Freitag, 6. September 2019

Kunst in der Welt.


aus nzz.ch, 5.9.2019                                                                            Jeff Koons, Michael Jackson & Bubbles, 1988 

Welchen Sinn hat heute die Kunst?
Die kreativsten Köpfe wandern in den Technologiesektor ab. Werke engagierter Autoren oder Künstler haben häufig keine grosse Wirkung. Doch möglicherweise steht der Kunst eine neue grosse Zeit bevor.

von Simon M. Ingold

Im Vergleich mit allen anderen menschlichen Tätigkeiten hat Kunst eine einzigartige Qualität: Sie kommt ganz ohne einen unmittelbaren praktischen Nutzen aus. Damit markiert sie jenen Punkt in der Evolution, an dem sich der Mensch vom Sachzwang befreit. Ästhetisch motiviertes Gestalten und Betrachten setzt ein Minimum an äusserer Sicherheit voraus. Gleiches gilt für die Verwendung von Sprache als Ausdrucksform jenseits der reinen Informationsübermittlung. Der Mensch erschafft Kunst und erkennt sie als solche, seit er die Muße dazu hat. So betrachtet ist Kunst eine zivilisatorische Errungenschaft, manifestiert im Willen zur Beschaulichkeit und zum spielerischen Zeitvertreib.

 
Genau dieser Aspekt ist es, der bei vielen Künstlern Komplexe auslöst. Denn die Tatsache, dass die Kunst seit ihren rudimentärsten Anfängen vor etwa 80 000 Jahren nie ein praktisches Problem gelöst hat, wurde und wird ihr immer wieder vorgeworfen. Lange Zeit war Kunst dadurch legitimiert, dass sie sich in den Dienst der Religion und von reichen Fürsten und Mäzenen stellte. Ende des 19. Jahrhunderts setzte sich unter dem Schlagwort «l’art pour l’art» kurzzeitig eine zweckbefreite Auffassung des Kunstbegriffs durch. Doch im 20. Jahrhundert, das mit Revolutionen und einem Weltkrieg begann, war davon nicht mehr viel zu spüren.

Mit der Ankunft der Moderne wandelte sich das Selbstverständnis der Kunst. Sie liess sich zwar weiterhin politisch instrumentalisieren, wurde aber zunehmend zum Mittel des Widerstands, zur subversiven Waffe im Kampf gegen Autoritarismus und gesellschaftliche Zwänge. Die Figur des politisch engagierten und exponierten Künstlers ist seither fester Bestandteil der globalen Zivilgesellschaft, der moralische Imperativ der Kunst gilt als Tatsache.

Künstler gefallen sich in der Rolle des «Gewissens der Nation», meistens, indem sie sich an dieser abreagieren. Ebenso oft erklingt der Ruf nach «künstlerischer Einmischung» in gesellschaftliche Angelegenheiten. Gerade in der helvetischen Literatur hat diese nationale Selbstreflexion eine lange Tradition. Von Keller über Dürrenmatt bis Bärfuss: Die kritische Auseinandersetzung mit der Schweiz ist nicht nur ein zentrales Motiv ihres Werks, sondern Teil ihrer Identität. 

Erfolg statt Einfluss

Die Ursache dafür ist das tiefsitzende menschliche Bedürfnis, Nutzen zu stiften und ihn auch von anderen einzufordern. Dieser Nutzen ist in Zeiten von Instabilität, Umbrüchen und Krisen am grössten. Heute aber sind viele Gesellschaften wohlstandsmässig und mental gesättigt. Der moralische Imperativ der Kunst, obwohl nach wie vor gerne beschworen, verliert damit an Dringlichkeit.

Andrew Hall, einer der bedeutendsten Sammler zeitgenössischer Kunst, äussert in einem persönlichen Austausch folgende Vermutung: «Man muss sich fragen, ob das Risiko, ausgabefreudige Kunstmäzene vor den Kopf zu stossen, nicht viele Künstler davon abhält, sich politisch zu engagieren. Es ist kein Geheimnis, dass die Kunstwelt voller Interessenkonflikte ist. Vielleicht ist es aber auch einfach nur Desinteresse und nicht Selbstinteresse.»

Gleichzeitig verändert sich das Wesen der Kunst. Sie ist mehr und mehr zum Investitions- und Luxusgut geworden, zum Statusobjekt, das der Befriedigung narzisstischer Selbstverwirklichungsphantasien von Milliardären dient. Künstler wie Jeff Koons oder Damien Hirst bedienen diese Impulse sehr gezielt. An die Stelle von gesellschaftlichem Einfluss ist das Primat des kommerziellen Erfolgs getreten. Hall äussert sich ambivalent zu dieser Entwicklung: «Kunst hat keinen intrinsischen Wert, deshalb ist der Kunstmarkt besonders anfällig für Moden und Trends, auch wenn das vielen geschmacklos erscheint. Ein erfahrener Sammler muss sich der Massenhysterie entziehen. Er muss auch erkennen, dass grosse Teile des Kunstmarkts manipuliert sind.» 

Was vermag der Roboterarm?

Freilich gibt es immer noch beliebig viele Missstände, auf die es mit politisch engagierter Kunst hinzuweisen gilt. Aus der Perspektive westlicher Museumsbesucher und Sammler handelt es sich dabei jedoch primär um ein faszinierend-brisantes Importgut. So staunt man an der diesjährigen Biennale in Venedig über Sun Yuan und Peng Yus Roboterarm, der mit eleganten Bewegungen eine blutähnliche Substanz aufwischt. Es ist eine visuell eindrückliche Metapher für Technologie als Instrument staatlicher Unterdrückung, aber in China selbst bleiben derartige Werke ohne nachhaltige Wirkung.

In Europa hingegen, so scheint es, geht es uns zu gut. Die Massenmobilmachung gegen den Nationalismus, die der Schriftsteller Jonas Lüscher letzten Herbst plante, scheiterte kläglich an mangelnder Empörung. Seine Enttäuschung über die Fehleinschätzung der Lage gab Lüscher unumwunden zu. Dass sich Künstler des Stellenwerts ihrer Arbeit in der Welt nicht mehr sicher sind, bestätigt Michel Houellebecqs Reaktion auf die Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur. In seiner Dankesrede verwahrte er sich dagegen, als «Wohltäter der Menschheit» betrachtet zu werden. Wie er selbst seien viele Literaten Misanthropen, denen nicht an gesellschaftlichem Engagement gelegen sei.

Diese abschätzige Haltung skandalisiert, ist im Grunde aber nichts anderes als eine Warnung vor der utilitaristischen Vereinnahmung der Literatur. Sie ist auch ein Eingeständnis der eng begrenzten Wirkung künstlerischen Schaffens. Zum einen erreicht Kunst nur einen relativ kleinen Teil der Öffentlichkeit. Zum anderen hat sie zugunsten der Wissenschaft massiv an Stellenwert eingebüsst.

Seit dem Aufstieg des Silicon Valley zum Zentrum der Innovation leben wir faktisch in einer globalen Technokratie. Die kreativsten Köpfe wandern in den Technologiesektor ab, der Glaube an Algorithmen und künstliche Intelligenz ist gross, wenn auch umstritten. Gerechtfertigt oder nicht, gegenüber den existenziellen Herausforderungen der Gegenwart, allen voran dem Klimawandel, sind künstlerische Interventionen machtlos. 

Dreifacher Wert

Und dennoch: Obschon ihr Wille zur Einmischung jenseits von publizitätswirksamen Statements (man denke an Maurizio Cattelans goldene Toilette mit dem wenig einfallsreichen Titel «America») abnimmt bzw. im medialen Echoraum verhallt, bleibt das Wesen der Kunst nicht ohne konkrete Folgen.

Erstens ist Kunstschaffen gleichbedeutend mit Imagination. Es spielt mit Szenarien und Varianten, es experimentiert und antizipiert oft erstaunlich genau die Zukunft. So liest sich Goethes «Faust» heute als Parabel auf den Kapitalismus. Das Science-Fiction-Genre hat sich das Visionäre explizit zum Gegenstand gemacht. H. G. Wells prophezeite 1913 die Atombombe, Isaac Asimov sagte vor sechzig Jahren die Verbreitung von autonomen Fahrzeugen voraus.

Zweitens ist Kunst eine Überlebens- und Überlieferungsstrategie. Der Pianist im gleichnamigen Film von Steven Spielberg steht stellvertretend für diese Eigenschaft. Kunst ist grundsätzlich immer möglich – sei es im Bombenhagel, im Gefängnis oder im Krankenhaus. Diese Art der Kunst ist nicht für ein bestimmtes Publikum bestimmt, sondern als persönliches Zeitdokument für die Allgemeinheit. Drittens hat Kunst eine Stellvertreterfunktion. Andrew Hall meint dazu: «Niemand braucht Kunst, aber die meisten Menschen sehnen sich nach ihr. Historisch gesehen ist Kunst eng mit Religion verbunden. In der heutigen säkularen Welt bietet sie den Menschen eine andere Form der spirituellen Erfüllung.» 

Die beste Alternative

Das könnte künftig zunehmend wichtig werden: Die grösste technologisch-gesellschaftliche Disruption der nächsten Jahre dürfte der künstlerischen Betätigung einen neuen, ungeahnten Stellenwert verleihen. Gemeint ist die Automatisierung der Arbeitswelt durch Robotik und künstliche Intelligenz. Noch bleibt diese Entwicklung weit hinter ihren Möglichkeiten zurück, doch das liegt allein an den exorbitanten sozialen Kosten, die sie nach sich ziehen wird.

Automatisierung reduziert nicht nur die Nachfrage nach menschlicher Arbeitsleistung, sondern erfordert eine Neuinterpretation des Produktivitätsbegriffs. Damit bewertet sie auch die Funktion des Individuums in der Gesellschaft neu. Denn der Beitrag des Einzelnen lässt sich nicht mehr allein durch Einkommen oder Steuerleistung messen. Konsequent zu Ende gedacht, bedingt die umfassende Automatisierung traditioneller Jobprofile eine fundamentale Reorganisation der sozialen Infrastruktur.

Unter diesen Bedingungen könnte Kunst, verstanden als jegliche Art der kreativen Betätigung, zur einzig verbleibenden sinnvollen menschlichen Betätigung avancieren. Der künstlerische Impuls ist das wohl stärkste Differenzierungsmerkmal des Menschen und Teil seiner DNA. Er kann den Gang der Dinge nicht beeinflussen, aber zur sinnstiftenden Alternative werden, wenn das Konzept von Arbeit, wie wir es heute kennen, obsolet wird.

Simon M. Ingold ist Senior Manager bei einem Schweizer Unternehmen und Vorstandsmitglied der Yale-Alumni-Vereinigung.


Nota. -  Da bleibt einem die Spucke weg: Er schreibt über Kunst, ohne dass das Wort Ästhetik auch nur fällt; geschweige denn diskutiert wird. So kann er auch sagen, Kunst habe keinen intrinsischen Wert, und einen ex- trinsischen schonmal ganz gar nicht. Und doch ist sie Spekulations- und Anlageobjekt von Milliardären gewor- den? 

Es stimmt schon am Anfang nicht: Sie käme "ganz ohne einen unmittelbaren praktischen Nutzen aus". Doch das tut sie, seit sie diesen Namen in einem intelligiblen Sinn führt, nicht: nämlich nicht für den Künstler, der von ihr leben muss. Er muss sich bezahlen lassen - ja wohl von Leuten, für die sein Werk durchaus einen "intrinsischen Nutzen" hat (und nicht nur). Und da merke ich: "ästhetisch motiviertes Gestalten und Betrachten" kam aller- dings vor, schon nebenbei im ersten Absatz, wurde aber unterm Vorrang von "äußerer Sicherheit" gleich wieder un- scheinbar gemacht.

Alles in allem ein guter Aufsatz - aber nur als Einleitung zu einer weitläufigen anthroplogischen Erörterung der ästhetischen Grundlage all unserer Urteilskraft und unseres Erkenntnisvermögens

In zu nebendiesem Behuf betreibe ich die Gesamtheit meiner Blogs.
JE

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