Donnerstag, 26. September 2019

Chinas Staatskapitalismus (II).


aus nzz.ch, 24. 9. 2019

In China feiern die Staatsbetriebe ein Comeback 
Die Europäische Handelskammer in China warnt Peking zwar davor, die Staatsbetriebe in gleich radikaler und rasanter Weise wie Russland in den neunziger Jahren zu reformieren und zu privatisieren. Allerdings ist Untätigkeit auch keine Lösung, denn die staatlichen Kolosse werden immer mehr zu einer Bürde für Chinas Zukunft. 

von Matthias Müller, Peking 

China kommt bei den Reformen der laut der Europäischen Handelskammer in Peking «aufgeblähten und ineffizienten Staatsbetriebe» nicht voran. Peking habe zwar in den vergangenen Jahren die Märkte für ausländische Firmen immer weiter geöffnet und das Umfeld für die Wirtschaft verbessert, heisst es in dem am Dienstag veröffentlichten «European Business in China Position Paper 2019/2020». Allerdings würden diese positiven Entwicklungen durch die Wiederauferstehung der Staatsbetriebe konterkariert, teilte die Kammer, die mehr als 1600 Mitgliedsunternehmen hat, mit. Der Präsident der Handelskammer, Jörg Wuttke, sprach von einem «Comeback staatlicher chinesischer Firmen». 

«Stärker, besser und grösser»

Aus dem chinesischen Führungszirkel ist denn auch eine Kakofonie zu vernehmen. Partei- und Staatschef Xi Jinping hatte in einem vor drei Jahren in einem Beitrag für die Parteizeitschrift «Qiushi», was so viel heisst wie «Suche nach der Wahrheit», veröffentlichten Artikel geschrieben, die staatlichen Betriebe müssten «stärker, besser und grösser» werden. Die Priorität bei deren Reform bestehe darin, dass man an der Führung der Partei festhalten müsse, sonst handle es sich um keinen Sozialismus mit chinesischen Eigenschaften, betonte Xi. Im gleichen Jahr zitierte ihn die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua mit den Worten: «Die Staatsbetriebe werden zur Partei, sie werden zum zuverlässigsten Pfeiler des Staates, und sie werden die zentrale Kraft, um die Entscheide und Anweisungen des Zentralkomitees entschlossen umzusetzen.» Noch weiter ging der an der Renmin University lehrende Professor für Marxismus Zhou Xincheng. Er forderte, Privateigentum abzuschaffen.

In der Partei sind jedoch auch deutlich vernünftigere Töne zu vernehmen. Das neue Zauberwort heisst «wettbewerbliche Neutralität». Danach sollen alle in China agierenden Firmen unabhängig von ihrer Herkunft und Gesellschaftsform gleich behandelt werden, und Staatsbetriebe dürfen nicht länger eine Sonderbehandlung erfahren. Der einstige Gouverneur der People’s Bank of China (PBoC) Zhou Xiaochuan brachte die Wendung vor rund einem Jahr ins Spiel. Und sein Nachfolger Yi Gang griff die Formulierung am Rande des G-20-Gipfels in Buenos Aires im vergangenen Jahr auf. Man müsse erwägen, Staatsbetriebe nach dem Prinzip der wettbewerblichen Neutralität zu behandeln, sagte er.

Chinas überdimensionierte Staatsbetriebe, die bis zur Öffnung der Wirtschaft unter Deng Xiaoping 1978 die einzigen erlaubten Akteure waren, geniessen diverse Privilegien. So kommen sie im Gegensatz zu kleinen und mittelständischen Firmen problemlos an günstige Kredite der Staatsbanken. Für Chinas Finanzsektor sind solche Geschäfte lukrativ, weil die Ausfallrisiken gering sind. Geraten die staatlichen Betriebe in finanzielle Probleme, helfen ihnen die Regierungen.

Zudem erhalten die Staatsbetriebe in deutlich grösserem Umfang als die privaten Firmen direkte Subventionen durch die Regierungen, erfahren bei öffentlichen Ausschreibungen eine Vorzugsbehandlung, sitzen bei politischen Entscheiden oft mit am Verhandlungstisch, und die Behörden nehmen sich ihrer fürsorglich an. Darüber hinaus haben sie laut der Europäischen Handelskammer in China keine besondere Eile, die Rechnungen ihrer oft privaten Zulieferer zu begleichen. Die Staatsbetriebe gewähren sich selbst dadurch einen billigen Kredit, weil sie in der Zwischenzeit mit den ausbleibenden Zahlungen andere Aktivitäten finanzieren können.

Chinas Staatsbetriebe haben jedoch auch Lasten zu schultern, die weit über das hinausgehen, was die Privatwirtschaft zu tragen hat. So ist erst Ende vergangenen Jahres angeordnet worden, dass künftig die Lokalregierungen die bisher von den staatlichen Firmen betriebenen Schulen und Spitäler leiten. Zudem gewähren sie ihren Beschäftigten Nebenleistungen wie eine Lebensversicherung und Zuschüsse für die Mahlzeiten oder zum täglichen Transport. 

Kein Mitleid mit Zombies

Ermutigende Zeichen, dass es der Regierung ernst ist mit der Abwicklung maroder staatlicher Betriebe, die auch als Zombies bezeichnet werden, haben im Juli dieses Jahres dreizehn Ministerien ausgesandt. Sie haben die Strategie «Plans for Accelerating Improvements of the Market Entity Exit System» präsentiert. Im wirtschaftlichen Alltag sollen künftig Zombie-Firmen, welche die Kriterien der Zahlungsunfähigkeit erfüllen, keine Hilfe mehr von den Regierungen erhalten. Diese Massnahme ist eine Reaktion darauf, dass sich vor allem die Staatsbetriebe seit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise stark verschuldet haben.

Laut Wuttke hat sich ihre Verschuldung zwischen 2007 und 2017 vervierfacht. Auch deshalb sind die Machthaber in Peking derzeit zurückhaltend damit, auf die sich verlangsamende Wirtschaft mit einer expansiven Ausgabenpolitik zu reagieren. Für sie haben das Verschuldungsniveau der Wirtschaft und die daraus resultierenden Risiken für den Finanzsektor bedrohliche Ausmasse angenommen.

Die Crux dabei ist jedoch, dass in den vergangenen Monaten im Zuge des Kampfes gegen die Verschuldung auch diejenigen Kanäle wie das System der Schattenbanken ausgetrocknet worden sind, die in der Vergangenheit der zentrale Finanzierungskanal für die Privatwirtschaft gewesen sind. Die Regierung versucht nun seit Monaten, dieses Manko zu beheben und den kleinen sowie mittelständischen Firmen, die inzwischen das Rückgrat der chinesischen Wirtschaft bilden, neue Finanzierungsquellen zu erschliessen – bisher mit mässigem Erfolg.

Chinas Wirtschaft würde davon profitieren, wenn die Regierung schrittweise die staatlichen Betriebe reformierte und in bisher verschlossenen Sektoren mehr Wettbewerb zuliesse. Öffnet sie diese für private chinesische und ausländische Firmen, erhöhen sich wegen des gestiegenen Wettbewerbs Effizienz und Produktivität, was sich schliesslich in höheren gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten spiegelt. Die Weltbank hat in einem jüngst publizierten Bericht mit dem Titel «Innovative China. New Drivers of Growth» auf diesen Umstand hingewiesen. Das bisherige Wachstumsmodell des asiatischen Landes hat ausgedient. Der Faktor Arbeit wird wegen des demografischen Wandels knapp und damit teuer, wodurch China schrittweise den Status als verlängerte Werkbank der Welt für die Produktion billiger Produkte aufgeben wird. Und auch Investitionen haben nicht mehr eine solche Bedeutung wie anhin für das Wachstum.

Gemessen wird dieser Befund mit dem Verhältnis aus Kapital und Output, das in China zugenommen hat. Das Land benötigt immer mehr Kapitalinvestitionen, um daraus eine zusätzliche Einheit Wirtschaftsleistung zu erzeugen. Punkto öffentlicher Kapitalstock pro Arbeitskraft – also etwa die Infrastruktur für den Transportsektor – hat China bereits das Niveau der in der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vertretenen Länder erreicht. Beim privaten Kapitalstock je Arbeitskraft hinkt China jedoch noch hinterher. Deshalb schmerzen die Finanzierungsschwierigkeiten für die kleinen und mittelständischen Unternehmen, weil diese mit ihren Investitionen der Wirtschaft neue Impulse verleihen könnten. 

Unternehmer stellen schlechtes Zeugnis aus

Unklar bleibt, wie ernst es Peking mit der Reform der Staatsbetriebe meint. Ein Beispiel aus der Schiffbranche verheisst wenig Gutes. So sollen die China Shipbuilding Industry Company, die seit den Neunzigern die Region nördlich des Jangtse-Flusses den Markt bewirtschaftet, und die China State Shipbuilding Company, die für die Regionen südlich des Gewässers zuständig ist, zu einem Koloss verschmolzen werden. Falls dieser Plan verwirklicht werden sollte, hätte der neue Staatsbetrieb einen weltweiten Marktanteil von 20%. Erfahrungen aus anderen Branchen wie der Stahlindustrie zeigen, dass solche staatlichen Giganten aus China die Weltmärkte mit ihren Angeboten fluten und daraus immense Verzerrungen resultieren. Darunter würden all die privaten Anbieter aus dem Rest der Welt leiden.

Aber auch kleine chinesische Firmen bekommen die Macht der Staatskonzerne zu spüren. In der Weltbank-Studie wird eine in fünf Städten unter privaten Unternehmern durchgeführte Befragung zitiert. 41% verneinten, dass der Wettbewerb mit den staatlichen Betrieben auf gleicher Grundlage erfolge. Die Botschaft der Befragung lautet: Die Unternehmer agieren nicht in einem Umfeld, in dem alle gleich behandelt werden und es einheitliche Wettbewerbsbedingungen gibt.


Mein Kommentar zum gestrigen Eintrag:

Das sowjetische Modell der bürokratischen Planwirtschaft musste schließlich untergehen, weil es weder ein Maß vorgesetzt fand, noch aus sich selbst heraus eines entwickeln konnte.* Das kapitalistische System hat einen Maßstab, nämlich die Konkurrenz auf dem Markt. Und was misst er? Den Wert der elementaren Produktivkraft, des Arbeitsvermögens, dargestellt in seinem Durchschnittspreis. So kann verglichen werden, wieviel in die Pro- duktion hineingesteckt wurde, und wieviel dabei herauskam.

Der bürokratische Plan hat keine solche Vergleichsmöglichkeit. Vergeudung und Unterschleif werden nicht kenntlich. Wird der Plan erfüllt oder entsteht ein Manko?! - Dass schließlich an der Substanz gezehrt wurde, war zwar augenscheinlich, konnte aber noch immer nicht gemessen, geschweige denn verhindert werden. Der Zu- sammenbruch erfolgte gewissermaßen nach Plan.

Rückblickend erscheint Deng Xiaopings Einführung von Marktmechanismen wie eine Vorbereitung auf den Zusammenbruch des Realexistierenden, den die von Korruption und Mafia zerfressene Sowjetunion nicht auf- halten konnte.

*

Unter Marxisten ist lange gestritten worden, ob die Bezeichnung Staatskapitalismus geeignet wäre zur Charak- terisierung des sowjetischen Gesellschaftstyps. Damit war aber gemeint der Staat nicht als ein ideeller, sondern als ein realer Gesamtkapitalist, der nicht nur einziger Produzent, sondern auf einziger industrieller Abnehmer wäre - und einziger Arbeitgeber, der, da ohne Konkurrenz, den Arbeitslohn nach Belieben festsetzen könnte. So war es grundsätzlich ja in der Sowjetunion, aber das Wichtigste fehlte: die konkurrenzmäige Reduktion des Ar- beitslohns auf den reellen Wert der Arbeitskraft. Ob ein Mehrprodukt entstand. das sich ein monopolistischer Unternehmer kostenlos aneignete, oder ob vielmehr das Arbeitsvermögen aus dem zuvor akkumulierten Kapital alimentiert wurde, war, siehe oben, nicht zu unterscheiden.

Der springende Punkt: Die regulierende Macht des Weltmarkts galt nicht innerhalb der realexistierenden Gren- zen, Exporte - sofern die geringe Qualität sie überhaupt zuließ - fanden zu Dumpingpreisen statt, weil sie nicht Gewinn bringen mussten, sondern lediglich Devisen, und sei's mit Verlust.

*

All das ist anders beim chinesischen Staatskapitalismus. China braucht Kapital aus dem Ausland, also musste ein Markt entstehen, in den internationale Unternehmen investieren können. In bloßen Joint ventures müssten sie sich mit dem begnügen, was die Staatswirtschaft ihnen überlassen mag, und wirkliche Unternehmungen kämen nicht zustande; das Ganze bliebe allenfalls Beiwerk. Daher hat China einen eigenen inneren Markt er- öffnet, in den ausländische Investoren ganz groß einsteigen können - aber eben auch inländische, mit denen jene - und jene mit diesen - konkurrien können, so dass die Preise im großem Ganzen einen realen Wert ausdrücken und die Unternehmen wirtschaften können und müssen. 

Das geht nur gut, weil und solange sich die Staatswirtschaft unterm eisernen Kommando der Staatspartei be- findet, die bei obligater ideologischer Phraseologie in strenger Disziplin pragmatisch Vor- und Nachteile abwägt im Interesse des Staates.

Die  konfuzianische Beamtenschaft hat in China eine jahrtausendelange Traditon, und die "Kommunistische" Partei Chinas ist eine solche Beamtenschaft. Ohne quasi-sakralen Kaiserhof an der Spitze hätte das nicht funk- tionieren können. Es funktionierte, weil die 'orientalische Despotie' die adäquate Regierungsform der asiati- schen Wasserbaugesellschaften war.

Das gegenwärtige China ist keine asiatische Wasserbaugesellschaft, sondern entwickelt sich rasant zu einem modernen Industriestaat.

Ich meine, das kann nicht lange gut gehen - und befürchte es, um Himmels Willen!

Nachtrag von heute:

Anders als von Marx erwartet war der Kapiutalismus nicht in dem industriell am weitesten entwickelten Land gestürzt worden, sondern im rückständigen agrarischen Russland. Wenn der Kommunismus eine höhere Form der Arbeitsteilung sein soll - nämlich eine, wo die Produkte nicht nach ihren Arbeitswerten, sondern nach den Bedürfnissen der Menschen auf die Gesellschaft verteilt werden -, muss er aber auf einem hohen Produktivi- tätsniveau aufbauen; nämlich so, dass nicht der Mangel verteilt und um das Notwendige gestritten werden muss, sondern ein Überfluss herrscht, der ein leidenschaftsloses Abwägen und Aufteilen erlaubt. Die technischen Schwierigkeiten mögen enorm sein, aber ein Kampf mit Gewinnern und Verlierern wird nicht nötig werden. 

Nun ist Überfluss keine Naturgröße, sondern das, wad die Menschen dafür halten. Es ist eine dynamische Größe, die jeweils politisch ausgehandelt werden müsste. Mit andern Worten, nicht ökonomische Gesetze be- stimmen, sondern politischer Wille. Doch was die Menschen für Notwendiges und für Überfluss halten, ist nicht das, was eine Behörde dafür erklärt, die selber... im Überfluss lebt, und sei's auch nur ein relativer. Will sagen, eine Erörterung der rationellsten Verteilungsweise kann überhaupt erst beginnen, wenn geregelt ist, wer bestimmt.
JE

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