Vorhang» beleuchtete Applebaum nicht nur die Anfangsjahre des Stalinismus bis zur Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956, sondern arbeitete darüber hinaus auch das Prinzip heraus, nach dem die in Moskau ideologisierten Kader in immer derselben Abfolge die Stalinisierung Osteuropas betrieben: Aufbau einer Geheimpolizei, Übernahme der Medien, Verbot politisch missliebiger zivilgesellschaftlicher Gruppen, im Krisenfall «ethnische Säuberungen» und Deportationen – ein Vorgehen, das heute seine Fortsetzung in ehemals oder weiterhin kommunistisch geprägten Regimen wie in Russland oder China findet.

Folgen bis heute

Eine weitere Verknüpfung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wenn nicht Zukunft, nimmt Applebaum nun in «Roter Hunger» vor. Hier geht es um die ukrainische Revolution 1917, die frühen Jahre der Sowjetukraine, die massenhafte Unterdrückung der ukrainischen Elite und die Hungersnot der Jahre 1932/33. All dies bildet nach Applebaums Urteil die entscheidende Vorgeschichte, die den aktuellen Ereignissen in der Ukraine zugrunde liege und sie erkläre. Die Hungersnot und ihre Hinterlassenschaft spielten eine gewaltige Rolle in gegenwärtigen Diskussionen von Russen und Ukrainern über ihre Identität, ihr Verhältnis und ihre gemeinsame sowjetische Erfahrung.

Bevor man aber diese Gegenwartsdiskussionen beschreibt oder bewertet, hält die Historikerin, die an der London School of Economics ein Forschungsprogramm zu Desinformation und Propaganda im 21. Jahrhundert leitet, es für wichtig zu begreifen, was eigentlich in der Ukraine unter Stalin geschah. Denn in der Tat dürfte der gegenwärtige Konflikt um die Ostukraine und die Krim ohne diese Vorgeschichte nicht zu verstehen sein. Schliesslich wird der erzwungene Hungertod von – nach unterschiedlichen Berechnungen – 3,5 bis 14,5 Millionen Menschen 1932 und 1933 ukrainisch auch «Holodomor» genannt (wörtliche Übersetzung: «Tötung durch Hunger») und als eines der grössten Verbrechen des 20. Jahrhunderts bezeichnet – mit politischen Folgen bis heute: Stalins «Krieg gegen die Ukraine» gilt als tief ins kollektive Gedächtnis der Völker Osteuropas eingegraben. 

Erschütternde Zeugnisse 

Wie schon «Der Gulag» ist auch ihr neues Buch mit dem Duff Cooper Prize ausgezeichnet worden. Damit ist Applebaum die bisher einzige Autorin, die diesen Preis zweimal erhalten hat. Und das hat gute Gründe: Applebaum moralisiert nicht, was angesichts der Thematik ein Leichtes wäre, sondern zeigt sich um eine nüchterne, auf die Fakten und ihre Hintergründe konzentrierte Darstellung bemüht. Dazu stellt sie die Perspektiven von Tätern und Opfern nebeneinander: Zum einen werden Stalins Terrorregime gegen die Ukraine und die Umstände seiner Vernichtungspolitik beschrieben. Zum anderen kommen die hungernden und sterbenden Menschen in der Ukraine zu Wort.

Die von Applebaum zitierten Briefe an den Kreml sind derart erschütternd, dass eine zusätzliche Wertung vollkommen überflüssig erscheint – ein Beispiel: «Werter Genosse Stalin, gibt es ein Gesetz der Sowjetregierung, das besagt, Dorfbewohner müssten hungern? Wir, die Kolchosearbeiter, haben nämlich seit dem 1. Januar auf unserem Hof kein Stück Brot mehr gehabt. Wie sollen wir eine sozialistische Volkswirtschaft aufbauen, wenn wir zum Hungertod verurteilt sind, weil die Ernte erst in vier Monaten kommt? Wofür sind wir an den Fronten gestorben? Damit wir hungern und unseren Kindern beim Verhungern zusehen?»

Andere, denen Applebaum eine nun erneut hörbare Stimme verleiht, hielten es für unmöglich, dass der Sowjetstaat für das Elend verantwortlich sein könne: «Jeden Tag verhungern zehn bis zwanzig Familien in den Dörfern, Kinder laufen weg, und Bahnhöfe sind überfüllt mit fliehenden Dorfbewohnern. Auf dem Land gibt es keine Pferde und kein Vieh mehr. Die Bourgeoisie hat hier eine echte Hungersnot geschaffen als Teil des kapitalistischen Plans, die ganze Bauernklasse gegen die Sowjetregierung aufzuhetzen.» 

Es hätte Rettung gegeben 

Doch die Hungersnot war kein Werk der «Bourgeoisie», sondern eine Folge der in den Augen von Applebaum «katastrophalen» Entscheidung der Sowjetunion, die Bauern zur Aufgabe ihres Landes zu zwingen, sie zur Arbeit auf Kolchosen zu verpflichten und die wohlhabenderen Bauern, die sogenannten Kulaken, aus ihren Häusern zu vertreiben. Dennoch hätte sich eine grössere Tragödie abwenden lassen: Moskau hätte um internationale Hilfe bitten können wie bei der Hungersnot 1921, die durch die ökonomischen Schäden im Ersten Weltkrieg und im darauffolgenden Bürgerkrieg bedingt gewesen war, verbunden mit der Politik des Kriegskommunismus und seiner Nahrungsmittelrequirierungen. Moskau hätte auch die Getreideexporte oder die zu hohen Getreideabgaben stoppen können.

Applebaum bringt auf den Punkt, warum nichts davon geschah: Die von Stalin ganz bewusst immer stärker ausgeweitete und verschärfte Hungersnot war Teil einer grösseren Kampagne. Während auf dem Land die Bauern starben, attackierte die Geheimpolizei die geistigen und politischen Eliten der Ukraine. Jeder, der mit der Ukrainischen Volksrepublik verbunden gewesen war, die vom Juni 1917 an einige Monate lang existiert hatte, jeder, der für die ukrainische Sprache oder Geschichte eingetreten war, jeder mit einer unabhängigen literarischen oder anderen künstlerischen Karriere konnte öffentlich beleidigt, eingesperrt, ins Arbeitslager geschickt oder hingerichtet werden. Das Ergebnis war die Sowjetisierung der Ukraine, die Zerstörung des ukrainischen Nationalbewusstseins, die Zerschlagung jeder ukrainischen Infragestellung der sowjetischen Einheit – und damit die Vorgeschichte der Geschichte des heutigen Kampfes um die Ukraine.

Anne Applebaum: Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Richter. Siedler-Verlag, München 2019. 541 S., Fr. 51.90.

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