So gewannen die Neonazis ihr Terrain
Von Marcel Beyer
...Vier Jahre nach dem Besuch am
Majakowskiring ziehe ich selbst in die „ehemalige DDR“, nach
Ostdeutschland. Ich erinnere mich, wie Rainald Goetz
und ich anlässlich eines Suhrkamp-Autorenausflugs nach Baden-Baden im
Mai 1996 auf der Wiese vor dem Hotel „Tannenhof“ stehen und rauchen. Er
ist von der Mayday aus Dortmund angereist, ich bin auf dem Weg nach
Dresden, um eine Wohnung zu besichtigen. Noch ist mir nicht klar, dass
damit mein Leben als Westdeutscher zu Ende geht. Seinerzeit verspüre ich
nichts weiter als die Neugier auf eine mir unbekannte Welt. Mit der
Zeit begreife ich dann, ich bin meiner Gewissheiten, ich bin der
Gewissheiten des Westens müde.
Der Westen wird – zumindest bis zum 11. September 2001 – einfach weiterleben wie bisher. Mich macht diese Selbstgenügsamkeit nervös. Eine Begegnung mit einem Musiker aus Hamburg, Ende der neunziger Jahre:
„Und wo wohnst du?“
„In Dresden.“
„Da bin ich auch mal aufgetreten, nach der Wende. Da leben nur Nazis.“
Unter dem Eindruck der rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 hatten im Sommer des folgenden Jahres popsozialisierte westdeutsche Intellektuelle eine Art Magical Mystery Tour durch die neuen Bundesländer unternommen, um den jungen Ostdeutschen eine andere Vorstellung vom Linkssein nahezubringen. In Rostock, Leipzig und Dresden wurde zu Vorträgen und Diskussionen geladen, und tatsächlich war man von der naiven Vorstellung beseelt, damit einen Austausch anstoßen zu können. Ein Fiasko. Niemand mochte über Sozialismus diskutieren, schon gar nicht mit Westdeutschen, die glaubten, den Ostdeutschen in Sachen Sozialismus weit voraus zu sein. Der einzige Programmpunkt, der von der Zielgruppe „angenommen“ wurde, waren die Konzerte, mit denen für die Mühen der – nicht stattfindenden – Debatten entschädigt werden sollte.
Der Westen wird – zumindest bis zum 11. September 2001 – einfach weiterleben wie bisher. Mich macht diese Selbstgenügsamkeit nervös. Eine Begegnung mit einem Musiker aus Hamburg, Ende der neunziger Jahre:
„Und wo wohnst du?“
„In Dresden.“
„Da bin ich auch mal aufgetreten, nach der Wende. Da leben nur Nazis.“
Unter dem Eindruck der rassistischen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 hatten im Sommer des folgenden Jahres popsozialisierte westdeutsche Intellektuelle eine Art Magical Mystery Tour durch die neuen Bundesländer unternommen, um den jungen Ostdeutschen eine andere Vorstellung vom Linkssein nahezubringen. In Rostock, Leipzig und Dresden wurde zu Vorträgen und Diskussionen geladen, und tatsächlich war man von der naiven Vorstellung beseelt, damit einen Austausch anstoßen zu können. Ein Fiasko. Niemand mochte über Sozialismus diskutieren, schon gar nicht mit Westdeutschen, die glaubten, den Ostdeutschen in Sachen Sozialismus weit voraus zu sein. Der einzige Programmpunkt, der von der Zielgruppe „angenommen“ wurde, waren die Konzerte, mit denen für die Mühen der – nicht stattfindenden – Debatten entschädigt werden sollte.
Der Osten ist abgehakt
Der Osten hat 1993 einfach keine Zeit für
Theorie. In der Dresdner Neustadt haben die Punks genug damit zu tun,
die Übernahme des Viertels durch Neonazis
zu verhindern. Also steigen die Besucher aus dem Westen teils ratlos,
teils zerknirscht und teils eben auch beleidigt wieder in ihre
Magical-Mystery-Busse und fahren nach Hause. Der Osten ist abgehakt. Die
– schneller als sonst wer wiedervereinigten ost- und westdeutschen –
Neonazis frohlocken. Sie haben die westdeutsche Pop-Intelligenz in die
Flucht geschlagen.
Marcel Beyer im Foyer des Staatstheater Darmstadt im November 2016 Damit entsteht Mitte der neunziger Jahre ein bis heute nachwirkendes Vakuum, das auch Theater und Museen und alternative Kulturzentren nicht füllen können. Das Nachdenken über die Gesellschaft findet, wie während der vierzig Jahre DDR, in geschlossenen Räumen statt. Der öffentliche Raum aber bleibt unbespielt. Die Neonazis und ihre Sympathisanten verbuchen dies als Terraingewinn.
Von einer Erziehung zur weichen Wirbelsäule bin ich verschont geblieben. Von einer Erziehung dazu, erst einmal abzuwarten, welche Position das Gegenüber einnimmt, um dann gegebenenfalls gemeinsam nur umso lauter zu meckern – mit Vorliebe über altbekannte Gegner wie den Kapitalismus, Westdeutschland, die USA und „die da oben“ in Berlin. In diesem Meckeruniversum lässt sich über den Mangel an Veränderung so gut wie über die Rasanz der Veränderungen klagen, über fehlende Führungsqualitäten ebenso wie über „diktatorische“ Anwandlungen von Verantwortungsträgern. Mögen die Widersprüche noch so grob sein – sie ordnen sich alle der Überzeugung unter, Welt sei etwas, das ich erleide. Welt definiert sich überhaupt darüber, dass sie mir und meiner Vorstellung von Welt nicht gerecht wird, dass sie mir keine Gerechtigkeit widerfahren lässt.
Warte ab, wohin die Herde sich wendet
Heute merke ich, ich bin weniger der Gewissheiten des Westens müde, als dass mich nach dreiundzwanzig Jahren in Dresden bestimmte Ostverhaltensweisen müde werden lassen, die meine Freunde hier schon zu DDR-Zeiten zur Verzweiflung getrieben haben: Achte darauf, nicht als Erster den Mund aufzumachen. Hebe dich nicht aus der Menge heraus, indem du mit neuen Ideen kommst. Geh nicht voran. Warte ab, wohin die Herde sich wendet.
Konsensbildung, das habe ich gelernt, erfolgt im Osten auf völlig andere Weise, als ich es, in den siebziger Jahren im Westen sozialisiert, erfahren habe. Zugleich habe ich aber auch gelernt, die abwartende, die sprungbereite Stille im Gespräch von jener anderen Stille zu unterscheiden, die mit einem Anflug von Fatalismus zum Ausdruck bringt: Hier hat es keinen Sinn, weiterzureden. Man wendet sich anderen Gesprächspartnern, anderen Themen zu.
Das geht so lange gut, bis mit Pegida eine Koalition opportunistischer Brüllbedürftiger den öffentlichen Raum für sich reklamiert und ihre „Heimat“ in einer von Westdeutschen gegründeten und geführten Partei findet, die sich kurioserweise nach „ihrer“ alten Bundesrepublik zurücksehnt. Die Figur des passiv-aggressiven Kleinbürgers aber spielte doch in den achtziger Jahren, als die DDR noch existierte, im Westen längst keine hervorgehobene Rolle mehr. Wohin also will man zurück?
„Wir werden immer in der Minderheit bleiben“
Die Flucht aus der DDR nach Westdeutschland
wird mit politischer Repression erklärt. Die Abwanderung aus dem Osten
seit 1990 mit wirtschaftlichem Druck. Menschen, die vor dem Mauerbau
„abgehauen“ sind, nennen mir gegenüber allerdings noch einen ganz
anderen Grund – denselben Grund zu meiner Überraschung, den ich auch von
heute Zwanzig- oder Dreißigjährigen höre: Sie haben die geistige Enge
nicht mehr ertragen.
Im zurückliegenden Sommer sitzen wir in Dresden am Loschwitzer Hang bei Freunden in einer größeren Runde zusammen, hier Geborene und Zugezogene, DDR-Erwachsene und Nachwendekinder. Erinnerungen werden ebenso aufgerufen wie Zukunftspläne, ein herrlicher Tag, bis jemand auf die akute Gegenwart zu sprechen kommt: Seit der Ermordung des Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Kassel erhalte ein Bekannter wieder verstärkt Morddrohungen, weil er für die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline tätig ist.
Im selben Moment ist mir ein Gespräch präsent, das ich drei Wochen zuvor bei einem Abendessen in Rom mit der Frau eines Bundestagsabgeordneten aus Westfalen geführt habe: Seit der Ermordung des Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Kassel erhalte ihr Mann wieder verstärkt Morddrohungen, weil sich die Familie für die Versorgung und Integration von Geflüchteten einsetzt.
Wenigstens die Unmenschen, so lässt sich, zynisch, festhalten, wissen vom heute vielbeschworenen Graben zwischen Ost und West nichts.
Irgendwann meint ein Freund in der Runde, der nun langsam auf die 70 zugeht und die Abgründe der DDR so aufmerksam in Augenschein genommen hat wie die Verwerfungen der Nachwendezeit: „Wir waren immer in der Minderheit. Und wir werden es immer bleiben.“
Es ist das erste Mal, dass ich mich ohne Unbehagen als Teil eines „Wir“ begreifen kann.
Im zurückliegenden Sommer sitzen wir in Dresden am Loschwitzer Hang bei Freunden in einer größeren Runde zusammen, hier Geborene und Zugezogene, DDR-Erwachsene und Nachwendekinder. Erinnerungen werden ebenso aufgerufen wie Zukunftspläne, ein herrlicher Tag, bis jemand auf die akute Gegenwart zu sprechen kommt: Seit der Ermordung des Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Kassel erhalte ein Bekannter wieder verstärkt Morddrohungen, weil er für die Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline tätig ist.
Im selben Moment ist mir ein Gespräch präsent, das ich drei Wochen zuvor bei einem Abendessen in Rom mit der Frau eines Bundestagsabgeordneten aus Westfalen geführt habe: Seit der Ermordung des Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Kassel erhalte ihr Mann wieder verstärkt Morddrohungen, weil sich die Familie für die Versorgung und Integration von Geflüchteten einsetzt.
Wenigstens die Unmenschen, so lässt sich, zynisch, festhalten, wissen vom heute vielbeschworenen Graben zwischen Ost und West nichts.
Irgendwann meint ein Freund in der Runde, der nun langsam auf die 70 zugeht und die Abgründe der DDR so aufmerksam in Augenschein genommen hat wie die Verwerfungen der Nachwendezeit: „Wir waren immer in der Minderheit. Und wir werden es immer bleiben.“
Es ist das erste Mal, dass ich mich ohne Unbehagen als Teil eines „Wir“ begreifen kann.
Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Marcel Beyer lebte bis 1996 in Köln und wohnt seither in Dresden. Zuletzt erschien „Das blindgeweinte Jahrhundert“ (Suhrkamp).
Nota. - Geistige Enge? Na, schwindelerregende Weiten hat man auch in Westdeutschland nicht erlebt. Da war der kurze Moment um '68, aber dann wurde es bald wieder ganz korrekt. (Restriktive Rahmenbedingungen, wissense noch?)
Doch auf die Schnapsidee, mich ausgerechnet im Osten nach neuen Gedanken umzuhorchen, wäre ich nie gekommen. Ich bin WestBerliner, ich hatte schon so einen Verdacht...
Ich danke Ihnen, Herr Beyer, dass Sie dies Kreuz für uns alle auf sich geladen haben.
JE
Doch auf die Schnapsidee, mich ausgerechnet im Osten nach neuen Gedanken umzuhorchen, wäre ich nie gekommen. Ich bin WestBerliner, ich hatte schon so einen Verdacht...
Ich danke Ihnen, Herr Beyer, dass Sie dies Kreuz für uns alle auf sich geladen haben.
JE
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