Dienstag, 12. November 2019

So war die Treuhand.

aus spiegel.de, 09.11.2019                                                Das Werkzeugmaschinenwerk Ermaga in Chemnitz im August 1990 in der DDR.


"Der Jammer-Ossi ging mir maßlos auf die Nerven"

Er war der einzige Ostdeutsche zwischen lauter West-Managern: Detlef Scheunert trieb als Treuhand-Direktor Verkauf und Schließung alter DDR-Betriebe voran - und galt seinen Bekannten deshalb bald als Kollaborateur.



Ein Interview von und

Als nach der Wende aus Planwirtschaft Marktwirtschaft werden sollte, war Detlef Scheunert das Bindeglied zwischen zwei einander fremden Systemen. Als einziger Ostdeutscher rückte er auf in den Vorstand der Treuhand, ein junger Mann aus Sachsen zwischen jovialen Managern aus den Chefetagen westdeutscher Konzerne. Sie suchten Käufer für mehr als 8000 DDR-Betriebe.


Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder wollte damit eigentlich noch 600 Milliarden D-Mark erlösen. Scheunert wusste es besser, weil er die maroden Betriebe kannte. Als junger Funktionär eines DDR-Ministeriums hatte er Ende der Achtzigerjahre Industriebetriebe abgeklappert. Je weiter entfernt sie von Berlin lagen, desto desolater waren sie.

Scheunert sagt, der Osten habe den Westen an der Nase herumgeführt mit der Legende, die DDR sei weltweit Wirtschaftsmacht Nummer zehn. Am Ende machte die Treuhand mehr als 200 Milliarden D-Mark Verlust.

Detlef Scheunert beim Gespräch in seinem Haus in Gütersloh
Detlef Scheunert beim Gespräch in seinem Haus in Gütersloh

Der junge Privatisierer von damals ist heute 59. Er wohnt in einem Einfamilienhaus in Gütersloh, etwa 450 Kilometer westlich seiner sächsischen Heimat. Ab Mitte der Neunzigerjahre hat er Karriere gemacht im Umfeld des Bertelsmann-Konzerns. Ein Angebot aus Estland, die Privatisierung in der ehemaligen Sowjetrepublik zu begleiten, hat er ausgeschlagen. Es höre sich aus seinem Mund vielleicht etwas merkwürdig an, aber er habe "auch nicht weiter nach Osten, sondern immer nach Westen" gewollt.

SPIEGEL: Herr Scheunert, die Treuhand wurde als "größtes Schlachthaus Europas" bezeichnet, Sie waren der einzige ostdeutsche Direktor unter westdeutschen Chefs. Was sind Ihre Erinnerungen an das innerdeutsche Tohuwabohu am Berliner Alexanderplatz?
 
Scheunert: Ich hatte die Gnade der späten Geburt, war wenig kontaminiert mit dem alten System und habe die vielen Veränderungen als Chance gesehen. In der Treuhand spielten im Herbst 1990 in der fünften Etage die alten Apparatschiks aus der DDR-Zeit noch Modrow-Treuhand. Und in der siebten und achten Etage etablierte sich langsam von oben nach unten die West-Treuhand. Ich bin immer hin- und hergegangen, habe zwischen den Genossen in der fünften Etage und den Wessis in der siebten und achten umgeschaltet.
 
SPIEGEL: Wie müssen wir uns dieses "Umschalten" vorstellen?
 
Scheunert: Ich habe versucht zu vermitteln. Und ich wollte wissen, was da unten gespielt wird. Ich habe schon in der Schule das Petzen gehasst. Aber irgendwann habe ich meinem Vorstand gesagt: Das, was da unten läuft, geht in die andere Richtung.
 
SPIEGEL: Was lief da?
 
Scheunert: Die hatten den Auftrag zu verwalten, den Betrieben zu helfen - das waren ihre Schutzbefohlenen. Privatisierung stand nicht im Fokus. Der Staat sollte weiter die Obhut haben und der Westen sollte bezahlen.
 
SPIEGEL: Und was machten die westdeutschen Treuhand-Mitarbeiter?


Wirtschaftsbilanz der Deutschen Einheit
Wirtschaftsbilanz der Deutschen Einheit

Scheunert: Die Wessis suchten nach ihren bekannten Strukturen und Prozessen in Betrieben - aber die gab es so wie im Westen bekannt nicht. Die kamen überhaupt nicht zurecht und waren völlig hilflos. Wer die Zuständigkeit, wie bei Beamten üblich, diskutierte, hatte schon verloren. Die Macher haben sich durchgesetzt, da habe ich reingepasst.
 
SPIEGEL: Wie haben Sie sich durchgesetzt?
 
Scheunert: Mit Aggressivität und Schnelligkeit.
 
SPIEGEL: Danach sehen Sie gar nicht aus.
 
Scheunert: Damals ist das anders gewesen. Ich war ein aggressiver Typ, mein Kampfgewicht war 100 Kilo. Wo ich war, war das Licht. Das klingt arrogant, es war ein Schutz um mich herum. Ich war überfordert, hatte keine methodische Ausbildung. Ich hatte ja keinen westdeutschen Studienabschluss, meinen MBA habe ich im täglichen Job gemacht, ich hatte Topleute um mich herum.

Die Treuhand-Zentrale in Berlin Anfanger der Neunzigerjahre: "Das war keine Organisation, sondern ein sich aufblasendes Etwas", sagt Detlef Scheunert
Die Treuhand-Zentrale in Berlin Anfanger der Neunzigerjahre: "Das war keine Organisation, sondern ein sich aufblasendes Etwas", sagt Detlef Scheunert

SPIEGEL: Sie waren mit 30 Jahren ein Jungspund im Vergleich zu den überwiegend älteren West-Kollegen. Haben die Sie überhaupt für voll genommen?
 
Scheunert: Eingeschränkt. Die Treuhänder, die ganz am Anfang da waren, die sogenannten One-Dollar-Leute, haben das mit Sympathie betrachtet und gesagt: Klasse, dass du dich dem stellst. Bei einer dummen Frage haben die nicht gelacht. Die nächste Generation, die aus der zweiten, dritten Reihe, die im Osten eine Karrierechance gesehen haben, und die, die es im Westen karriereseitig vergeigt hatten, haben nicht zugehört und sich auch nicht von mir beraten lassen.
 
SPIEGEL: Als Sie am 1. September 1990 zur Treuhand gingen, waren der Organisation rund 8500 Betriebe unterstellt.
 
Scheunert: Das war keine Organisation! Das war ein sich aufblasendes Etwas, das erst dabei war, eine Organisation zu werden. Die Treuhand war aufgebaut auf den Trümmern der DDR, befand sich im ehemaligen Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik. Die obersten Etagen waren nicht mal renoviert. Wenn jemand ein Büro brauchte, sah das aus wie in den Fünfzigerjahren - kein Telefon, kein nix. Der musste erst mal einen Handwerker finden, der ihm die Bude renovierte. Das wurde alles just in time gemacht.


SPIEGEL: Die Treuhand hat viele westdeutsche Manager aus der zweiten Reihe aufgefangen.
 
Scheunert: Am Anfang der Treuhand wurde nicht lange gefackelt und nicht groß überprüft. Ich wurde extrem durchgeleuchtet. Bei mir hatten die Personalüberprüfer herausgefunden, dass in den sieben Wochen zwischen meinem Diplom und dem Beginn meines ersten Jobs am 18. Mai 1983 eine Lücke in meinem Lebenslauf klaffte.

Das Elektro-Physikalische Werk in Neuruppin: Der Betrieb wurde von der Belegschaft besetzt, um gegen die Entlassung von mehreren tausend Arbeitern durch die Treuhand zu protestieren.
Das Elektro-Physikalische Werk in Neuruppin: Der Betrieb wurde von der Belegschaft besetzt, um gegen die Entlassung von mehreren tausend Arbeitern durch die Treuhand zu protestieren.

SPIEGEL: Die westdeutschen Manager wurden nicht überprüft?
 
Scheunert: Den Ostdeutschen wurde eher Misstrauen und den Westdeutschen eher Vertrauen entgegengebracht, das war ja auch nachvollziehbar.
 
SPIEGEL: Das alles ist jetzt 30 Jahre her, aber die Treuhand polarisiert noch immer. Wundert es Sie, dass Linke und AfD unisono einen Untersuchungsausschuss fordern?
 
Scheunert: Ich finde den Gleichklang der Argumentation bemerkenswert. Wenn ich Dietmar Bartsch und Björn Höcke fast wortgleich Forderungen stellen höre, weiß ich nicht, ob Bartsch sich überlegt hat, mit wem er im Gleichklang ist. Die Legendenbildung, die von AfD und Linke weitergetrieben wird, trägt zur Polarisierung der Gesellschaft bei - gerade in Ostdeutschland. In Thüringen haben 54 Prozent Linke und AfD gewählt - da muss man sich überlegen, was sich in den vergangenen 30 Jahren in den Köpfen festgesetzt hat.
 
SPIEGEL: Was hat sich denn festgesetzt?
 
Scheunert: Ich störe mich daran, dass immer gesagt wird: "Es geht uns so schlecht, wir sind so frustriert." Bitte mehr Objektivität! Was im Osten alles geschaffen wurde! Das beginnt auch mit der Treuhandanstalt. Es sind unendlich viele Milliarden in den Osten geflossen.
 
SPIEGEL: Brauchen wir einen Treuhand-Untersuchungsausschuss, um vielleicht auch mal mit dem Thema abzuschließen?
 
Scheunert: Das ist hochgradiger politischer Populismus von AfD und Linken, es ist Geschichtsklitterung. Die Linken sind die politischen Nachfolger der SED, und die hat das Wirtschaftsmodell an die Wand gefahren. Es war ein moralischer, vor allem aber ein wirtschaftlicher Konkurs. 70 Jahre Sowjetsozialismus, 40 Jahre DDR-Sozialismus waren am Ende. Öffentliche Beteiligung war so was von out, niemand wollte das. Es war ein Triumph der Marktwirtschaft.
 
SPIEGEL: Bartsch argumentiert mit dem von der Treuhand angerichteten Schaden. Der sei "bis heute eine wesentliche Ursache für den ökonomischen Rückstand des Ostens und für politischen Frust".
 
Scheunert: Dass heute im Osten kein Dax-Unternehmen ist, ist historisch begründet. Wie lange hat Daimler zu seiner Stärke gebraucht? 100 Jahre! BMW? 50 Jahre. Hier in Gütersloh gibt es Bertelsmann - 70 Jahre. Das wird Generationen dauern. Kohls blühende Landschaften sind im Osten in der Infrastruktur entstanden. Was hätten wir 1990 machen sollen? Hätten wir die Kombinate mit Steuergeld in Konzernzentralen umwandeln sollen?

Wirtschaftsbilanz der Deutschen Einheit
Wirtschaftsbilanz der Deutschen Einheit

SPIEGEL: Der Thüringer AfD-Spitzenkandidat spricht von den "Machenschaften der Treuhand".
 
Scheunert: Höcke hat sich vor der Thüringenwahl hingestellt und gesagt, das Leid in Ostdeutschland nach der Wende hat einen Namen - Treuhandanstalt. Was für ein Demagoge!
 
SPIEGEL: Noch einmal zur damaligen Strategie. Die Treuhand hat Betriebe in Serie abgewickelt. Hätte mehr Zeit helfen können, um mehr Unternehmen zu retten?
 
Scheunert: Das ist eine akademische Betrachtung. Der Druck von der Straße war zu hoch. Die Menschen waren wie Verdurstende in der Wüste. Sie wollten alles auf einmal haben, obwohl sie gespürt haben, dass das unrealistisch ist. Nur weil sie im Osten aufgewachsen sind, waren sie ja nicht doof. Man hat sich gegenseitig gepusht und was riskiert, war auf die Straße gegangen, hatte sich mit dem System auseinandergesetzt - jetzt wollte man die Dividende. Kohl hatte die D-Mark geliefert.
 
SPIEGEL: Sie waren ein gutes halbes Jahr dabei, als Treuhand-Chef Detlev Rohwedder Ostermontag 1991 von der RAF erschossen wurde. Haben Sie überlegt, ob Sie in den Sack hauen?
 
Scheunert: Klar habe ich das überlegt. Ich war frustriert. Mein Vater war alt, meine Minister hatten sich in Staub aufgelöst, und ich war in einem Alter, wo ich Orientierung gesucht habe. In Rohwedder habe ich eine Persönlichkeit gesehen, das war für mich ein Typ, der Integrations- und Motivationskraft hatte. Das war uneingeschränkt die Persönlichkeit, die den Laden geführt hat. Er war der Schutzpatron - und dann war er weg. Rohwedder hatte den Dortmunder Stahlkonzern Hoesch erfolgreich saniert, der hätte da warm und trocken bis zur Rente sitzen können.

Proteste vor der Treuhand-Zentrale in Berlin im Mai 1993
Proteste vor der Treuhand-Zentrale in Berlin im Mai 1993

SPIEGEL: Hatten Sie Angst?
 
Scheunert: Ja, ich habe abends schon über die Schulter geguckt, wer hinter mir geht. Da liefen viele Frustrierte durch die Gegend. Privat im Freundeskreis bin ich sehr zurückhaltend geworden.
 
SPIEGEL: Mussten Sie sich rechtfertigen, weil Sie bei der Treuhand waren?
 
Scheunert: Na klar. Ich war Kollaborateur, weil ich mit den Besatzern gesprochen habe.
 
SPIEGEL: Wäre es mit Ihrer Biografie nicht Ihre Aufgabe gewesen, bei den westdeutschen Treuhand-Managern für den ostdeutschen Blick zu werben?
 
Scheunert: Das habe ich damals selbst so nicht empfunden. Ich habe mich für Volkswirtschaft interessiert, Hayek gelesen, später von Schumpeters Konzept der schöpferischen Zerstörung. Der Jammer-Ossi kam auf und dieses Gejammere ging mir maßlos auf die Nerven. Ich war für diese schöpferische Zerstörung. Man musste die alten Männer nach Hause schicken.
 
SPIEGEL: Sind Sie heute mit sich im Reinen, dass die schöpferische Zerstörung richtig war?
 
Scheunert: Ich war damals wie heute der Überzeugung, dass die Orientierung an der Marktwirtschaft richtig ist, weil ich die persönliche Freiheit der Menschen gesehen habe und fest davon überzeugt bin, dass Privateigentum die Grundlage von effizientem Wirtschaften ist. Ich halte wenig von Staatsbeteiligung. Der Osten, diese kleine DDR, war schon eine komische Gesellschaft. Geführt von Dilettanten, die aus ihrer Jugend heraus eine faszinierende Idee entwickelt hatten. Und dann haben sie das so vermurkst, weil sie an alten Dogmen festgehalten haben.
 
SPIEGEL: Gibt es etwas, das Sie bedauern?
 
Scheunert: Ich hätte mir von westlicher Seite Wirtschaftsförderung im Sinne von Unternehmensgründungen gewünscht. Die Bereitschaft zur Initiative war da, aber die Kompetenz fehlte. Es gab viele kleine Gründungen, die alle Pleite gemacht haben, weil sie keine Ahnung hatten.

Gelände der ehemaligen Wollspinnerei Altenburg im sächischen Ort Amerika
Gelände der ehemaligen Wollspinnerei Altenburg im sächischen Ort Amerika

SPIEGEL: "Das DDR-Vermögen wurde in den Westen umverteilt", kritisiert der Berliner Soziologe Steffen Mau. Er meint, die Ostdeutschen hätten damals durch ein KfW-Förderprogramm befähigt werden sollen. Mehr als 8000 Betriebe wurden verkauft, aber nur rund fünf Prozent an neue ostdeutsche Eigentümer.
 
Scheunert: Ostdeutsche Unternehmer, die sich einen Wessi als Marketingmann oder Controller geholt haben, waren erfolgreich - weil der eine andere Ausbildung hatte. Ich hätte mir mehr Eigenverantwortung im Osten und eine wirtschaftliche Sonderzone für ein paar Jahre gewünscht, die Unternehmensgründungen leichter gemacht hätten. Im Osten waren kleine unternehmerische Pflänzchen entstanden, und dann wurde der Riesenbürokratieklotz draufgestülpt. Der konnte getragen werden von der hoch entwickelten westdeutschen Wirtschaft, aber nicht von den damals jungen und noch schwachen ostdeutschen Unternehmen.
 
SPIEGEL: Warum wurde in der Treuhand nicht mitbedacht, welche Auswirkungen die gravierenden Systemveränderungen für die Menschen bedeuten?
 
Scheunert: Dafür war keine Zeit. Es gab einen Erwartungstsunami. Es war täglich eine neue Lage. Im Laufe der Treuhand-Jahre haben immer mehr Juristen und Controller das Sagen bekommen. 1993 war die Treuhand fast perfekt, und es gab die höchste Effizienz. Ich war als Direktor die elfte Unterschrift, nach der zwölften Unterschrift gingen die Privatisierungsvorgänge an den Gesamtvorstand.

SPIEGEL: Mit dem Kahlschlag durch die Treuhand blieben die neuen Länder auf der Strecke, heute sind ganze Regionen ausgeblutet.
 
Scheunert: Die gesellschaftlichen Auswirkungen haben damals keine Rolle gespielt.
 
SPIEGEL: Sie haben durchgepflügt.
 
Scheunert: Im Prinzip haben wir den Job gemacht, den die SED jahrzehntelang versäumt hat. Die Betriebe waren überbesetzt und die Umstellung auf die Marktwirtschaft hat einen Produktivitätsschub per se gefordert. Die Treuhand hat damit begonnen. Alles nicht Betriebsnotwendige wurde abgespalten - Polikliniken, Militärsachen, Kindergärten. Wir mussten viele Gesetze berücksichtigen, das war ja nicht nur das Treuhandgesetz. Und da stand nicht drin: Was macht das mit den Menschen in Ostdeutschland, was mit der Region? Das war nicht unser Auftrag.
 
SPIEGEL: Führungskräfte mit wendebedingten Brüchen und Erfahrungen könnten an vielen Stellen wertvoll für die Wirtschaft sein, denn sie haben einen anderen Blick und betrachten Veränderung nicht als Bedrohung. Jedoch besetzen Ostdeutsche nur knapp zwei Prozent der Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Medien. Wie sehr frustriert das die Menschen in den neuen Ländern?
 
Scheunert: Ich war darüber am Ende der Treuhand auch frustriert. Dass das heute noch so ist, ist schwer zu erklären. Viele Ostdeutsche haben in den großen Unternehmen, der Politik und Verwaltung keine Netzwerke und sind einfach nicht ganz nach oben gekommen. Erst dann zieht man jemanden nach. Es gab im Osten damals keine Förderprogramme für Führungskräfte, und sie sind bis heute nicht etabliert.
 
SPIEGEL: Könnte eine Ostquote helfen?
 
Scheunert: Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Die Frauenquote funktioniert ja auch nicht.
 
SPIEGEL: Warum nicht?
 
Scheunert: In Parteien mag das klappen. Aber wenn jemand durch eine Quote in eine Unternehmensposition kommt, hat der einen Spießrutenlauf vor sich, der hat es ganz schwer. Die, die nicht zum Zuge kommen, werden dafür sorgen, dass er oder sie scheitert.
 
SPIEGEL: Verstehen Sie sich eigentlich als Ostdeutscher oder als Westdeutscher?
 
Scheunert: Weder noch. Ich habe meine Jugend in Ostdeutschland erlebt und die Zeit zwischen 30 und 60 im Westen. Natürlich habe ich im Innern eine Affinität zu meinen Wurzeln, ich lese die "Sächsische Zeitung" und höre den MDR, aber ich nehme genauso am Leben hier teil, zum Beispiel im Lions Club. Wenn Thüringen wählt, rufe ich jemanden an, den ich dort kenne. Und ich versuche westdeutschen Freunden die Entwicklungen zu erklären.
 
SPIEGEL: Wir führen dieses Gespräch in Ihrem Haus in Gütersloh und nicht in Ihrer Geburtsstadt Döbeln bei Meißen. Haben Sie mal überlegt, ob Sie in den Osten zurückgehen?
 
Scheunert: Manchmal werde ich sentimental und frage mich, warum ich nicht in Ostdeutschland ein Unternehmen gegründet habe. Ich hätte das Wissen und den Zugang zu Investitionsmitteln. Wenn ich in Sachsen bin und bestimmte Bedenken wie "aber das ist schwierig" höre, bin ich von der Idee jedes Mal abgeturnt. Dann denke ich, Ihr habt es immer noch nicht gelernt - und bin ernüchtert.
 
SPIEGEL: Sie sagen, dass Sie in Ihrer Treuhand-Zeit "in die Fresse bekommen" haben. Wie sehr wurden Sie in diesen Jahren im Vergleich zu späteren Stationen bei Daimler und Westfalia geprägt?
 
Scheunert: Die Treuhand war auf jeden Fall die spannendste Zeit. Wir reden jetzt schon ein paar Stunden, die Geschichten kommen einfach so aus mir heraus.
 
SPIEGEL: Denken Sie noch täglich an die Treuhand?
 
Scheunert: Ich bin 1995 nach Ostwestfalen-Lippe gekommen und habe darüber gesprochen. Die Menschen haben mich angeguckt und gesagt: Was? Wie? Dunkeldeutschland? Die orientierten sich nach Westen oder Süden. Wir haben gute und interessierte Freunde gefunden. Aber in der Firma, die ich geleitet habe, war man sehr auf sich konzentriert. Man hat mit dem Rücken nach Osten gestanden. Ich habe gemerkt: Das interessiert hier keinen, und dann habe ich aufgehört darüber zu sprechen. Das ist eigentlich seit 1995 so.

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