Donnerstag, 4. März 2021

Von wegen eingeknickt!

aus Tagesspiegel.de, 4. 3. 2021

So viel Öffnung ist es gar nicht
Eingeknickt? Von wegen! Die Kanzlerin hat bekommen, was sie wollte 
Nach dem Corona-Gipfel heißt es, Angela Merkel habe ihre Strategie geändert. Hat sie gar nicht. Sie ist wieder allen voraus und beweist Gespür. Ein Kommentar. 
 

Ein Plan, ein Plan - und nicht locker lassen. So sieht’s aus nach dem großen Corona-Gipfel, der auch Vorwahlkampfgetümmel war: Soll mal lieber keiner Markus Söder ärgern; der Bajuware kann immer noch holzen, so viel Süßholz er sonst auch immer raspelt. Wobei das ja eher in Richtung Grüne geht.

Diesmal war es SPD-Spitzenkandidat Olaf Scholz, auf den er zielte. Der solle sich mal nicht als Kanzler aufspielen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt... Nur dass Scholz nicht so „schlumpfig herumgrinsen“ soll - das hatte was. Nicht einmal die Genossen werden sich da ein Grinsen verbeißen können. Mehr zum Lachen ist aber auch nicht.

Kanzlerin Angela Merkel hat gar nicht wirklich eingelenkt, wie Öffnungswillige und nicht zuletzt Sozialdemokraten glauben machen wollen. Sie hat ihre 50er Inzidenz weitenteils gehalten bei all den verheißenen Öffnungsschritten.

Merkel wusste doch, dass sie die 35 nicht würde erhalten können. „No Covid“ ist schließlich vorbei. Aber mitsamt der Notbremse bleibt es bei einem ziemlich deutlichen Lockdown.

Wer zu viel verlangt, bekommt zum Schluss gar nichts

Dass alle Dämme brechen - nicht mit der Kanzlerin. Merkels Trick ist doch, dass sie nicht nur immer tief in Details geht (was die Leute so ermüdet, die mit ihr verhandeln, dass sie nicht immer alle aufpassen), sondern die dann auch regelt. So ist wieder ein Bürokratiemonster entstanden, bei dem am Ende die Leute auf der Straße bestenfalls wissen: unter 50 geht’s aufwärts.

Den Rest erarbeitet sich jede:r bei Bedarf, Friseur, Blumen, anderes. Und dass die Außengastronomie bald öffnet, wer glaubt das schon. Allerdings: Es war knapp.

Denn es ist wie bei Verhandlungen, die Rechtsanwälte mit Gläubigern führen - wer zu viel verlangt, bekommt zum Schluss gar nichts. Die Inzidenz 50 war das, worauf sich die Kanzlerin quasi mit den Bürgern verständigt hatte. So viele haben sich bemüht, dass sie vielerorts wahr wurde; das mitzutragen, war gewissermaßen das Angebot der Bevölkerung.

Als Merkel dann mit der 35 kam, also draufsattelte, gab es einen Riss. Oder jedenfalls fast. Denn sie ging zurück auf die 50 - und hat sie damit gerettet. Nur wird auch das nicht mehr ewig so gehen, dieses Große im Kleinen. ...


Nota. - "Die Bevölkerung", wird Volker Bouffier zitiert, habe "die Schnauze voll". Leben wir in einer Demoskopokratie? Unsere Demokratie ist repräsentativ und gottlob nicht plebiszitär. Wer regieren soll, wird regelmäßig alle vier Jahre neu entschieden. Wohlbemerkt: regieren. Das geschieht immer wieder mal gegen den momentanen Laut von Volkes Stimme. Damit das möglich ist, ist unsere Demokratie repräsentativ. Meint jemand, das Volk - "die Bevölkerung" - könne sich selbst viel besser regieren, oben bräuchte es nur einen, der die Kassenbücher führt? Das müsste er sagen, es ist ja nicht verboten, und mit dem Vorschlag müsste er zu Wahlen antreten. Denn das Grundgesetz wäre völlig neu zu schreiben.

Nein, das sagt ja nicht einmal die AfD, und auch ihre Wähler meinen das nicht im Ernst. Wenn gemeint ist, diese Regierung und die Länderregierungen hätten das derzeit geltende Grundge-setz zugunsten staatlicher Allmacht überdehnt und die Grundrechte verletzt, darf man auch dies sagen, und so ist es geschehen, die Gerichte sind wiederholt damit befasst worden, einige Vorschriften wurden aufgehoben. So sieht es die Verfassung vor und so wurde es gemacht. 

Eine andere Frage ist, ob dies oder das sachlich richtig war oder von Anfang an falsch - oder wenigstens auf die Dauer falsch werden muss. Das sind aber zwei verschiedene Fragen. 

Es konnte nicht alles das Klügste sein, Erfahrungen gab es nicht, Modelle beruhen auf sta-tistischen Werten, und die mussten erst einmal erhoben werden. Wie was zu interpretieren ist, muss die Wissenschaft mit den sie auszeichnenden kritischen Methoden herausfinden, und das geht nicht ohne Streit und der braucht seine Zeit. In einer freiheitlichen Ordnung findet dieser Streit in der Öffentlichkeit statt, und es ist nicht zu vermeiden, dass sich da andere Stimmen dran beteiligen als nur die akademisch legitimierten. Aber die Politik muss täglich handeln und kann auf das abschließende Urteil der Wissenschaft nicht warten, denn das kann noch Jahre auf sich warten lassen. 

Und es wäre ein Wunder, wenn am Ende herauskäme, dass alles so gelaufen ist, wie es im besten Fall möglich war. 

Dass aber alles von Anfang an in die falsche Richtung gelaufen sei, behauptet auch keiner, es ist bislang alles glimpflich abgelaufen. 

Und da stellt sich die zweite Frage: Ist das, was bislang gangbar war, noch weiter vertretbar? Nein, wird gesagt. Und warum? "Die Bevölkerung hat die Schnauze voll!" 

Es ist ja wahr: Eine Epidemie ist ein systemisches Geschehen, und der Kampf gegen die Epidemie kann auch nur ein systemisches Geschehen sein. Wenn die Masse der Menschen oder auch nur eine signifikante Minderheit die Regeln nicht einhält, wird aus dem glimpflichen Zwischenergebnis eine schließliche Katastrophe.

Ich bin keine Virologe, kein empirischer Sozialforscher, kein Politiker; ich bin ein alter Mann, ich hab gut reden: Mein Alltag wurde durch den Lockdown nur unwesentlich beeinträchtigt. Ich werde mich aus den sachlichen Meinungsverschiedenheiten weislich heraushalten, weil ich nichts beizutragen habe.

Ich bin allerdings der Meinung, dass eine Regierung, die einen Weg für den unter den gegebe-nen Umständen richtigsten hält, es den Bürgern - denn wir leben in einer repäsentiven Demo-kratie - schuldig ist, daran festzuhalten und dem Schielen auf Umfragen und auf bevorstehen-de Wahlen zu widerstehen. Wenn "die Bevölkerung" die Schnauze voll hat, ist es ihre Pflicht, sie zu schelten und zur Ordnung zu rufen. Ob in väterlichem, mütterlichem oder im Kaser-nenhofton, ist eine Frage der Opportunität. Nur das ist eine Frage der Opportunität.
JE


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