Montag, 16. September 2019
Europas Geburt aus der Großen Krise der Jungsteinzeit.
aus welt.de, 15. 9. 2019
Hunderte wurden erschlagen, zerteilt und entfleischt Funde zahlreicher Massaker belegen, dass Mitteleuropa vor 7000 Jahren von einer schweren Krise erschüttert wurde. In ihrer Not verfielen steinzeitliche Bauern in der Südpfalz auf ein tödliches Ritual.
Von Florian Stark
G ehört der Krieg „jeder gegen jeden“ zur DNA der menschlichen Existenz oder wuchs Homo sapiens die Bereitschaft, Konflikte mit Waffengewalt zu lösen, erst im Lauf seiner zivilisatorischen Entwicklung zu? Eine grausige Entdeckung in der Pfalz macht es zumindest schwer, der These des französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau zu folgen, der einen glücklichen Urzustand des Menschen postulierte. Denn seit 1996 legen Archäologen in Herxheim bei Landau Gruben frei, die mit zahllosen Zeugnissen brutaler Gewalt angefüllt sind: Skelettreste von Hunderten Individuen, hingeschlachtet vor gut 7000 Jahren.
Wie dieser Fund interpretiert werden könnte und in welchem historischen Zusammenhang er womöglich steht, will die Dokumentation „Tatort Steinzeit“ entschlüsseln, die das ZDF am Sonntag in seinem Format „Terra X“ ausstrahlt. Denn Herxheim ist kein Einzelfall. Zahlreiche Spuren von Massakern, die in den vergangenen Jahren in Mitteleuropa entdeckt wurden, zeigen, dass das Leben am Ende der Jungsteinzeit keineswegs friedlich war, sondern von Gewaltausbrüchen geprägt wurde.
Zum Beispiel bei Halberstadt in Sachsen-Anhalt. Dort stießen Forscher 2013 in einem Neubaugebiet auf ein Massengrab mit den sterblichen Überresten von neun/elf Menschen, die nur flüchtig verscharrt worden waren. Die Analyse der Schädelknochen zeigt, dass sie allesamt mit Schlägen auf den Hinterkopf getötet worden waren. Und noch ein Aspekt springt ins Auge: Unter den Knochen befinden sich keine Überreste von jungen Frauen.
Ähnliche Befunde lieferten die Analysen der Massaker von Talheim bei Heilbronn (34 Tote), Kilianstädten (Main-Kinzig-Kreis; 26 Tote) und Schletz (Niederösterreich; rund 200 Tote). Stets fanden sich keine oder nur wenige Knochen junger, gebärfähiger Frauen unter den Opfern. Offenbar waren sie die bevorzugte Beute der Angreifer, weil sie selbst unter Frauenmangel litten oder andere Gruppen durch Raub schädigen wollten, resümiert Harald Meller, Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt und Direktor des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle, das auf die Erforschung der Jungsteinzeit spezialisiert ist.
* Die Indogermanen entstanden durch Umvolkung.
Frauenmangel ist nur ein Symptom der Krise, die weite Teile des Kontinents vor gut 7000 Jahren erschütterte. Rund 500 Jahre zuvor hatte die Neolithische Revolution auch Mitteleuropa erreicht. Die Fähigkeit, Tiere zu domestizieren, Wildpflanzen wie Emmer und Gerste zu züchten und damit neue Nahrungsressourcen zu erschließen, hatte ab etwa 9000 v. Chr. im Nahen Osten zu einem radikalen kulturellen Wandel geführt. Menschen wurden sesshaft und entwickelten dazu Techniken für Keramik, Brunnen- oder Hausbau.
Mit diesem neolithischen Bündel überschritten sie die Meerenge zwischen Asien und Europa und zogen entlang der Flüsse nach Norden. Als sie Mitteleuropa erreichten, richteten sich diese frühen Bauern auf den fruchtbaren Böden unweit von Flussläufen ein. Wegen des typischen Schmucks ihrer Tonwaren werden sie Bandkeramiker genannt.
So darf man sich die Dorfgemeinschaften der frühen Bauern vorstellen
Fachleute haben das genetische Profil dieser aus Anatolien stammenden Zuwanderer inzwischen identifiziert. Funde zeigen, dass sie sich mit den Jägern und Sammlern, die bis dahin die kaum besiedelten Regionen durchstreift hatten, selten vermischt haben. Die Existenz von markanten Pfeilspitzen in Bandkeramiker-Siedlungen legt allerdings nahe, dass es Handelsbeziehungen zwischen beiden Gruppen gegeben haben muss. Hochwertige Steinklingen dürften sogar über regelrechte Fernhandelsnetze verbreitet worden sein.
Dieses offenbar einvernehmliche Miteinander geriet ab etwa 5100 v. Chr. aus der Balance. Vor allem das Massaker beim niederösterreichischen Schletz, dessen Tote, wie Spuren von Tierfraß zeigen, unbestattet geblieben sind, erklärt Harald Meller mit einem regelrechten Krieg. Doch nicht immer waren die Angegriffenen die Opfer. Die Strontium-Isotopen-Analyse der Skelette aus Halberstadt weist sie einem völlig anderen Lebensraum zu, das heißt, dass die Aggressoren offenbar von den Verteidigern überwältigt worden sind.
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Dieser Zusammenstoß fand auch in Herxheim seinen Niederschlag, wenngleich in gänzlich anderen Dimensionen. Da weite Teile des Geländes archäologisch noch gar nicht untersucht wurden, schätzen die Wissenschaftler, dass innerhalb von etwa 50 Jahren mindestens 1000 Menschen hier in blutigen Ritualen geopfert worden sind.
Allein die Zahlen sprechen dafür, dass es sich offenbar um einen überregionalen Kultplatz gehandelt haben muss, denn er hätte die Möglichkeiten der benachbarten Bandkeramiker-Siedlung überfordert. Von weit her wurden Menschen in die Südpfalz getrieben, um dort getötet zu werden. Anschließend wurden die Körper zerteilt. Das Fleisch wurde akribisch von den Knochen geschabt, für Anthropologen ein sicheres Zeichen, dass Kannibalismus im Spiel war. Die Schädeldächer wurden mit präzisen Schlägen abgetrennt, um als Gefäße für unbekannte Zeremonien zu dienen.
Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass bei Herxheim auch Kannibalismus im Spiel war
Doch wer tötete hier wen? In der großen Ausstellung „Bewegte Zeiten. Archäologie in Deutschland“, die bis Anfang 2019 im Berliner Martin-Gropius-Bau zu sehen war, wurden die drei großen Migrationen, die Europa geprägt haben, genetisch rekonstruiert. Danach hatten sich die Jäger und Sammler nach Ankunft der Bandkeramiker in die Hochlagen oder nach Norden und Westen abgesetzt. Dort adaptierten sie das neolithische Bündel, für dessen Keramik die Trichterbecher charakteristisch sind. Ihre Erzeuger drängten um etwa 5000 v. Chr. wieder nach Süden. (Der Vollständigkeit halber: Die dritte große Wanderungswelle setzte ab etwa 2900 aus der südrussischen Steppe ein und wird in der Regel mit den Trägern der indoeuropäischen Sprache verknüpft.)
Um 5000 v. Chr., am Ende des Spätneolithikums also, mehren sich die Anzeichen einer Krise. Das durchgehend warme Klima wurde von massiven Schwankungen mit trockenen Sommern und kälteren, feuchten Wintern abgelöst. Schlechte Ernten provozierten Kämpfe um schwindende Ressourcen, die auch in der Sphäre der Religion geführt wurden.
Bislang konnte die Genetik drei große Wanderungsbewegungen im europäischen Neolithikum identifizieren
Die Akteure in Herxheim waren offenbar Bandkeramiker, die von weit her kamen, um sich an diesem Kultplatz zu versammeln. Wie Strontiumanalysen gezeigt haben, stammten ihre Opfer aus deutlich höher gelegenen Regionen, müssen also von ihrer Herkunft und Siedlungsweise einer ganz anderen Bevölkerungsgruppe angehört haben, schreibt die Ausgrabungsleiterin Andrea Zeeb-Lanz, die auch in der ZDF-Dokumentation zu Wort kommt. In ihrem neuen Buch wendet sich die Wissenschaftlerin allerdings gegen die These, bei Herxheim sei Kannibalismus praktiziert worden, sondern schlägt stattdessen einen Kult vor, in dem Tote zu Objekten „umgewandelt“ worden seien.
Wie dem auch sei. Vieles spricht dafür, dass dieser „Clash of Cultures“ die Welt der Jungsteinzeit nachhaltig erschüttert hat. Aber die Neolithische Revolution hatte damit nicht ausgedient. Mochte sie zeitweilig auch mit schweren Hypotheken – Ernteausfällen, Grenzkonflikten, Seuchen – verbunden gewesen sein, denen ganze Gemeinschaften zum Opfer fielen: Die Vorteile einer dauerhaften Siedlung mit kalkulierbarer Landwirtschaft wollten die Europäer nicht mehr missen.
Andrea Zeeb-Lanz, Andy Reymann: „Löwenmenschen und Schamanen: Magie in der Vorgeschichte“. (Theiss, Darmstadt. 112 S., 28 Euro)
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