Soziologe verteidigt Big Data
Die Digitalisierung ist schon seit dem 19. Jahrhundert ein Erfolg
Der Soziologe Armin Nassehi legt eine Theorie der Digitalisierung vor – und schafft ein intellektuelles Spektakel. Zudem kommt er zu überraschenden Schlüssen.
von Steffen Richter
Technik gehorcht oft einer aufschlussreichen Logik der Sichtbarkeit: Üblicherweise verschwindet sie in der Unsichtbarkeit ihres Funktionierens. Sichtbar wird sie vor allem bei ihrer Einführung oder Implementierung – und in Momenten ihrer Krise wie dem Unfall oder Ausfall.
Ein weniger spektakulärer Moment ist der Zeitpunkt, an dem eine Technik keinen Neuigkeitswert mehr besitzt, die Effekte ihrer Routinisierung aber spürbar werden und Krisen verursachen. Diese Krisen gehen nicht vorüber, sie müssen als chronisch verstanden werden. Das ist ein geeigneter Moment, Theorien dieser Technik zu entwerfen. Das Internet scheint an diesem Punkt angelangt zu sein.
Nachdem sein Einsickern in alle Bereiche der Gesellschaft von der Musikindustrie über den Journalismus bis zum Lebensmitteleinkauf mal triumphal-euphorisch, mal kulturkritisch-orakelnd beschrieben worden sind, ist es Zeit für seine Theorie.
Diese Theorie kann nach Lage der Dinge nur eine grundlegende Theorie der Digitalisierung sein, in der das Internet lediglich die Rolle einer populären Anwendung spielt. Eine solche Theorie des Digitalen, genauer: der digitalen Gesellschaft, hat nun Armin Nassehi vorgelegt.
Der in München lehrende Soziologe, „Kursbuch“-Herausgeber und feuilletonistisch überaus präsente public intellectual, ist einer der wichtigsten Stichwortgeber in den Debatten der Gegenwart. Wenn ein großer Kopf auf einen großen Gegenstand wie die Digitalisierung trifft, dann ist intellektuelles Spektakel zu erwarten. Diese Erwartung, soviel vorweg, wird nicht enttäuscht
„Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?“
Nassehis Ausgangsfrage ist von so großer Schlichtheit, dass sie nur von ihrer außerordentlichen Produktivität übertroffen wird. Anstatt sich um die Auswirkungen der Digitalisierung auf unsere großen oder kleinen Lebenspraktiken wie die Freisetzung von Arbeitskräften in der Autoindustrie oder das Verabredungsverhalten per Smartphone zu kümmern, fragt er: „Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?“
- Digital und analog.
- Analog anschauen, digital repräsentieren.
- Das Digit des digitalen Bergs.
- Digitalisieren heißt fungibel machen.
- Am Ende der Naturgesetze?
Wie also ist eine Gesellschaft beschaffen, in der das Digitale mit rasender Geschwindigkeit heimisch werden und den Anschein erwecken konnte, es habe schon immer dazugehört? Dafür genügt es nicht, den Start von Facebook im Jahr 2004 ins Visier zu nehmen oder die Verbreitung von E-Mail-Accounts Mitte der 1990er Jahre.
Den Beginn der Digitalisierung findet Nassehi vielmehr mit den Anfängen der Sozialstatistik im 19. Jahrhundert, die ihrerseits mit der Etablierung der modernen Staaten – und vor allem der Moderne selbst verknüpft ist. Anderslautenden Auskünften zum Trotz, so Nassehi, sei nämlich keine neue Unübersichtlichkeit über die Gesellschaft hereingebrochen – im Gegenteil.
Zwar mag etwa die Rhetorik der romantischen Liebesheirat entstehen, bei der jeder oder jedem das Herz zufliegen kann, die Daten aber sprechen eine andere Sprache: Geheiratet wird meist passend zu Bildungsstand, Konfession oder Herkunft. Was also dominiert, sind jene Muster, die Nassehis Buch den Titel geben.
Die moderne Gesellschaft braucht Daten
Diese Muster in allen Gesellschaftsbereichen lassen sich erst durch die statistische Erhebung von Daten erkennen. Mehr noch: Um sich zu verstehen, braucht die moderne Gesellschaft den Blick auf ihre Daten. Digitalität sei eben nichts, das von außen an uns herangetragen würde, sondern die Verfassung der modernen Gesellschaft selbst.
Damit erst wird verständlich, warum wir uns bedenkenlos per Smartphone-GPS verfolgen lassen, mit jedem Mausklick unser Interessenprofil für kommerziell oder politisch interessierte Mitleser offenbaren oder unsere Telefonnummer bei Facebook hinterlassen, selbst wenn 419 Millionen Nummern gerade frei im Netz zirkulieren.
Verteufelungen und Abwehrrhetorik aus Datenschutzmotiven können der Digitalisierung nichts anhaben, weil sie auf einen längst bereiteten Boden fällt und sich ihre Struktur jener der Gesellschaft anschmiegt.
Hinzu kommt, dass Digitalisierung als eine Technik fungiert, die wie jede Technik durch ihr Funktionieren überzeugt. Das Funktionieren, behauptet Nassehi, entlaste von guten Begründungen, es sei der Feind der Reflexion.
Damit wird Digitalisierung zu einem Spiegel der Gesellschaft, also einem Geschenk für die Soziologie. An ihren Techniken sollt ihr sie erkennen, lautet das Motto – die Gesellschaft oder gar die Gattung, wie man seit Ernst Kapp weiß, dem Pionier der deutschen Technikphilosophie im 19. Jahrhundert.
Nur dass digitale Technik im Unterschied zur herkömmlich mechanischen einen Sinnüberschuss produziert. Mit jedem Einkauf, jeder Hotelreservierung oder jedem Upload von Trainingsdaten hinterlassen wir en passant Datenspuren, die für uns selbst unsichtbare Muster offenbaren.
Nassehis Buch ist eine Ausgeburt intellektueller Verschwendungssucht. Es strotzt vor Thesen und Volten. Die zentrale Provokation aber besteht in der Behauptung von Stabilität gegen die geläufigen Diagnosen der dauernden Veränderung unserer Verhältnisse durch die Digitalisierung: „Digitale Praktiken und Routine“, schreibt Nassehi, „werden zwar als disruptive, geradezu verflüssigende Erscheinungen diskutiert, aber sie verweisen exakt auf das Gegenteil, auf die merkwürdige Stabilität des gesellschaftlichen Gegenstandes, seine Musterhaftigkeit und seine Struktur.“
Nassehis Blick hat etwas arg Behagliches
Das ist weit mehr als ein Scharmützel mit Fachkollegen, die in der Beschleunigung sozialer Prozesse oder der Auflösung von Ordnung die Quintessenz der Gegenwart sehen. Ohnehin ist „Muster“ ein soziologisches Fachbuch, in dem der systemtheoretisch, also an den Konzeptionen Niklas Luhmanns geschulte Autor, Digitalität über Edmund Husserl, Martin Heidegger und Jacques Derrida herleitet.
Nein, trivial ist das nicht – selbst wenn Nassehi mit Zwischenresümees, Wiederholungen oder Anekdotischem einiges für eine didaktische Textdramaturgie tut. Dennoch: Reaktionen auf Augenhöhe, die sich dem Gesamtgebäude dieses theoretischen Entwurfs widmen, sind Sache der Soziologie, der Medien- oder Kulturwissenschaften.
Eine kritische „Intuition“, um eines von Nassehis verblüffenden Lieblingswörtern zu benutzen, ist immerhin möglich. Die Beharrlichkeit von Mustern und berechenbarer Regelmäßigkeit hat als konservatives Moment etwas arg Behagliches. Das Ineinandergreifen von Daten- und Gesellschaftsstruktur suggeriert die beschränkte Möglichkeit von Veränderung und verbreitet Affirmation.
Nassehi selbst hält seine Theorie für „erstaunlich indifferent“ gegenüber den „politisch und ethisch relevanten Fragen bezüglich der Digitalisierung“. Zugleich verteidigt er Digitalisierung gegen den Vorwurf, sie sei ein neoliberales Regime, das beispielsweise die öffentliche Kontrolle in freiwillige Selbstkontrolle transformiert habe.
Er erklärt, dass jene Privatheit, die in heutigen Datenschutzdebatten zur Diskussion steht, nie existiert hat und nur als nützliche Fiktion im Kampf gegen Big Data fungiert. Die digitale Verwandlung des Menschen in einen Informationsträger wird ihm zur zivilisatorischen Errungenschaft, die Freiheitsgrade erweitert.
Das alles ist konzis und nachvollziehbar argumentiert, verweist aber auch auf einen Gründungsvater von Nassehis Fach. Georg Simmel hatte in einer Analyse des Geldes als des zentralen Mediums seines Zeitalters schon vor mehr als einhundert Jahren geschrieben, „dass unsere Zeit (…) sicher mehr Freiheit besitzt als irgend eine frühere, dieser Freiheit doch so wenig froh wird.“
Die durchaus erfrischende Entdiabolisierung des Digitalen lässt sich gern als Entideologisierung bejubeln. Jedoch wird der kühle Pragmatismus, der sich auf seine vermeintliche Neutralität oder den Sachzwang beruft, das Ideologische an sich selbst nicht verkennen.
Ob diese Theorie der digitalen Gesellschaft tatsächlich politisch und ethisch indifferent ist, steht also zur Debatte. Völlig fraglos aber ist, dass Nassehis Buch eine ungemein anregende Diagnose der Gegenwart bereithält und ein Instrument zur Aufklärung dessen darstellt, was eine Gesellschaft vor sich selbst verbirgt.
Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. C.H. Beck, München 2016. 352 Seiten, 26 €.
Nota. - Der Beginn der Digitalisierung war das Aufkommen des begrifflichen Denkens. Mit ihm fängt die Geschichte der Vernunft an. Sagen wir genauer: fängt der Verstand an. Je weiter sich in der Welt die Arbeitsteilung entfaltet hat, umso nötiger wurde es, alles und jeden mit einem Namen, mit einem unverwechselbaren Symbol auszuzeichnen, um es im stetigen Stellenwechsel des Austauschprozesses unterscheiden und wiederfinden zu können. Die Prozesse selbst lassen sich als Verkettungen von Symbolen darstellen, als Formeln, die eine Dynamik beschreiben. So kann der Verstand Komplexität abbilden.
Sinn und Zweck dagegen lassen sich nicht durch Symbole formalisieren. Sie gibt es nur in lebendiger Anschauung; intuitio auf Latein. Vernunft bedarf der Einbildungskraft, die in den Zeichensalat Qualitäten - Absicht, Sinn, Bedeutung - hineinfindet. Um die Qualitäten beurteilen zu können, bedarf es wieder der zerlegenden, auseinandersetzenden, unterscheidenden Kraft des Digitalen: des diskursiven Denkens.
*
Wovon Nassehi offenbar schreibt, ist nicht Digitalisierung, sondern Datifizierung. Das ist kein logischer Vorgang, sondern ein sozialer; es ist das Überwuchern der technischen, vermittelnden und verwaltenden Funktionen im Leben unserer Gesellschaftten. Die Techniker werden von berufswegen alles in Digits auflösen, was immer es sei, die Schulmeister arbeiten ihnen zu durch die Fetischisierung der Begriffe - "Definitionen" - im Unterricht, und die Algorithmen sorgen für den Anschein einer vernünftigen Wahl. Was daher rührt, dass er den Durchschnitt einer unübersehbaren Datenmasse darstellt, der in den meisten Fällen des täglichen Lebens passt.
Damit kann einer sein Leben lang auskommen. Wer aber Entscheidungen trifft, die mehr als sein eignes Leben berühren, wird oft ein unruhiges Gewissen haben. Urteilen kann man nur über Qualitäten: Billigen oder verwerfen. Ohne Anschauung ist da nichts zu machen, und die hat der Algorithmus nicht.
JE
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