aus nzz.ch,
Gesundbetung im Angesicht der Katastrophe: Das Show-Format zur SPD-Vorsitzenden-Wahl bringt alle Fehlentwicklungen innerhalb der Partei auf den Punkt
Die deutschen Sozialdemokraten haben keine Weltanschauung mehr anzubieten. Aber Diskurs, das Erklären von Politik, von Demokratie und Kompromiss, wären dringend nötig in einer Zeit, in der sich die Gesellschaft polarisiert und die Meinungsfreiheit von rechts wie von links unter Druck gerät.
Die Funktionäre der deutschen Sozialdemokratie wirken mittlerweile wie die Schauspieler in einer Netflix-Horror-Serie: «Macht das nicht!», möchte man ihnen dauernd zurufen, «geht doch nicht da lang!», oder: «Vorsicht, hinter euch!» Doch natürlich können Serienfiguren die Zuschauer nicht hören.
Seit 1990 hat die SPD fast eine halbe Million Mitglieder verloren; seit 1998 mehr als zehn Millionen Wähler. Das letzte halbwegs vorzeigbare Ergebnis (34,2 Prozent) erreichte sie bei der Bundestagswahl 2005 mit Gerhard Schröder. Bei Landtagswahlen geht sie inzwischen auch mit einstelligen Ergebnissen (Bayern, Sachsen, Thüringen) nach Hause. Und erreicht sie in einer bundesweiten Meinungsumfrage ausnahmsweise 15 Prozent, wird das vom Establishment schon als neue Stärke gefeiert.
Politische
Konsequenzen hat – ausser Hannelore Kraft nach der verlorenen
Landtagswahl im SPD-Stammland Nordrhein-Westfalen 2017 – freiwillig noch
kaum ein Spitzengenosse gezogen. Vielmehr scheint es so, als würden die
schlimmsten Verluste die Verantwortlichen noch zusätzlich
stabilisieren. Nach dem Motto: Wir haben so falsch gelegen,
jetzt müssen wir erst recht versuchen, im Amt zu bleiben. Das galt für
Sigmar Gabriel wie für Martin Schulz – und stets und ständig für den
ganzen 44-köpfigen Parteivorstand, der beinahe alles einmütig
mitbeschlossen hat: Schulz niemals in ein Merkel-Kabinett, keine grosse
Koalition, doch grosse Koalition, Schulz doch in ein Merkel-Kabinett;
alle Macht für Andrea Nahles . . .
Die
offizielle SPD-Rhetorik ist eine der Gesundbetung im Angesicht der
Katastrophe: In Bremen freut man sich, dass es möglich ist, gegen die
stärkste Fraktion (CDU) eine rot-rot-grüne Regierung zu bilden. Dass
Bundesfamilienministerin Franziska Giffey mit Ach und Krach ihren
Doktortitel für eine dürftige Arbeit behalten darf, empfiehlt sie
sogleich für Höheres. In einer Talkshow schildert die kommissarische
SPD-Vorsitzende Malu Dreyer die Lage in so rosigen Farben, dass sogar
die an sich sanftmütige Moderatorin gereizt fragt: «Finden Sie wirklich,
dass Ihre Partei keine Probleme hat?»
Tatsächlich
besteht sie momentan nur aus Problemen. Das maximal aufwendige
Verfahren zur Bestimmung der neuen «Doppelspitze» – 23
Regionalkonferenzen mit sieben Kandidatenteams – hat die hohen
Erwartungen enttäuscht. Ein echtes Gespräch darüber, was die SPD ändern
müsste, um wieder erfolgreich zu werden, kam schon wegen des rigiden
Formats mit viel zu kurzen Redezeiten nicht zustande. Und keiner der
potenziellen Führer der ältesten Partei Deutschlands wagte es, gegen
diese Kindergarteninszenierung aufzumucken.
Am
anschliessenden Mitgliedervotum beteiligte sich nur die Hälfte der
Basis – so kam es, dass für den Erstplatzierten Olaf Scholz und seine
Partnerin ganze elf Prozent der eingeschriebenen SPD-Mitglieder
stimmten. Ein eigentlich deprimierendes Ergebnis – das Scholz allerdings
bejubelte.
In einem Land ohne Merkel
Die
Tatsache, dass der Vizekanzler der Bundesrepublik Deutschland,
Finanzminister und stellvertretende Parteivorsitzende nicht besser
abschnitt, beschädigt Scholz – und lässt erahnen, wie die Genossen mit
ihm umgehen werden, falls er sich in der nun folgenden Stichwahl knapp
durchsetzt: Sie werden versuchen, ihn zum Austritt aus der grossen
Koalition zu nötigen – und zur Aufgabe der «schwarzen Null» im
Bundeshaushalt; sie werden in allen denkbaren Fragen eine Linkswende
erzwingen. An der Linksdrift der Funktionäre sind schon die
Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück
gescheitert. Doch verspricht diese Richtung wirklich Erfolg?
Wahlen hat die SPD immer dann gewonnen, wenn es ihr gelang, die
solidarische, fortschrittlich gestimmte Mitte anzusprechen – mit
Kanzlern wie Willy Brandt («Wir schaffen das moderne Deutschland»),
Helmut Schmidt («Modell Deutschland») oder eben Gerhard Schröder
(«Innovation und Gerechtigkeit»). Ein strammer Linksruck dürfte hingegen
direkt in die Opposition führen. Und sich dort zwischen der Linkspartei
und der AfD zu profilieren, wird mindestens ebenso schwer, wie in der
grossen Koalition nicht unterzugehen.
Ohnehin
steht aber vor einem Sieg von Olaf Scholz ein sehr grosses «falls».
Denn wer ihn wollte, hat ihm möglicherweise bereits die Stimme gegeben;
sein Potenzial könnte weitgehend ausgeschöpft sein. Hingegen fällt der
Satz «Ich kann ihn einfach nicht wählen!» gegenwärtig bei beinahe jeder
Zusammenkunft von Sozialdemokraten, die aus mehr als zwei Personen
besteht.
Gleichwohl
verbreiten Scholz’ Mitarbeiter unerbittliche Zuversicht: Wenn die Partei
sich nicht für ihn entscheide, dann sei sie sowieso nicht mehr zu
retten, sagen sie. Das mag sogar stimmen: Stellt man sich das Land
einmal ernsthaft ohne Bundeskanzlerin Angela Merkel vor, dann brächte
Scholz mehr Kampfgewicht und Regierungserfahrung auf die Waage als die
kraftlose CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer oder der mutmassliche
Grünen-Spitzenkandidat Robert Habeck. Das kann man vom zweitplatzierten
SPD-Kandidaten, dem ehemaligen nordrhein-westfälischen Finanzminister
Norbert Walter-Borjans, nicht wirklich behaupten, allein schon, weil er
den meisten Deutschen gar nicht bekannt ist.
Doch
Scholz macht es den Genossen nicht leicht, sich für ihn zu entscheiden:
Er spricht hermetisch. Sein Gesichtsausdruck wirkt oft mokant. Er
antwortet fast nie auf Fragen, die Journalisten ihm stellen, sondern
haut ihnen seine Wahrheiten um die Ohren. Scholz hat nichts darüber zu
sagen, wie Deutschland im Augenblick ist oder in Zukunft sein sollte.
Wie Merkel ist er Vertreter einer nichtdiskursiven, technokratischen
Politik. Aber Diskurs, das Erklären von Politik, von Demokratie und
Kompromiss, wären dringend nötig in einer Zeit, in der sich die
Gesellschaft polarisiert und die Meinungsfreiheit von rechts wie von
links unter Druck gerät.
Das
Show-Format zur Bestimmung der neuen SPD-Vorsitzenden bringt alle
Fehlentwicklungen innerhalb der Partei auf den Punkt: Die
Sozialdemokraten haben keine Weltanschauung mehr anzubieten. Sie haben
sich thematisch auf sozialpolitische Projekte eingeschränkt, die sie
spiegelstrichartig abarbeiten, ohne dass es ihnen irgendjemand dankt.
Dass
Olaf Scholz’ Partnerin Klara Geywitz (seine zweite oder dritte Wahl)
öffentlich sagte, sie wolle nicht das Salatblatt auf seiner Kandidatur
sein, rückte die generell salatblattartige Rolle der SPD-Frauen auf
schmerzliche Weise in den Fokus. Denn ausser der Professorin Gesine
Schwan gab es in der Endrunde keine Bewerberin aus eigenem Recht oder
Anspruch – und die 77-jährige Politikwissenschafterin landete zusammen
mit Parteivize Ralf Stegner auf dem letzten Platz in der
Mitgliederbefragung.
Ein
Teil der unmodernen Anmutung der SPD ist dem Umstand geschuldet, dass
die Partei, trotz aller Quotierung und allen frauenpolitischen
Bemühungen, immer noch eine Organisation der Männerseilschaften ist. Die
Genossen schickten über Jahrzehnte Frauen gegeneinander ins Rennen, und
kooptierten dort, wo sie es konnten, die bravsten Mädchen in ihre
Vorstände. Gerhard Schröder bezeichnete Familienpolitik als «Gedöns»,
und die äusserst erfolgreiche Familienministerin Renate Schmidt ging
nach der Bundestagswahl 2005 ohne jede Diskussion ihres Ressorts
verlustig – die SPD hatte es nicht so wichtig gefunden. Diese Art von
Prioritätensetzung teilt sich dem Publikum durchaus mit.
Auch
die inzwischen bereits wieder zurückgetretene Parteivorsitzende Andrea
Nahles war offenbar kein «role model» für jüngere Wählerinnen. Die
strebten in den vergangenen Jahren entweder zur Union der
Bundeskanzlerin oder zu den Grünen.
Anschaulich
machte das Verfahren zur Vorsitzendenfindung auch die Tabuthemen, die
die SPD dringend erörtern müsste, vor denen sie aber zurückschreckt. Das
vielleicht wichtigste: Wie viele Flüchtlinge kann Deutschland aufnehmen
und integrieren? Und vor allem: Wie gut funktioniert die Integration?
Wie verhindert man die Bildung von Parallelgesellschaften, unter denen
die klassische ehemalige SPD-Klientel in den traditionellen
Arbeiterstadtteilen am meisten zu leiden hat?
Das Beispiel Sarrazin
Der
frühere Berliner Finanzsenator und Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin
hatte der SPD und ihren Wählern mit seinem Bestseller «Deutschland
schafft sich ab» schon 2010 ein provozierendes Gesprächsangebot gemacht.
Doch statt sich mit Sarrazin auseinanderzusetzen – und seine kruderen
Thesen dabei souverän zu widerlegen –, versucht die Partei seit Jahren
erfolglos, ihr ungeliebtes Mitglied auszuschliessen. Dabei muss man
Sarrazin wenigstens darin recht geben, dass die SPD in der Wählergunst
vermutlich anders dastünde, wenn sie seit zehn Jahren konstruktiv über
Migration diskutiert hätte. Und wenn sie aus dieser Debatte
Schlussfolgerungen für Schulen und Quartiere gezogen hätte, für die
Durchsetzung von Gleichberechtigung und zeitgemässe Religionsausübung.
Während
der SPD-Bewerbertournee beklagte der niedersächsische Innenminister
Boris Pistorius, es gebe keinen Raum für eine Debatte über innere
Sicherheit, Migrationspolitik, erfolgreiche Integration oder
Extremismus. Doch als Kandidat hätte er natürlich das Wort zu diesen
Fragen ergreifen können. Wie schon viel zu oft wurde mit der
Beschwörungsformel «Geschlossenheit» die dringend notwendige Kritik am
Status quo verhindert – doch wenn alles richtig gewesen wäre, was die
Parteiführung in den vergangenen Jahren (oft einstimmig) beschlossen
hat, dann wäre die SPD ja nicht in einem derart elenden Zustand.
Manchmal überkommt die Betrachterin das Gefühl, den Sozialdemokraten
wäre nur noch zu helfen, indem man ihre Partei auflöste und neu gründete. Manche Genossen raunen, dass der ehemalige Parteivorsitzende
Sigmar Gabriel so etwas im Schilde führe. Und manche verbinden damit
sogar Hoffnung. Doch war es Gabriel, der zwei Kanzlerkandidaten
verschliss, ohne jemals selbst anzutreten; Gabriel, der mit seiner
Wankelmütigkeit und seiner Haltlosigkeit nach links die SPD sieben Jahre
lang in die Bedeutungslosigkeit führte – genau dorthin, wo sie jetzt
ist.
Nota. - Das könnte man an dieser oder jenen Stelle noch etwas erläutern; aber über einen Satz, dem ich nicht zustimmen kann, bin ich nicht gestolpert.
Frau Gaschke ist Stammautorin bei der Welt. Warum schreibt sie dort nicht so gute Beiträge? Lässt man sie nicht?
JE
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