Sonntag, 14. März 2021

Die Politik hat versagt!

 
aus spektrum.de

Wann man von Versagen sprechen kann
In der Coronavirus-Pandemie wird Politikern oft vorgeworfen, versagt zu haben. Wann ist das berechtigt und was hat man eigentlich davon? Eine Kolumne.


von Matthias Warkus

Am 9. März wurde Ralph Brinkhaus bei Markus Lanz ungehalten. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion klagte darüber, dass seiner Partei im Umgang mit der Coronavirus-Pandemie immer wieder »Versagen« vorgeworfen worden war. Zuvor hatte Brinkhaus in der Sendung scharfe Kritik von allen Seiten einstecken müssen. Das Wort »Staatsversagen« macht bereits seit Woche die Runde. Jasper von Altenbockum hat neulich in der FAZ eine Wortwahl, die keine andere Wertung kenne, als alles Mögliche als »Desaster« und »Versagen« zu bezeichnen, scharf angegriffen.

»Versagen«, »Scheitern«, »Fehlschlagen« sind philosophisch betrachtet Vokabeln der Handlungstheorie, bei der es darum geht, welche Ereignisse in der Welt sich Menschen als absichtliches Tun zurechnen lassen und nach welchen Kriterien sie zu bewerten sind. Eine grundlegende Unterscheidung dabei: Ereignisse, die darin bestehen, dass ein Mensch in irgendeiner Weise aktiv wird, sind nicht immer Handlungen. Manche sind unabsichtliches Verhalten – zum Beispiel Niesen. Handlungen hingegen hätte der Handelnde auch unterlassen können, man kann sie ihm zurechnen und nach ihrem Erfolg beurteilen. Das hängt aber auch davon ab, welchen Zweck man der Handlung unterstellt.

Angenommen, Sie helfen bei einem Umzug, und dabei muss ein Transporter durch eine enge Toreinfahrt manövriert werden. Sie erklären sich dazu bereit (obwohl auch noch andere da sind, die es machen könnten), setzen sich ans Steuer und verschätzen sich. Am Ende steht der Transporter zwar im Hof, aber ein Spiegel ist ab und die Seite ist völlig zerkratzt. Das Manöver ist gescheitert. Sie haben als Fahrer versagt.

Natürlich könnten Sie jetzt sagen, der Zweck des Handelns sei doch erreicht worden, wenn auch um einen Preis. Es gibt vielleicht sehr eilige Umzüge, bei denen man einen abgefahrenen Außenspiegel bereit ist hinzunehmen, aber sicher nicht viele. In der Regel würden die anderen Beteiligten (insbesondere jene, die den Transporter gemietet haben!) jedenfalls protestieren und entgegenhalten, es sei ja wohl klar, dass der Zweck dieses Umparkmanövers nicht nur sei, dass hinterher der Sprinter im Hof steht, sondern selbstverständlich auch, dass er unbeschadet dort ankommt.

Wer hat was falsch gemacht?

Bereits eine einzelne Handlung eines einzelnen Menschen ist also nur dann sinnvoll nach Erfolg oder Misserfolg zu bewerten, wenn Einigkeit über den mit der Handlung angestrebten Zweck besteht. Das ist schon schwer genug. Wenn es um Handlungen geht, bei denen jemand als Vertreter eines größeren institutionellen Zusammenhangs auftritt, kommen noch Schwierigkeiten der Zurechnung dazu. Wenn der Schatzmeister eines Vereins, der unter verschiedenen Vorständen alles Mögliche ausprobiert hat, jahrelang immer schlechtere Ergebnisse meldet und zum Schluss erklären muss, dass die Bude vor der Zahlungsunfähigkeit steht – dann hat eine ganze Reihe verschiedener Menschen mit demselben Zweck gehandelt (nämlich: die Vereinsfinanzen zu sanieren). Aber sind alle ihre Handlungen in diesem Zusammenhang fehlgeschlagen, und wenn nicht, welche?

Brücken oder Schiffe können sogar versagen, obwohl niemand etwas falsch gemacht hat

Es ist sicher kein Zufall, dass man bei komplizierten Gemengelagen lieber davon redet, dass etwas (zu Beispiel eine »Strategie«) »scheitert« oder »versagt« wie ein gestrandetes Schiff oder eine überlastete Brücke, weil im Gegensatz zum »Fehlschlag« weniger stark impliziert wird, es habe eine einzelne falsche Handlung gegeben. Brücken oder Schiffe können schließlich sogar versagen, obwohl niemand etwas falsch gemacht hat, beispielsweise, wenn sie einer bei ihrem Entwurf nicht vorgesehenen Belastung ausgesetzt werden. Aber: Selbst wenn vielleicht niemand einen Fehler gemacht hat, hat man sich immer noch – einzeln oder gemeinsam – geirrt, nämlich bei der Vermutung, die außergewöhnliche Belastung würde niemals eintreten.

Will man beurteilen, ob irgendwer in der Pandemie »versagt« hat, muss man sich also einig darüber sein, für welche Handlungen welcher Menschen diese Person in welcher Weise verantwortlich ist, welche Zwecke man diesen Handlungen unterstellen kann und wie sich die Folgen der Handlungen zu den Zwecken verhalten. Wenn man das alles geklärt hat – dann ist es, wie ich finde, eigentlich nicht mehr wichtig, ob man jetzt das Etikett »Versagen« auf jemanden klebt oder nicht, weil man dann weiß, was man eigentlich hätte tun müssen. Der Vorwurf, »auf ganzer Linie gescheitert« zu sein, bedeutet nur allzu häufig: »Ich hätte es gerne anders gehabt, aber fragen Sie mich nicht, wie.«

 

Nota. - Der Zweck war offenbar der, die Folgen der Pandemie, die niemand vorhergesehen hat und zu der noch keinerlei Erfahrungswerte vorlagen, so gering wie möglich zu halten.

Welche Folgen? Die für die Gesundheit natürlich. Doch welche insbesonders - Ansteckungen, Erkrankungen, Todesfälle? 

Ausgefallene Arbeitstage zählen unmittelbar nicht dazu. Die gehören schon zu den wirt-schaftlichen Folgen. Wirtschaftliche Folgen in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht oder Verluste für die Einzelnen? Das müsste man vorausberechnen können, was mangels an Erfahrungdaten so gut wie unmöglich ist. Doch wenn man es könnte, wie wägt man sie gegeneinander ab? 

Das Abwägen wäre schon bei den gesundheitlichen Folgen erforderlich. Das ist keine wissen-schaftlich vorab berechenbare Angelegenheit mehr, sondern eine politische, bei der gesamt-gesellschaftliche Gesichtspunkte eingreifen.

Aber schon gar die Abwägungen von gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen! 

Und wenn die zu allgemeiner Zufriedenheit gelungen ist, kommen die Jungen, deren Heran-wachsen belastet wird; kommen die Künstler, die womöglich ihre Karriere abbrechen müssen; kommen die kulturellen und geselligen Bedürfnise der großen Masse - kommen schließlich alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens in Betracht.

In der nachträglichen Auswertung, wenn alles überstanden ist, wird man eine Menge Ent-scheidungen finden, die sich als nicht zweckmäßig oder nur als unzeitig erwiesen haben. Doch herausfinden, welche anderen an ihrer Stelle in welchem Moment die besseren gewesen wären, ist ein ganz neues Kapitel...

Dann würde man sagen können, der eine hat geschlafen, der andere hat sich geirrt, und jener hat eine gebotene Sachentscheidung verhindert, weil er auf die Demoskopen geschielt hat. Das wäre keine fruchtbare Angelegenheit, doch in einer repräsentativen Demokratie ist sie unver-meidlich. Wozu wählte man Leute in verantwortlich Positionen, wenn sie nicht zur Verantwor-tung gezogen würden?

Doch einstweilen stecken wir noch mittendrin. Natürlich hat einer, der zu einem bestimmten Moment an seiner bestimmten Stelle einen besseren Vorschlag machen kann, nicht bloß das persönliche Recht, sondern die gesellschaftliche Pflicht, ihn vorzutragen und seine Stimme zu all den andern zuzufügen. 

Dass jeder, der sich in irgendeiner Weise unverhältnismäßig beeinträchtigt fühlt, sich auch zu Wort meldet, ist in einer repräsentativen Demokratie ebenfalls rechtens, denn vielleicht lässt sich seine Unbill noch mildern. Das soll er aber nicht mit der gesamtgesellschaftlichen Debatte verwechseln, die aufs große Ganze geht und in der es um die Verantwortung der Politik geht. Wie eine Politik umgesetzt wird, ist Sache der Verwaltung. Die ist in Deutschland seit langem das politische Problem par excellence, und das ist erst recht eine Sache der gewählten Vertre-ter. Auch das gehört in die öffentliche Debatte, doch im rechten Moment käme sie zu diesem Zeitpunkt nicht.

In der gegenwärtigen Kreuz- und Querdenkerei vermengen sich alle überhaupt denkbaren Meinungen, Forderungen und Reklamationen nur zu dem einen ununterscheidbaren Chor des Versagens. Das ist nicht nur unangemessen, sondern direkt schädlich, weil es so klingt, als hätten die Bürger keinerlei Einfluss darauf, ob die beschlossenen Maßnahmen ihre beabsich-tigte Wirkung tun können oder nicht. Den haben sie aber und den haben sie, ach, auch ge-nommen.

JE

 

 



Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

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