„Gründe, Papisten gleichermaßen wie alle anderen zu tolerieren“: Dass John Locke eine Liste mit diesem Titel zu Papier gebracht hat, ist im Lichte von seinen gedruckten Schriften eine große Überraschung.
aus FAZ.NET, 17.11.2019
Die Schule von Cambridge
Politische Theorie steht immer im Kampf: Mit Quentin Skinners Aufsatz über Sinn und Verstehen in der Ideengeschichte begann 1969 die Erfolgsgeschichte der Schule von Cambridge.
Von Alexander Gallus
Quentin Skinner ist ein höflicher Mensch. Interviews eröffnet er in der Regel mit einem großen Dank dafür, dass ihm und seinen Auffassungen ein so großes Interesse entgegengebracht wird. Man erlebt die Bescheidenheit und Gelassenheit des vielleicht bedeutendsten Ideenhistorikers unserer Zeit. Als Stürmer und Dränger hatte Skinner seine Karriere begonnen. Im Jahr 1969, gerade einmal 28 Jahre alt, veröffentlichte er in der Zeitschrift „History & Theory“ seinen bis heute berühmtesten Aufsatz: „Meaning and Understanding in the History of Ideas“.
Der 1940 in Lancashire geborene Historiker hatte sein Studium in Cambridge mit Auszeichnung abgeschlossen und lehrte dort als Fellow am Christ’s College, ohne eine Doktorarbeit vorgelegt zu haben. Das hielt ihn nicht davon ab, in seinem auch heute noch erstaunlich frisch anmutenden Meisterstück mal mit vitaler Verve, mal mit feiner Ironie gegen die Granden seiner Disziplin von Arthur Lovejoy bis Leo Strauss zu streiten. Er stellte den wissenschaftlichen Charakter ihrer Schriften in Abrede und trat ihnen als Entmythologisierer entgegen.
Vier gängige Prämissen der Ideengeschichte verwies Skinner in seinem methodologischen Schlüsseltext ins Reich der Mythologien. Die „mythology of doctrines“ projiziere Lehren der Gegenwart in die Geschichte zurück und erzeuge Anachronismen. Noch schlimmer ist es, wenn der Historiker gleich von zeitlosen Fragen und Werten ausgeht („perennialism“). Denker früherer Zeiten würden nach dem Vorhandensein entsprechender „Elementarideen“ – die Lovejoy zu einer Art Periodensystem verband – befragt, dafür gelobt oder auch gerügt, falls das obligatorische Thema in ihrem Korpus partout nicht auffindbar sei.
War Locke mit dreißig noch nicht Locke?
Zweitens verleite die „mythology of
coherence“ dazu, aus verstreuten Bemerkungen politischer Denker eine
logisch geschlossene Theorie zu formen, mithin einen ebenso
widersprüchlichen wie wandlungsreichen Denkprozess in ein Schema zu
pressen. Dies führe etwa dazu, aus John Locke einen durch und durch
liberalen Theoretiker zu machen, ohne konservative und autoritäre
Positionen seiner Frühschriften zu berücksichtigen. „Locke mit dreißig
ist offenbar noch nicht ,Locke‘“.
Drittens identifizierte Skinner eine „mythology of prolepsis“, die ebenso wie der vierte Denkfehler des „parochialism“ auf die Konstruktion von historischer Kontinuität ziele. Statt sich auf die Eigenlogik geschichtlicher Ideenwelten einzulassen, würden mit leichter Feder Vorwegnahmen von Späterem, insbesondere dem, was wir für „modern“ halten, schraffiert. So avancierten, um ein in Skinners Augen besonders krudes Beispiel für diese Mythenbildung zu nennen, Platon und Rousseau zu Vorläufern eines Totalitarismus, der erst ein Phänomen des zwanzigsten Jahrhunderts war.
Drittens identifizierte Skinner eine „mythology of prolepsis“, die ebenso wie der vierte Denkfehler des „parochialism“ auf die Konstruktion von historischer Kontinuität ziele. Statt sich auf die Eigenlogik geschichtlicher Ideenwelten einzulassen, würden mit leichter Feder Vorwegnahmen von Späterem, insbesondere dem, was wir für „modern“ halten, schraffiert. So avancierten, um ein in Skinners Augen besonders krudes Beispiel für diese Mythenbildung zu nennen, Platon und Rousseau zu Vorläufern eines Totalitarismus, der erst ein Phänomen des zwanzigsten Jahrhunderts war.
Richtete sich Skinner in diesem Fall gegen Karl Popper,
so kritisierte er ebenso Ernst Cassirer, der einst frohlockte, wir
stünden mit Niccolò Machiavelli „an der Schwelle zur Moderne“. Skinner
erkannte hier eine „etwas naive Sicht von historischer Kausalität“,
während die Frage, „was Machiavellis Schriften bewirken oder aussagen
sollten“, unbeantwortet bleibe. Bei solchen Interpretationen regiere die
Teleologie, entscheide also erst die Zukunft über die Bedeutsamkeit
vergangenen Denkens und Handelns.
Im Anfang war die Kraft
Was setzte Skinner der aus seiner Sicht von
Mythen durchzogenen „traditionellen“ Ideengeschichtsschreibung
entgegen? Unter Rückgriff auf die philosophische Theorie des Sprechakts
entfaltete Skinner die Grundauffassung, dass die Texte politischer
Theoretiker in spezifischen Konstellationen entstanden und zu würdigen
seien. Es genüge nicht, die bloßen Aussagen oder Wortbedeutungen eines
einzelnen Textes zu verstehen. Vielmehr gelte es, seine Intention und
Kraft („force“) zu ermitteln, die er in einer Situation des politischen
Deutungskampfes als Beitrag zu spezifischen Fragen und angesichts damals
geltender Konventionen des Sagbaren hatte oder haben wollte.
„Wir müssen also nicht nur erfassen, was die Menschen sagen, sondern auch, was sie tun, indem sie es sagen“, lautet eine zentrale These Skinners. Sprachliche Äußerungen haben für ihn eine Handlungskomponente. „Meaning and Understanding“ gilt in der Rückschau als zentrales programmatisches Dokument der bald sogenannten „Cambridge School“, die sich allerdings nicht auf einen Gründungsakt samt Leitpapier zurückführen lässt. Sie ging aus verschiedenen Initiativen hervor, die Ideengeschichte zu reformieren, ja, zu „revolutionieren“, wie ihre Verfechter und Verächter gleichermaßen notierten.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze wird das Cambridge-Setting durch die beiden Leitformeln der Historisierung und Kontextualisierung geprägt. Erst durch die Rekonstruktion von Wortgebrauchszusammenhängen und sprachlichen Regelwerken unter Berücksichtigung vielfältiger zeitgenössischer Texte könnten selbst die Traktate der größten Geister angemessen historisch situiert werden. Eine solche Intellectual History lässt Akteure lebendig werden, legt Macht- und Deutungsansprüche frei, erschließt Medien und Öffentlichkeit als Resonanzräume politischer Ideen und schätzt so deren Wirkmächtigkeit in einem historisch klar zu benennenden moralisch-normativen Rahmen ab.
„Wir müssen also nicht nur erfassen, was die Menschen sagen, sondern auch, was sie tun, indem sie es sagen“, lautet eine zentrale These Skinners. Sprachliche Äußerungen haben für ihn eine Handlungskomponente. „Meaning and Understanding“ gilt in der Rückschau als zentrales programmatisches Dokument der bald sogenannten „Cambridge School“, die sich allerdings nicht auf einen Gründungsakt samt Leitpapier zurückführen lässt. Sie ging aus verschiedenen Initiativen hervor, die Ideengeschichte zu reformieren, ja, zu „revolutionieren“, wie ihre Verfechter und Verächter gleichermaßen notierten.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze wird das Cambridge-Setting durch die beiden Leitformeln der Historisierung und Kontextualisierung geprägt. Erst durch die Rekonstruktion von Wortgebrauchszusammenhängen und sprachlichen Regelwerken unter Berücksichtigung vielfältiger zeitgenössischer Texte könnten selbst die Traktate der größten Geister angemessen historisch situiert werden. Eine solche Intellectual History lässt Akteure lebendig werden, legt Macht- und Deutungsansprüche frei, erschließt Medien und Öffentlichkeit als Resonanzräume politischer Ideen und schätzt so deren Wirkmächtigkeit in einem historisch klar zu benennenden moralisch-normativen Rahmen ab.
Der Beweis des Puddings
Die Cambridge-Schule blieb nicht ohne Kritik: Selbst Ideenhistoriker, die schon 1969 Gefallen an Skinners Methodenset fanden, forderten von ihm, dem alten englischen Sprichwort „the proof of the pudding is in the eating“ zu folgen und die Umsetzbarkeit seines Ansatzes an konkreten Beispielen zu zeigen. 1978 lieferte Skinner mit „The Foundations of Modern Political Thought“ ein zweibändiges Opus magnum zur Renaissance und Reformationszeit, in dem er nicht zuletzt Machiavellis Denken und Wirken durch Berücksichtigung vergessener Autoren aus der zweiten und dritten Reihe im zeitgenössischen Diskurs lokalisierte.
1996 folgte mit „Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes“ ein zweites Hauptwerk zu einem weiteren Leib-und-Magen-Autor. Skinner konfrontiert Thomas Hobbes mit anderen Schriftstellern der Zeit des englischen Bürgerkriegs und zeigt, wie Hobbes bemüht war, namentlich die konkurrierenden Ansichten zu entkräften, die eine Theorie der Freiheit mit antiken Traditionen begründeten. In seinen Frankfurter Adorno-Vorlesungen zu Hobbes unterstrich Skinner 2005 erneut seine Grundannahme, „dass selbst die abstraktesten Werke der politischen Theorie nie über dem Kampfgeschehen stehen; sie sind stets Teil des Kampfes selbst“.
Dieses Ansinnen, intellektuellen Deutungsstreit im strikten zeitlichen Rahmen zu halten, brachte Skinner einen zusätzlichen Kritikpunkt ein: jenen eines hermetisch anmutenden „Antiquarismus“ ohne Gegenwartsrelevanz. Schon 1969 antizipierte er diesen Vorwurf und suchte aus der Prämisse, „dass sich die klassischen Texte keineswegs mit unseren Fragen beschäftigen, sondern allein mit ihren eigenen“, ein befreiendes Moment abzuleiten: die Anregung zum Selbstdenken jenseits – vermeintlicher – philosophischer Lehren und Weisheiten. Seine Methode fördere die „grundlegende Vielfalt sinnvoller moralischer Annahmen und politischer Auffassungen“ zutage.
Antiquarisch heißt auch kritisch
Dieses Argument ließ noch Jahrzehnte später
der wahrlich nicht als Kontextualist bekannte Philosoph Axel Honneth
gelten. Er hielt 2008 bei der Verleihung des Bielefelder
Wissenschaftspreises die Laudatio auf Skinner und gestand der
„,antiquarischen‘ Geschichtsbetrachtung einen kritischen, ja
emanzipatorischen Sinn“ zu. Sie erwecke vielfältige Denkmöglichkeiten
vergangener Zeiten in ihrer Fremdheit wieder zum Leben und befreie uns
so von „undurchschauten gedanklichen Fixierungen der Gegenwart“.
Eine weitere regelmäßig geäußerte Kritik, der Cambridger Ansatz kappe die Möglichkeit epochenübergreifender Vergleiche und Verflechtungen von Ideen und schätze außerdem den philosophischen Gehalt politik- und gesellschaftstheoretischer Schriften gering, war damit freilich nicht ausgeräumt. Der Sache nach ist das auch kaum möglich, da der entstehungszeitliche Fokus nun einmal der Witz des Ansatzes ist. So heilsam das Cambridger Antidot gegen allzu lineare Erzählungen ist: Die Kappung diachroner Betrachtungen erscheint als eine nicht leicht von der Hand zu weisende Schwäche.
Gerade der spätere Skinner konnte seinem strikt historisierenden Ansatz jedoch schon einmal untreu werden, wenn er ein ihm am Herzen liegendes normatives Projekt von aktueller Strahlkraft ausmachte. Das gilt für seine Auseinandersetzung mit dem Republikanismus ebenso wie mit dem Freiheitsbegriff. Schwärmt er von „neo-römischer Freiheit“ und einem gemeinschaftlichen Bürgerideal der Selbstregierung, durchschreitet er bisweilen ganz lässig die Zeiten, übt Kritik zumal an der britischen Monarchie und überkommenen royalen Prärogativrechten, aber auch an so mancher Demokratie, deren Bürger angesichts zum Teil schwer durchschaubarer Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse und im Lichte eines römisch-republikanischen Freiheitsideals nicht über den Status von „Sklaven“ hinausgelangt seien. Hier zeichnet sich ein Kampf ab, der sich in Skinners Kopf abspielt, zwischen dem Zeitgenossen und Philosophen auf der einen und dem Methodiker der Historisierung auf der anderen Seite.
Ungeachtet aller externen und internen Kritik entfaltete die Cambridge-Schule einen enormen Einfluss in der englischsprachigen Welt. Zeitschriften wie „Modern Intellectual History“ oder „Intellectual History Review“ und nicht zuletzt die von Skinner ins Leben gerufene Buchreihe „Ideas in Context“ sorgten für die strukturelle Untermauerung des Paradigmas. Für einen Kritiker des Kontextualismus wie Peter Gordon aus Harvard hat die Rezeption der Schule mittlerweile den Status der Heiligenverehrung erreicht.
Eine weitere regelmäßig geäußerte Kritik, der Cambridger Ansatz kappe die Möglichkeit epochenübergreifender Vergleiche und Verflechtungen von Ideen und schätze außerdem den philosophischen Gehalt politik- und gesellschaftstheoretischer Schriften gering, war damit freilich nicht ausgeräumt. Der Sache nach ist das auch kaum möglich, da der entstehungszeitliche Fokus nun einmal der Witz des Ansatzes ist. So heilsam das Cambridger Antidot gegen allzu lineare Erzählungen ist: Die Kappung diachroner Betrachtungen erscheint als eine nicht leicht von der Hand zu weisende Schwäche.
Gerade der spätere Skinner konnte seinem strikt historisierenden Ansatz jedoch schon einmal untreu werden, wenn er ein ihm am Herzen liegendes normatives Projekt von aktueller Strahlkraft ausmachte. Das gilt für seine Auseinandersetzung mit dem Republikanismus ebenso wie mit dem Freiheitsbegriff. Schwärmt er von „neo-römischer Freiheit“ und einem gemeinschaftlichen Bürgerideal der Selbstregierung, durchschreitet er bisweilen ganz lässig die Zeiten, übt Kritik zumal an der britischen Monarchie und überkommenen royalen Prärogativrechten, aber auch an so mancher Demokratie, deren Bürger angesichts zum Teil schwer durchschaubarer Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse und im Lichte eines römisch-republikanischen Freiheitsideals nicht über den Status von „Sklaven“ hinausgelangt seien. Hier zeichnet sich ein Kampf ab, der sich in Skinners Kopf abspielt, zwischen dem Zeitgenossen und Philosophen auf der einen und dem Methodiker der Historisierung auf der anderen Seite.
Ungeachtet aller externen und internen Kritik entfaltete die Cambridge-Schule einen enormen Einfluss in der englischsprachigen Welt. Zeitschriften wie „Modern Intellectual History“ oder „Intellectual History Review“ und nicht zuletzt die von Skinner ins Leben gerufene Buchreihe „Ideas in Context“ sorgten für die strukturelle Untermauerung des Paradigmas. Für einen Kritiker des Kontextualismus wie Peter Gordon aus Harvard hat die Rezeption der Schule mittlerweile den Status der Heiligenverehrung erreicht.
In Deutschland liest man langsamer
Was in den Vereinigten Staaten und
Großbritannien schon seit einer Weile als neue „ideengeschichtliche
Orthodoxie“ gilt, wie Andreas Mahler und Martin Mulsow in ihrer Edition
„Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte“ konstatieren,
wird in Deutschland nur mit anhaltendem Zögern rezipiert. Insbesondere
die politikwissenschaftliche Ideengeschichte zeigt eine merkwürdige
Scheu, sich als historische Disziplin zu definieren. Dabei liegt hierin
die Chance, der seit Jahrzehnten vitalen Intellectual History, wie sie
Skinner in seiner „muskulösen Polemik“ (Gordon) einst so kraftvoll
forderte, auch in Deutschland einen festen Ort zu geben.
Großes Potential hält die Untersuchung der bislang bestenfalls punktuell behandelten Frage bereit, wie eine Ideengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts anhand der Prämissen der Cambridge-Schule zu schreiben sei. Lässt sich das Modell, wie es Skinner 1969 in Reinform präsentierte, auf die Zeitgeschichte überhaupt anwenden? Allein angesichts einer expansiven Medien- und Verlagslandschaft erscheint es schwierig, sprachliche Korridore und öffentliche Räume so präzise zu vermessen, wie es Skinner für Spätmittelalter und Frühe Neuzeit getan hat.
Wer solchen Fragen nachgeht, mag nebenbei etwas gegen das in Deutschland besonders ausgeprägte Abgrenzungsverhalten zwischen Politik- und Geschichtswissenschaft tun. Eine theoretisch-methodisch ambitionierte Politikwissenschaft könnte sich mit Historikern zusammentun, die meist in sympathischer Weise fallorientiert arbeiten und einer Art Basisversion der Cambridge-Schule folgen: Für sie ist es Alltag, neben politiktheoretischen Hauptschriften auch kleinere Traktate, Briefe, Tagebücher und von Archivstaub bedeckte Quellen zu lesen, um so im Idealfall tiefere Deutungs- und Motivebenen freizulegen.
In anderen Ländern ermöglicht die Intellectual History schon seit längerem den interdisziplinären Brückenschlag. Skinner selbst wirkte in Cambridge zunächst von 1979 an als Professor für Politikwissenschaft, bevor er 1998 den Königlichen Lehrstuhl für moderne Geschichte bestieg. Historiker und Politikwissenschaftler dort und anderswo rühmen sich gleichermaßen, Skinner in ihren Reihen zu wissen. Sein fünfzig Jahre alter Aufsatz bleibt ein nahezu alterungsbeständiger Fixpunkt einer ganzen Schule, die untrennbar mit seinem Namen verbunden ist.
Kein Zweifel: Ein solcher Autor kann auch sein nächstes Interview mit höflicher Gelassenheit beginnen. Den zeitlos-kanonischen Charakter seines Aufsatzes wird er zwar bestreiten müssen, wenn er dem eigenen Anspruch gerecht werden will. Von ihm deswegen gleich eine Revision seines Textes in historisierender Absicht zu fordern wäre aber vielleicht etwas zu kühn.
Großes Potential hält die Untersuchung der bislang bestenfalls punktuell behandelten Frage bereit, wie eine Ideengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts anhand der Prämissen der Cambridge-Schule zu schreiben sei. Lässt sich das Modell, wie es Skinner 1969 in Reinform präsentierte, auf die Zeitgeschichte überhaupt anwenden? Allein angesichts einer expansiven Medien- und Verlagslandschaft erscheint es schwierig, sprachliche Korridore und öffentliche Räume so präzise zu vermessen, wie es Skinner für Spätmittelalter und Frühe Neuzeit getan hat.
Wer solchen Fragen nachgeht, mag nebenbei etwas gegen das in Deutschland besonders ausgeprägte Abgrenzungsverhalten zwischen Politik- und Geschichtswissenschaft tun. Eine theoretisch-methodisch ambitionierte Politikwissenschaft könnte sich mit Historikern zusammentun, die meist in sympathischer Weise fallorientiert arbeiten und einer Art Basisversion der Cambridge-Schule folgen: Für sie ist es Alltag, neben politiktheoretischen Hauptschriften auch kleinere Traktate, Briefe, Tagebücher und von Archivstaub bedeckte Quellen zu lesen, um so im Idealfall tiefere Deutungs- und Motivebenen freizulegen.
In anderen Ländern ermöglicht die Intellectual History schon seit längerem den interdisziplinären Brückenschlag. Skinner selbst wirkte in Cambridge zunächst von 1979 an als Professor für Politikwissenschaft, bevor er 1998 den Königlichen Lehrstuhl für moderne Geschichte bestieg. Historiker und Politikwissenschaftler dort und anderswo rühmen sich gleichermaßen, Skinner in ihren Reihen zu wissen. Sein fünfzig Jahre alter Aufsatz bleibt ein nahezu alterungsbeständiger Fixpunkt einer ganzen Schule, die untrennbar mit seinem Namen verbunden ist.
Kein Zweifel: Ein solcher Autor kann auch sein nächstes Interview mit höflicher Gelassenheit beginnen. Den zeitlos-kanonischen Charakter seines Aufsatzes wird er zwar bestreiten müssen, wenn er dem eigenen Anspruch gerecht werden will. Von ihm deswegen gleich eine Revision seines Textes in historisierender Absicht zu fordern wäre aber vielleicht etwas zu kühn.
Nota. - Schnee
von gestern wird man diese vorgebliche Revolution in der
Ideengeschichtsschreibung nennen. Doch wenn man genauer hinsieht, ist es
noch immer aktuell - sofern man es ernstnimmt. Nämlich so, dass die
Ideen eines Zeitalters nicht nur im Längsschnitt - diakronisch -,
sondern auch im Querschnitt - synchronisch - mit einander verknüpft
sind, als hätten sie 'Haken und Ösen', sondern verwandt, als hätten sie einen gemeinsamen Stammbaum ("Intention & Kraft"). Aktuell ist immer nur der jeweilige Jahresring, aber der Stamm ist gewachsen.
Das ist nicht bloß horizontale 'Wechselwirkung', sondern genetische Be-
dingtheit. Bedingen heißt auch antreiben; oder doch, dem Antrieb, der
vorausgesetzt ist, die Richtung vorschreiben.
Dies
gesagt habend, schließe ich an: Die Ideengeschichte des zwanzigsten
Jahrhunderts, und nicht nur die politische, ist nicht zu verstehen, wenn
man sie nicht - von den einen erhofft, von den andern befürchtet - im
Zeichen der Weltrevolution
versteht; aktuell wenigstens während seiner ersten Hälfte, doch
mittelbar durch die Folgen ihres Scheiterns, die seither unsere
Geschichte bestimmen.
Ich stelle mir aber vor, dass Quentin Skinner diesen Schritt nicht würde mitgehen wollen.
PS. - Hinzugefügt sei, dass Cambridge in den 60er Jahren zugleich, als Pendant zur Pariser Schule der Annales, zum Sitz einer "quantifizierenden", Empirie und Ideen ("Mentalitäten") systematisch synchron verarbeitende Sozialgeschichte geworden ist.
JE
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