aus nzz.ch, 8.11.2019
Der Osten war eine Landschaft der Lüge – davon profitiert die AfD bis heute
Der
Ostblock existiert nicht mehr, aber die Prägung durch Diktatur und
Propaganda steckt noch in vielen Köpfen. Misstrauen gegen die Eliten und
Nationalismus gehören zu diesem Erbe, und das nützt Björn Höcke genau
so wie Viktor Orban.
Geschichte
vergeht nicht. Sie lässt sich nicht bewältigen, sie lässt sich nicht
verdrängen, sie kehrt immer wieder. Der Mauerfall liegt unterdessen
dreissig Jahre zurück – eine beträchtliche Zeitspanne, wenn man bedenkt,
dass die DDR selbst nur vierzig Jahre dauerte. Doch der Kommunismus
wirkt noch immer nach, selbst in den Köpfen derjenigen, die zu jung
waren, um ihn selbst zu erleben. Die Westdeutschen glaubten, mit der
Wiedervereini- gung sei ein weiteres düsteres Kapitel deutscher Geschichte
endgültig abgeschlossen. Die Ostdeutschen waren skeptischer, und sie
behielten recht.
Der
Ostblock war eine Landschaft der Lüge, angefangen bei den
Schauprozessen der dreissiger und fünfziger Jahre, in denen keine
Behauptung absurd genug sein konnte, um die Schuld der Angeklagten zu
beweisen. Doch auch in ihrer ermatteten Endphase blieben die
sozialistischen Regime Lügengebilde, in denen sich die Propaganda wie
eine undurchdringliche Wand vor die Realität schob.
So
etwa verkündete die Staatsführung in Ostberlin triumphierend die
Entwicklung eines Computerchips, der mangels geeigneter
Produktionsanlagen dann nie in Serie ging. In Moskau beteten die
Funktionäre des kommunistischen Jugendverbandes die Glaubenssätze des
Marxismus-Leninismus nach, um sich während der Perestroika in
Kapitalisten zu verwandeln. Und in Prag verlangte Vaclav Havel nach Wahrheit und landete im Gefängnis.
Verbissener Kampf gegen Denkverbote
Der
«Homo sovieticus» und seine Verwandten in Mittel- und Osteuropa lernten
ein Leben des «als ob», ein Leben in Verstellung und in Distanz zum
Staatsapparat. Davon profitieren die AfD und andere Populisten. Was ist
Lüge, was ist Wahrheit? Und vor allem: Wer bestimmt darüber? Um diese
Fragen kreist die Politik im Osten bis heute, deshalb der Slogan der
«Lügenpresse», deshalb auch der verbissene Kampf gegen Denkverbote und
die Neigung zu «alternativen Fakten».
Was
Westdeutsche für Verschwörungstheorien halten, betrachten viele
Ostdeutsche im Gegenteil als einen Akt der Aufklärung: Sie wollen
endlich einen Blick hinter die Wand der offiziellen Propaganda werfen.
Das Missverständnis befeuert in Deutschland die politische Polarisierung
und die Entfremdung zwischen Ost und West.
Die
früheren kommunistischen Untertanen haben die Distanz zum Staat und zu
dessen Eliten verinnerlicht und an ihre Kinder weitergegeben. Die
Prägungen der sozialistischen Diktaturen sind langlebig. In Thüringen lag die AfD bei Jungwählern vorne, Rentner wählten hingegen vor allem die SED-Nachfolgepartei. Da wächst zusammen, was zusammengehört. Wie die AfD bedient die Linkspartei antiwestliche Ressentiments.
«Der Kommunismus, die Ideologie der Gleichheit, hat
traditionelles autoritäres Denken gefördert.»
Wer
heute in Ost- und Mitteleuropa politisch Erfolg haben will, kritisiert
das Establishment, auch wenn er selbst dazugehört. Der PiS-Chef Jaroslaw
Kaczynski in Polen und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban
verdanken ihren Aufstieg dem Feldzug gegen alte postsozialistische und
neue marktliberale Eliten. Die PiS errang ihren Wahlsieg vor wenigen Wochen dank einer Sozialpolitik,
die einen Kontrapunkt zu den neoliberalen Reformen seit den neunziger
Jahren darstellt. Die AfD gibt sich national und sozial.
Marktwirtschaft, Globalisierung und Freihandel fordern einen Preis, der
nicht zufällig im Osten am höchsten erscheint, weil hier das politische
System noch instabil ist.
Die
Skepsis gegenüber Eliten bedeutet aber keine Vorliebe für flache
Hierarchien und die «Basisdemokratie», ein Wort, das gemeinsam mit den
Grünen Karriere machte. Das unterscheidet die Anhänger der
rechtskonservativen Parteien von den Achtundsechzigern, der anderen
grossen antielitären Bewegung der letzten fünfzig Jahre. Im Gegenteil,
der Kommunismus, die Ideologie der Gleichheit, hat traditionelles
autoritäres Denken gefördert. Nicht umsonst nennt der frühere deutsche
Bundespräsident Joachim Gauck im NZZ-Interview seine östlichen
Landsleute «altdeutsch». Wer der Demokratie und ihren Repräsentanten
misstraut, ist anfällig für Führerfiguren, auch wenn er das
Establishment verachtet.
Massenmord und Vertreibung
Die
Fassaden sind in Osteuropa inzwischen gestrichen, die internationalen
Hotelketten haben Fuss gefasst, und der Latte macchiato wird
mustergültig aufgeschäumt. WLAN und Handynetz sind besser als in
Deutschland, dem Funkloch Europas. Die Äusserlichkeiten des
westlich-kosmopolitischen Lebensstils verleiten dazu, die
Tiefenströmungen zu übersehen, die auch nach dreissig Jahren die neue
Zeit mit der alten verbinden.
Was
wir heute Mittel- und Osteuropa nennen, gehörte mit Ausnahme der DDR
vor 1918 zum Zarenreich oder zur Habsburgermonarchie. Zwei Imperien und
Vielvölkerstaaten, deren Untergang die Pandorabüchse ethnischer
Konflikte öffnete. So
war Lwiw (Lemberg) in den letzten hundert Jahren
österreichisch-ungarisch, polnisch, sowjetisch, nazideutsch, wieder
sowjetisch und gehört heute zur unabhängigen Ukraine.
Wer
von den Einwohnern Deutsch, Polnisch oder Armenisch sprach, ist längst
vertrieben. Als die Wehrmacht 1941 in Lwiw einmarschierte, fand sie die
Leichen der vom sowjetischen Geheimdienst ermordeten städtischen
Intelligenzia. Dann vernichteten die SS-Einsatzgruppen die Juden; so
starb auch das Jiddische aus. Wer heute in Lwiw lebt, ist oft Nachfahre
sowjetischer Funktionäre, die nach 1945 angesiedelt wurden. Das Wort
Bevölkerungsaustausch ist in Westeuropa ein rechtsextremer Kampfbegriff,
der die Verdrängung der Bevölkerung durch Einwanderer suggeriert. In
Lwiw fand ein Bevölkerungsaustausch tatsächlich statt. Unter
sowjetischer Herrschaft wurde die Aufarbeitung dieser Erfahrung
unterdrückt. Umso heftiger bricht sie nach dem Ende der Diktatur hervor.
Die Tyrannei der Geschichte
Im
Westen reifte der Nationalstaat über Jahrhunderte, bis Exzesse ihn
diskreditierten. Überstaatliche Elemente wie die EU gaben ihm ein neues
Fundament. In Osteuropa ist der Nationalstaat der Versuch, nach
Vertreibungen, Massenmorden und willkürlichen Grenzziehungen endlich
Schutz vor der Tyrannei der Geschichte zu finden. Nationalismus gilt
nicht als Exzess, sondern als Garant von Identität und Stabilität.
Ethnische Homogenität, im Westen lange fast eine Selbstverständlichkeit,
existierte im Osten nie und ist deswegen noch immer ein Ideal.
So
wie sich West- und Ostdeutsche nicht einig werden, interpretieren West-
und Osteuropäer Grundbegriffe der Staatlichkeit völlig unterschiedlich.
Die Deutschen beidseits der Elbe begehen den Fehler, ihre Unterschiede
als Webfehler eines im Übrigen geeinten Volkes zu begreifen. Dabei sind
sie Ausdruck des grossen europäischen Schismas.
Der
Westen denkt universalistisch. Er betrachtet Migration als Bereicherung
und feiert die Diversität der Ethnien und sexuellen Identitäten. Das
war allerdings nicht immer so (und auch heute sehen es viele Menschen
anders). Der Osten nahm sich daran nach dem Kollaps des Kommunismus ein
Vorbild. Man habe die Geschichte inklusiv geschrieben und die von
Ukrainern begangenen Massaker an Polen aus der Perspektive beider Völker
erzählt, hiess es an der Körber History Reflection Group, einer
Historikertagung, die dieses Jahr in Lwiw stattfand. Aber die Völker
hätten nach schärferem Zeug verlangt. Das schärfere Zeug heisst Höcke
oder Orban, die Minderheiten und Einwanderer ausgrenzen. Die polnische
Regierung treibt grossen Aufwand, um ihre exklusiv nationale
Geschichtsschreibung durchzusetzen und andere Sichtweisen im Ausland zu ächten.
In
der Euphorie des Aufbruchs nach 1989 übernahm der Osten zunächst die
liberalen Wertvorstellungen. Als Reaktion auf die Mühen der
Transformation schwang das Pendel zurück. Wahlerfolge feiert jetzt, wer
ein antiwestliches Weltbild kultiviert. Westeuropa reagiert auf diese
Wellenbewegung entnervt und macht die eigene Erfahrung zum Massstab, an
dem es den Osten misst. Bis das europäische Schisma überwunden ist, bis
Ost und West die gleiche Sprache sprechen, wird jedoch einige Zeit
vergehen. Hier braucht es Geduld und gegenseitiges Verständnis. Eine
Lüge ist schnell erzählt. Bis sich die Wahrheit durchsetzt, dauert es
lange.
Nota. - Die gleiche Sprache? Herr Gujer, Sie meinen doch nicht ein Pidgin-Deutsch aus Lüge und Wahrheit! Nein nein, so eine Vereinigung hat ihnen das GG nicht in Aussicht gestellt und werden sie von uns nicht bekommen. Der Wahrheit ist nicht gedient, indem man den Lügner "abholt". An dem Punkt haben wir viel zu lange und viel zu bedenkenlos gesündigt. Damit soll nach drei Jahrzehnten endlich Schluss sein.
JE
Nota. - Die gleiche Sprache? Herr Gujer, Sie meinen doch nicht ein Pidgin-Deutsch aus Lüge und Wahrheit! Nein nein, so eine Vereinigung hat ihnen das GG nicht in Aussicht gestellt und werden sie von uns nicht bekommen. Der Wahrheit ist nicht gedient, indem man den Lügner "abholt". An dem Punkt haben wir viel zu lange und viel zu bedenkenlos gesündigt. Damit soll nach drei Jahrzehnten endlich Schluss sein.
JE
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