Nach dem Berliner Tagesspiegel entdeckt zum dreißigsten Jahrestag heute die Süddeutsche, von der man das ebenfalls nicht erwartet hätte, die wie eh und je prekäre Stellung Deutschlands in der Welt. Es wurde aber auch Zeit, dass die zum öffentlichen Thema wurde! Dass sich selbstgenügsame Lau- benpieper heute als deutsche Patrioten aufspielen und damit zweistellige Wahlergebnisse erzielen können, ist der Preis für die Drückebergerei. Nicht lamentierende Lichterketten sind jetzt angezeigt, sondern positive action.
JE
aus süddeutsche.de, 9. 11, 2019
von Stefan Kornelius
... Die europäische Ordnung nach dem Fall der Mauer unterscheidet sich in ihrem Kern nicht von der (west-)europäischen Sicherheitsarchitektur im Kalten Krieg, wo die Nato-Mitglieder Schuldscheine an Washington ausgestellt und im Gegenzug der USA ein gewaltiges Einflussgebiet eröffnet haben. Diese Sphäre übersteigt das Militärische und ist mit all ihrem politischen, wirtschaftlichen, technologischen und kulturellen Erfolg zum amerikanische Jahrhundert geronnen.
Soll es damit nun vorbei sein? Erlebt Europa eine
dieser bitter ironischen Wendungen der Geschichte, wo ausgerechnet zum
30. Jahrestag des Mauerfalls
und zum 70. Geburtstag der Nato das Bild der eigenen Sicherheit grell
beleuchtet und als Fälschung entlarvt wird? Die Antwort auf derart
wuchtige Fragen muss erfahrungsgemäß differenzierter ausfallen, als der
französische Präsident es offensichtlich zu artikulieren in der Lage
war. Natürlich hat sich die europäische Sicherheitsarchitektur
weiterentwickelt, natürlich haben sich das Verständnis von Sicherheit
und die Bedrohungsszenarien drastisch verändert. Die Staaten
Mitteleuropas haben ihre neue Souveränität genutzt und in freier
Entscheidung den sicherheitspolitischen Schutz durch die Nato gesucht.
Die Erweiterung von EU und Nato diente vor allem der Erweiterung und
Festigung der Grundprinzipien der Demokratie - sicherheitspolitisch
ein Geniestreich.
Aber
diese neue Architektur hatte zwei Konstruktionsfehler, die heute
Zweifel an der Stabilität des Gebildes wecken. Um die Vision eines
geeinten und freien Europas zu erfüllen, müsste die bis ins Zeitalter
der Kirchenspaltung wurzelnde Teilung zwischen West und Ost aufgehoben
werden. Bemühungen zur Einbindung Russlands gab es zwar reichlich, aber
am Ende blieben die Chancen der Neunziger- und Nullerjahre ungenutzt -
von beiden Seiten wohlgemerkt.
Es brauchte Donald Trump, um den Europäern ihren Schuldenstand klarzumachen
Der
zweite Fehler lag in der Vorstellung begründet, die USA würden auf ewig
den sicherheitspolitischen Gläubiger geben. Da unterlagen die Europäer
und gerade vor allem die der Sicherheitspolitik entwöhnten Deutschen
einem wuchtigen Trugschluss: Wachstum, Export, Wohlstand, innere
Stabilität können auf die eigene Rechnung gehen, Abwehr der modernen
Bedrohungen aber nicht. Es brauchte die Brutalität eines Donald Trump,
um den Europäern ihren Schuldenstand klarzumachen. Emmanuel Macrons
panische Reaktion hallt besonders gut im sicherheitspolitischen
Hohlkörper Europa. In sich zusammengefallen ist der aber noch
lange nicht.
Vor
allem die Deutschen lebten zu lange in der Vorstellung, die Welt werde
sich schon nach ihrem Einheimischenmodell entwickeln: umgeben von
Freunden, aller Sorgen entledigt. Drei Dekaden nach dem Epochenbruch
wird schmerzlich bewusst, dass Ordnungsmodelle niemals auf Dauer
bestehen. Frieden und Stabilität lassen sich nicht ersitzen, auch wenn
der glückliche Weg der Geschichte dieses Land vom Frontstaat im Kalten
Krieg in die Mitte eines friedlichen Europas geführt hat.
Nota. - Eine kleine Anmerkung: Die Scheidung Europas in Westen und Osten auf das Schisma von 1054 zurückzuführen, ist oberflächlich. Wenn es so wäre, hätten Balten, Litauer, Polen, Böhmen, Ungarn und Slowenen nie zum Osten gehört, sondern zum Westen. Die historische Scheidelinie war vielmehr Deutschland: weil es sich und den andern stets als die Mitte Europas vorkam.
JE
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