Sonntag, 21. März 2021

Tirols Befreiungskampf gegen den Fortschritt.

Das Riesenrundgemälde in Innsbruck. Auf mehr als 1000 Quadratmetern werden die Ereignisse der dritten Schlacht am Bergisel vom 13. August 1809 dargestellt, in der die Tiroler Franzosen und Bayern schlugen. Eröffnet wurde das Gemälde 1896. Teil 9 von 12 handkolorierten Glasdiapositiven um 1905 

aus welt.de, 17. 3. 2021                Die Tiroler Schützen im Kampf gegen Bayern und Franzosen am Bergisel

Diese Schutzimpfung provozierte den bewaffneten Aufstand
Um die Pocken zu bekämpfen, führte Bayern 1807 als erstes Land der Welt die Impfpflicht ein. Für die neuen Untertanen in Tirol war das Gotteslästerei. Sie griffen zu den Waffen. Auch anderswo formierte sich Widerstand gegen die Vakzination.

Bayern stellte sich an die Spitze des Fortschritts. Am 26. August 1807 erging die Verordnung, dass sich alle Bewohner des jungen Königreichs, die älter als drei Jahre waren und bis dahin die „Blattern“ noch nicht durchgemacht hatten, einer Impfung unterziehen sollten. Diese würde kostenlos von Landgerichtsärzten verabreicht werden. Verweigerern drohten saftige Geldstrafen. Damit war Bayern das erste Land der Welt, das die allgemeine Impfung gegen Pocken einführte.

Das sollte allerdings nicht unwidersprochen bleiben. Der Kapuzinerpater Joachim Haspinger etwa verdammte die Maßnahme als teuflischen Versuch, Gottes Werk zu durchkreuzen und „bayerisches Denken“ einzuimpfen. Denn Haspinger stammte aus Tirol, das das Habsburgerreich nach der Niederlage gegen Napoleon I. bei Austerlitz 1805 an dessen Rheinbund-Verbündeten Bayern hatte abtreten müssen. Unter den konservativen, stramm katholischen Bergbauern verfing die Botschaft, die den Weg zum großen Aufstand bereitete, der Andreas Hofer zum Volkshelden machte.

Führte die Tiroler Schützen gegen die Bayern: Andreas Hofer (1767-1810)Führte die Tiroler Schützen gegen die Bayern: Andreas Hofer (1767-1810)

Die vier Schlachten, die sich seine Tiroler Schützen mit bayerischen und französischen Truppen 1809 am Bergisel bei Innsbruck lieferten, dürfen als Höhepunkte im Streit um die Impfpflicht gelten. Nicht von ungefähr, denn mit der Bekämpfung der Pocken begann die Geschichte der modernen Seuchenprävention.

Die von Orthopoxvirus variolae verursachte Seuche zählt zu den ältesten Geißeln der Menschheit. Pockenviren wurden in Pharaonengräbern nachgewiesen, sie rafften Zaren und Könige ebenso dahin wie ihre Untertanen. Nach dem Verschwinden der Pest galten die „Blattern“ als tödlichste epidemologische Gefahr. Allein in Westeuropa sollen ihr pro Jahr 400.000 Menschen erlegen sein. Da die Pocken in der Neuen Welt unbekannt waren, trugen sie maßgeblich zur Vernichtung ganzer indigener Gesellschaften durch die Konquistadoren bei. Da in Europa etwa zwei Drittel der Infizierten überlebten, erinnerten die Narben, die die aufgebrochenen Pusteln hinterließen, im Alltag an die ständig lauernde Gefahr. 

Dass es ein Mittel dagegen gab, wurde durch die Frau des englischen Botschafters in Istanbul ab 1710 bekannt. Lady Mary Wortley Montagu hatte beobachtet, dass sich Türken mit einer Nadel „Pockeneiter“ in die Haut ritzten und nach wenigen Tagen wieder gesund waren. Diese Inokulation gewann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zahlreiche Anhänger, nicht zuletzt unter den Habsburgern. Schließlich waren die beiden Frauen Kaiser Josephs II. an den Pocken gestorben. Seine Mutter, Maria Theresia, hatte sie zwar überlebt, war aber von den Narben so schwer gezeichnet, dass sie die Spiegel im Palast entfernen ließ.

Die Inokulation hatte jedoch das Problem, dass sie sehr aufwendig und teuer war, wenn sie einigermaßen sachgerecht durchgeführt wurde. Andernfalls provozierte diese Form der Impfung wiederholt epidemische Ausbrüche, wenn man es vesäumte, die hochansteckenden Patienten auch zu isolieren. Bis der britische Landarzt Edward Jenner 1798 die Ergebnisse seiner bahnbrechenden Untersuchungen veröffentlichte. Er hatte nämlich erkannt, dass Menschen, die sich beizeiten mit den wesentlich harmloseren, von Corpox virus hervorgerufenen Kuhpocken infiziert hatten, gegen seine tödlicheren Verwandten immun waren.

Edward Jenner / G.F.Jacquemot Jenner, Edward, brit.Arzt (begruendete 1796 die Impfung mit Pockenlymphe), Berkeley 17.5.1749 - ebd. 2.1.1823. - Portraet. - Stahlstich von Georges Francois Jaquemot (1806-1880) nach zeitgen. Bildnis, spaetere Kolorierung. Berlin, Slg.Archiv f.Kunst & Geschichte. E: Edward Jenner / G.F.Jacquemot Jenner, Edward, Brit.physician (in 1796 discovered vaccination against smallpox) 1749-1823. - Portrait. - Engraving by Georges Francois Jaquemot (1806-1880) after contemporary portrait, later colouring. Coll. Archiv f.Kunst & Geschichte.

Der erste Politiker, der die Chancen von Jenners Impf-Konzept erkannte, war Napoleon Bonaparte. Als Erster Konsul der Französischen Republik ließ er ab 1800 die ersten Massenimpfungen vornehmen. Bayern nahm sich kurz darauf ein Beispiel. Schließlich war die Pfälzer Linie der Wittelsbacher, die Napoleon nach seiner Kaiserkrönung zu Königen erhob, 1777 durch den Pockentod des letzten Kurfürsten aus der bayerischen Linie an die Macht gekommen.

An Napoleons Seite verordnete sich Bayern ein radikales Modernisierungsprogramm. Eine Verfassung garantierte Freiheits- und Gleichheitsrechte, Leibeigenschaft und ständische Privilegien wurden abgeschafft, Katholiken, Lutheraner und Reformierte gleichgestellt, Bildung und Gesundheitsfürsorge in neue Bahnen gelenkt.

Das bedeutete aber auch, dass die Titel des Tiroler Adels überprüft, die Kirchenorganisation des Landes neu gestaltet und sein Boden katastriert wurde, um eine gerechte Steuererhebung zu gewährleisten. Eine neue Kopfsteuer finanzierte die bayerischen Garnisonen im Land, während die Jahrhunderte alte Tiroler Wehrverfassung außer Kraft gesetzt wurde. Nicht mehr die Schützenkompanien sollten das Aufgebot des Landes stellen, sondern von Wehrpflichtigen gebildeten Truppen, die in die bayerische Armee eingereiht wurden. Die Impfpflicht setzte diesen Kalamitäten schließlich die Krone auf.

Damit waren die Tiroler übrigens nicht allein. Andernorts gingen Gräuelgeschichten von Kindern um, die nach der Jenner-Vakzination auf allen Vieren gelaufen wären und wie eine Kuh zu brüllen begonnen hätten. Selbst ein Aufklärer wie Immanuel Kant vermutete, dass „durch Jenners Kuhpocken die Menschheit sich zu sehr mit der Tierheit gleichstelle und dass der ersteren eine Art Brutalität eingeimpft werden könne“. Brutal wurde allenfalls die Impfpflicht in Frankreich durchgesetzt. So versagte der Rektor der Sorbonne Nichtgeimpften 1810 die Immatrikulation.

Allerdings hatte Napoleons Hauptaugenmerk seinen Soldaten gegolten. Sie waren weitgehend geschützt, sodass die Pocken zu seinen Kriegsverlusten kaum etwas beitrugen. Dafür die Tiroler umso mehr. In drei Schlachten blieben seine Schützen am Bergisel siegreich. Erst als Österreich nach der Niederlage von Wagram im Oktober 1809 Frieden schließen musste und viele seiner Leute sich in die Ernte verabschiedeten, musste Andreas Hofer die entscheidende Niederlage hinnehmen.

Doch die Pockenimpfung wurde kein Selbstläufer. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 waren die deutschen Truppen weitgehend geimpft, was sich in 278 Todesfällen niederschlug. In Frankreich jedoch hatte man die Vakzination schleifen lassen. 23.400 tote Soldaten und rund 200.000 zivile Seuchenopfer waren die Quittung.

 

Nota. - Der erste Krakeel ist verklungen und langsam meldet sich die Vernunft. Am vergan-genen Sonntg hat ein bekennender Merkelianer krachend gegen jemand* gewonnen, die sich im Wahlkampf demonstrativ als Gegnerin der Corona-Politik nicht nur ihres Ministerpräsi-denten, sondern auch ihrer Bundeskanzlerin profiliert hatte. 

Man mag es drehen, wie man will, Impfen ist auf jeden Fall eine Vorsichts-Maßnahme. Wer gottergeben abwarten will, was eben kommt, macht keine Politik. Ob wir lieber morgen den Gürtel enger schnallen oder eher heute wie die Fliegen sterben wollen, gilt es abzuwägen. Beim Abwägen geht es immer um mehr oder weniger und nicht um gut und böse. 

Den frommen Tiroler Bergbauern war das vor zwei Jahrhunderten noch nicht klar. Aber mitteleuropäische Wahlberechtigte sind unsrer Tage nicht zu blöd, es zu verstehen.

JE

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen