DDR-Bürgerrechtler:
Der Glaube an die Reformierbarkeit des Systems war intakt
Zu
den blinden Flecken der linksalternativen Kräfte zählte die Idee einer
DDR-Identität. Die oppositionellen Kräfte wollten das bestehende System
erneuern und sich auf alte Ideale besinnen. Wider die Mythenbildung 30
Jahre nach dem Mauerfall.
Die Geschichte der politisch alternativen Kräfte in der DDR ist eine Geschichte voller Paradoxien. So strebten sie eine Reform der DDR an, bewirkten aber eine Revolution. Die ostdeutschen Dissidenten wahrten grössere Distanz zum Westen als etwa solche in Polen und der Tschechoslowakei; nach aussen bewiesen sie Mut, nach innen offenbarten sie mehrheitlich ideologische Anpassungsbereitschaft. Das Verhalten der «Normalbürger» fiel dagegen spiegelverkehrt aus: Äusserlich angepasst, waren sie innerlich renitent. Durch den Fall der Mauer standen jene, die am SED-System öffentlich Kritik geübt hatten, plötzlich an der Seite ihrer einstigen Gegner – ungeachtet ähnlicher Ziele blieben die beiden Gruppen sich aber doch fremd.
Die
jüngste Kontroverse in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zwischen
dem Soziologen Detlef Pollack auf der einen Seite und Bürgerrechtlern
auf der anderen Seite untermalt dies: Pollack, seinerzeit Assistent an
der Universität Leipzig im Fach Theologie, bestreitet den starken
Einfluss oppositioneller Kräfte im Herbst 1989 am Sturz der
SED-Diktatur, während die Bürgerrechtler ihre destabilisierende Wirkung
auf diese betonen. Sie werfen Pollack vor, die Rolle der oppositionellen
Kräfte herunterzuspielen und diese gar zu diffamieren. Was keine Seite
ansprach: die seinerzeitigen Ziele der Bürgerrechtler. Welche
politischen Positionen nahmen sie ein? Was bedeutete ihnen der dritte
Weg, der in der Vorstellung einer demokratisch erneuerten DDR bestand?
Was trugen sie zum Sturz des SED-Systems bei, wie standen sie zum Fall
der Mauer, wie zur deutschen Einheit? Welche Meinung vertreten sie
heute? Was sind die Gründe für den Wandel?
Antikapitalistisches Grundverständnis
Vor
der friedlichen Revolution im Herbst 1989 – der einprägsam-griffige
Begriff «Wende» hat sich zwar weithin durchgesetzt, ist für den
Systemwechsel von einer Diktatur zu einer Demokratie aber wenig treffend
– sprach kaum jemand von den politisch alternativen Kräften in der DDR.
Selbst diese nahmen «Opposition» so gut wie nie in den Mund, sei es aus
Überzeugung, sei es aus Strategie. Die ostdeutsche Diktatur tabuisierte
das Thema, und auch im Westen stiess es auf keine sonderliche Resonanz.
Jene Kräfte, die wider das Herrschaftsmonopol der SED löckten, sahen
den Sozialismus als reformfähig an.
Wurde
vor 1989 der Kreis der widerständigen Kräfte eher heruntergespielt,
neigt heute ein Teil der Forschung dazu, deren Einfluss zu überzeichnen.
Waren DDR-Oppositionelle in den 1950er Jahren auf den Westen fixiert,
galt das nicht für die zwei letzten DDR-Jahrzehnte. Nach der
Ausbürgerung des linken Liedermachers Wolf Biermann 1976 folgten
Proteste in intellektuellen Kreisen. Er musste gehen und wollte bleiben.
DDR-Bürger, die gehen wollten und bleiben mussten, ohne dass Proteste
folgten, konnten dies nicht so recht nachvollziehen. Ausreiser
firmierten weithin als Ausreisser.
Ein
antikapitalistisches, nicht auf die Einheit bezogenes Grundverständnis
zeichnete fast alle Dissidenten aus, wie ein Sichten der Texte in den
Samisdat-Organen belegt. Gegen 5000 Personen engagierten sich unter
anderem in Friedens- und Umweltkreisen, oft unter dem Dach der Kirche.
Ende 1985 entstand mit der Initiative Frieden und Menschenrechte die
erste Gruppierung ausserhalb der Kirche. Die SED-Diktatur, die von
«feindlich-negativen» Kräften sprach, agierte in den 1980er Jahren,
bedingt durch aussenpolitische Rücksichtnahmen, weniger repressiv als
etwa in den 1950er Jahren. Die Konsequenz: «Zersetzung» löste
Inhaftierung ab.
Glaube an eine DDR-Identität
Die
Idee des dritten Weges – ideologisch angesiedelt zwischen Ost und West,
zwischen Sozialismus und Kapitalismus – war verbreitet,
gesellschaftspolitisch, aussenpolitisch und wirtschaftlich, der Glaube
an die Reformierbarkeit des Systems ebenso. Zu den blinden Flecken der
linksalternativen Kräfte zählte der Glaube an eine DDR-Identität. Dieser
Sachverhalt entwertet nicht die Zivilcourage der konsumkritisch und
blockübergreifend eingestellten Opposition, belegt vielmehr den
Anpassungsdruck, unter dem fast jede Form der Dissidenz in einer
Diktatur wie der DDR stand. Überzeugung und Vorsicht mischten sich.
Niemand hielt den Zusammenbruch des kommunistischen Systems Knall auf
Fall für möglich. Manche Nichtangepassten im Osten folgten den Ideen von
68ern, die in der freien Welt nicht nur freiheitliche Ziele verfochten.
Zumal die Grünen beeinflussten durch enge Kontakte die politisch
Alternativen, die liberal-konservative Tendenzen im Westen geisselten.
Bedingt
vor allem durch die Flucht- und die folgende Demonstrationsbewegung –
die Sowjetunion unter Michail Gorbatschow nahm Abstand von der
Breschnew-Doktrin und intervenierte also nicht –, brach die SED-Diktatur
urplötzlich zusammen. Daran hatten viele ihren Anteil, auch die
Dissidenten, die schnell – im September und Oktober 1989 – Zulauf
erhielten. Am 9. Oktober 1989, dem «Tag der Entscheidung»,
demonstrierten 70 000 Personen in Leipzig gegen das SED-System. Doch
liess die Isolation dieser Gruppen, die mit ihrer Vision von einem
«echten» Sozialismus eine «andere DDR» anstrebten, in der Bevölkerung
nicht lange auf sich warten.
Wenige
Tage nach dem Fall der Mauer hiess es in einem Flugblatt des Neuen
Forums, der im September 1989 gegründeten Bürgerbewegung: «Lasst Euch
nicht von den Forderungen nach einem politischen Neuaufbau der
Gesellschaft ablenken! Ihr wurdet weder zum Bau der Mauer noch zu ihrer
Öffnung befragt, lasst Euch jetzt kein Sanierungskonzept aufdrängen, das
uns zum Hinterhof und zur Billiglohnquelle des Westens macht! [. . .]
Wir werden für längere Zeit arm bleiben, aber wir wollen keine
Gesellschaft haben, in der Schieber und Ellenbogentypen den Rahm
abschöpfen.»
Mit solchen Ideen, keineswegs politischer Rücksicht geschuldet, verspielten Bürgerrechtler ihren Kredit.
Die
verbreitete Idee des Antifaschismus, die kaum jemand aus der
Bürgerrechtsbewegung infrage stellte, verband sich mit
Anti-Antikommunismus. Zu den Erstunterzeichnern des fast drei Wochen
nach dem Fall der Mauer veröffentlichten Appells «Für unser Land»
zählten bekannte Bürgerrechtler wie Ulrike Poppe, Friedrich Schorlemmer
und Konrad Weiss. Der Kernsatz: «Noch können wir uns besinnen auf die
antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst
ausgegangen waren.»
Allerdings
hatten die Bürgerrechtler gleich bei der ersten Sitzung des Zentralen
Runden Tisches am 7. Dezember 1989 ohne Wenn und Aber für freie Wahlen
plädiert. Bei der ersten und letzten freien Volkskammerwahl am 18. März
1990 erreichten Bündnis 90, in dem sich drei Bürgerrechtsbewegungen
(Demokratie jetzt, Initiative Frieden und Menschenrechte, Neues Forum)
zusammengeschlossen hatten, und die Grüne Partei, gemeinsam mit dem
Unabhängigen Frauenverband, gerade einmal 2,9 beziehungsweise 2,0
Prozent. Nichts konnte stärker die Marginalisierung belegen. Doch ein
Umdenken löste dies nicht aus. Dem Beschluss der Volkskammer für den
Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland am 23. August stimmten
nur zwei der 20 Abgeordneten von Bündnis 90 / Die Grünen zu: Joachim
Gauck und Konrad Weiss. Nicht anders fiel das Votum über den
Einigungsvertrag aus.
Lebensgeschichtliche Erfahrung
Die
Vorbehalte gegenüber den neuen Verhältnissen schwanden allmählich.
Bündnis 90 vereinigte sich mit den Grünen 1993 und förderte deren
Realismus. Heute haben die meisten Bürgerrechtler ihren Frieden mit dem
westlichen System geschlossen und ihre früheren Positionen
stillschweigend aufgegeben. Ihre Heterogenität geht auf die Zeit nach
der Diktatur zurück, zum Teil aber auch auf die Zeit davor, als die
Ablehnung des «realen Sozialismus» andere Differenzen überlagerte. Wenn
sie sich politisch weiterhin engagieren, dann in der CDU, der SPD und
beim Bündnis 90 / Die Grünen. Einige wenige sind zur Partei Die Linke
gegangen, einige zur Alternative für Deutschland. Mit Matthias Platzeck,
zunächst Bündnis 90, später SPD, avancierte ein politischer Aktivist
aus dem alternativen Milieu vor 1990 gar zum Ministerpräsidenten des
Landes Brandenburg von 2002 bis 2013.
Lebensgeschichtliche
Erfahrungen erklären den starken Zusammenhalt von Bürgerrechtlern. Oft
verfassen sie daher Resolutionen, sei es jetzt gegen den Auftritt von
Gregor Gysi am 9. Oktober 2019 in Leipzig als Festredner bei einem
Konzert; sei es letztes Jahr in einer «Erklärung zu Chemnitz» mit einem
Votum gegen die AfD; sei es 2015 zugunsten der «Politik der offenen
Grenzen». Auch wenn von einer Homogenität der Bürgerrechtler weder
damals noch heute die Rede sein kann: Sie reagieren bei Kritik an ihren
unausgegorenen politischen und wirtschaftlichen Ideen Ende der 1980er,
Anfang der 1990er Jahre allesamt gekränkt, als würde ihnen jemand den
Mut absprechen.
Wissenschaftliche
Akkuratesse gebietet den Hinweis: Bei manchen Dissidenten standen weder
Freiheit und Pluralismus noch menschenrechtliches Engagement im
Vordergrund. «Alle wichtigen politischen Ziele von Widerstand und
Opposition wurden 1989/1990 erreicht.» Diese These Ehrhart Neuberts,
eines Protagonisten des alternativen Milieus und Verfassers eines
Standardwerks zur DDR-Opposition, lässt etwas ausser acht. Deren
Anhänger hatten eben nicht die parlamentarische Demokratie vor Augen –
und keinesfalls die deutsche Einheit, schon gar nicht unter den
Vorzeichen der kulturellen, politischen wie militärischen Westbindung.
Wer einen solchen Sachverhalt hervorhebt, will historisch einordnen,
nicht diskreditieren.
Kaum
einer der Bürgerrechtler mag an die von ihnen seinerzeit behaupteten
«verpassten Chancen» 1989/90 erinnert werden. Zu Recht nennt der
Potsdamer Historiker Martin Sabrow den dritten Weg einen «vergessenen».
Dieser Befund beruht zum einen auf der normativen Kraft des Faktischen,
zum anderen auf der faktischen Kraft des Normativen.
Die
Bürgerrechtler akzeptieren das vereinigte Deutschland, und zwar aus
Überzeugung. Allerdings ist bei Bürgerrechtlern, befangen in
konsensuellem Denken, die Fähigkeit zur Selbstkritik wenig entfaltet.
Aber gerade das Eingeständnis von Irrtümern erhöht Glaubwürdigkeit.
Der
Verfasser, emeritierter Professor an der TU Chemnitz, ist
Extremismusforscher und Mitherausgeber des Jahrbuchs «Extremismus &
Demokratie».
Hallo, ich bin begeistert, dass endlich, ich betone endlich, ein in der Öffentlichkeit beachteter Experte, sich zur Wahrheitsfindung der angeblichen "Friedlichen Revolution" äußert".
AntwortenLöschenAlle "einfachen" DDR Bürger in Leipzig, wissen, dass es keine Revolution war.
Die Stasi hatte bis zur Wende alles unter Kontrolle.
Man hat die DDR, in dem Wissen, dass dieser Staat wirtschaftlich am Ende war, kontrolliert abbrennen lassen.
Nach dem Untergang der DDR, ließ man die selbsternennten Bürgerrechtler noch etwas werkeln, bevor man auch sie abwickelte.
Mal so auf einen einfachen Nenner gebracht.
Auch die Mär, dass die Nicolaikirche DER Ort der "Friedlichen Revolution" gewesen sein soll, ist falsch.
In dieser Kirche, war ALLES verwanzt. Sogar der Haupreingang war wegen "Baumassnahmen" gesperrt. So mußten alle durch den schmalen Nebeneingang, wo schicke Fotos gemacht wurden.
UND Führer und Margirius wußten das. Sie schwiegen, denn sie hatten Familie......
Jeder Einzelne der vielen tapferen Leipziger, die auf die Straße gingen, hat die Wende beschleunigt.
Man nicht ein ganzes Volk ehren, sowie man nicht (zweiter Weltkrieg) ein ganzes Volk bestrafen kann.
Für die Geschichtsbücher machen sich Bürgerrechtler aber gut...........
Glauben Sie mir, auch der Slogan "Wir sind das Volk" habe ich der Stadt Leipzig beim Partentamt löschen lassen, weil wir einfachen Leute diesen Ruf "kreiert" haben.
nette Grüße
https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-67768093.html