Sonntag, 7. März 2021

Schluss mit dem Krakeel!

Klageweiber, attisch

aus spektrum.de, 7.3. 2021

Wissenschaftler und der Chor des öffentlichen Nörgelns

Eine öffentlich kaum ausreichend anerkannte Leistung der Wissenschafter und der Chor des öffentlichen Nörgelns


Von Lars Jaeger 

Es gibt momentan kein heftiger diskutiertes Thema in Deutschland, der EU und der Schweiz als der schleppende Fortschritt bei den Corona-Impfungen. Journalisten, Politiker, Manager und alle möglichen anderen öffentlichen Stimmen nörgeln, dass die Menge der Impfstoffe zu gering sei, dass daher diverse Länder Deutschland und Europa abhängen (als ob dies ein Rennen sei), dass die Impfzentren nicht ausreichend gut organisiert seien, dass Inzidenzwerte, R-Werte oder andere statistischen Grössen einer gewissen Willkür unterliegen oder ganz allgemein, dass das Ganze doch nicht schnell genug vorangehen würde. Dabei geht vielen Menschen der Blick dafür verloren, welch aussergewöhnliche wissenschaftliche Leistung die Entwicklung des Impfstoffes gegen den SARS-CoV-2 Erreger überhaupt darstellt. Nur aus einer gewissen Ignoranz heraus kann man schreiben, wie dies der Spiegel-Kolumnist Thomas Fricke am 5 März 2021 tat: «Es ist schwer fassbar, dass es in Deutschland nicht gelingt, die Menschen in so einer Not schneller zu impfen.» Sind wir im emotionalen Brackwasser der Pandemie bereits derart abgestumpft, dass wir der enormen wissenschaftlichen Leistung einer Entwicklung von gleich mehreren COVID-Impfstoffen schon gar keinen Respekt oder gar Begeisterung mehr gegenüber zeigen können und uns stattdessen lieber im Sumpf des Permanent-Nörgelns suhlen? Ist der wissenschaftliche Fortschritt in der Einstellung der Menschen bereits zu einer derartigen Selbstverständlichkeit geworden, dass man ihn gar nicht mehr explizit sehen und schätzen kann. 

Was die Verfügbarkeit des Impfstoffs angeht, so war bereits vor einem Jahr, als die Pandemie gerade ins Zentrum der globalen Aufmerksamkeit geraten war, klar:

«Die Erprobung eines neuen potenziellen Impfstoffes ist ein hochkomplexes, mehrstufiges Verfahren […] Solche Studien dauern Monate […] Die grösste Hürde ist jedoch die Herstellung des Impfstoffs und seine anschliessende Verabreichung in grossem Massstab. Selbst der alleroptimistischste Pharmareferent würde wohl kaum behaupten, der Impfstoff sei vor Ende dieses Jahres fertig.» 

(Lars Jaeger, An was glauben wir in der Corona-Krise? – An die Wissenschaft, 16. März 2020)

Tatsächlich ist es erstaunlich, wie gut sich die Entwicklung des Impfstoffes vorhersagen liess. So wurde bereits am 23. April 2020 ein erster Proband mit einem Impfstoffkandidaten von BioNTech geimpft. Es dauerte also nur etwas mehr als drei Monate vom Zeitpunkt, an dem die Gen-Sequenz des Virus ermittelt worden war (10. Januar 2020) bis zur Herstellung eines Impfstoffkandidaten durch eine deutsche Firma. Konkret diente diese Erbinformation als Bauplan für einen Stoff (eine so genannte «messenger RNA», kurz «mRNA», die ein bestimmtes spezifisches Protein des Virus kodiert), der es den Zellen der Geimpften ermöglicht, ein bestimmtes Virusprotein selbst herzustellen. Sobald der Körper dieses Protein produziert, wird es vom Immunsystem als nicht körpereigen erkannt und durch entsprechende, vom Körper produzierten Antikörper und T-Gedächtniszellen vernichtet. Dies bereitete den/die Geimpfte(n) auf die Bekämpfung des echten Virus vor. Ihr oder sein Körper wird in die Lage versetzt, Zellen mit diesem Protein zu zerstören, ganz als ob die Person mit dem echten Corona-Virus infiziert war und nun immun gegen dieses ist. Im Fall des SARS-CoV-2-Virus handelt es sich bei dem Ziel-Protein, das in der mRNA kodiert ist, um das besondere Corona-Spike-Protein, das auf der Oberfläche von Sars-CoV-2 sitzt und an die Wirtszellen andockt.

Bei der amerikanischen Firma Moderna (mit ebenfalls einem solchen mRNA-Impfstoff) ging es anfangs sogar noch schneller. Die erste klinische Impfsequenz wurde bereits am 7. Februar 2020 fertiggestellt und ersten Tests unterzogen und dann am 24. Februar, nur etwas mehr als einen Monat nach Sequenzbekanntgabe, an das National Institutes of Health (NIH) der USA versandt. Der erste Teilnehmer in der Phase-1-Studie der Moderna erhielt am 16. März eine Testimpfung, also nur ca. zwei Monate nach der Gensequenzbekanntgabe. Neben Moderna und BioNTech machte sich in jenen Wochen noch eine weitere deutsche Biotech-Firma daran, mRNA-basierte Impfstoffe zu entwickeln. Im Juni erhielt die Firma CureVac grünes Licht zum Start der klinischen Phase-1 Studie mit seinem eigenen SARS-CoV-2 Impfstoffkandidaten. Im September begann CureVac dann die Phase-2 Studie.

Bereits im Juli 2020 lagen die ersten Ergebnisse aus den präklinischen und klinischen Daten der ersten beiden Phasen für die BioNTech- und Moderna-Impfstoffkandidaten aus Deutschland und den USA vor, so dass die Hersteller im späten Juli die letzte Studienphase mit jeweils über 30.0000 Freiwilligen einleiteten, die die Wirksamkeit und Verträglichkeit der möglichen Impfstoffe grossflächig testen sollte. Im Dezember begann dann auch die Phase-3 Studie von CureVac. Ab dem späten Sommer 2020 war also klar, dass zum Ende des Jahres mit einer sehr guten Chance ein wirksamer Stoff vorliegt. Die USA, die Europäische Union, das Vereinigte Königreich, Israel, die Schweiz und viele andere Staaten begannen daher, Lieferverträge mit den Firmen zu verhandeln (die einen mehr, die anderen weniger erfolgreich).

Und tatsächlich: Im November gaben zuerst BioNTech und einige Wochen darauf Moderna bekannt, dass ihre Impfstoffe in den Studien einen Wirkungsrad von jeweils über 90% zeigen, so dass diese schliesslich im Dezember sowohl in den USA als auch in Europa von den Behörden notfallmässig «zur aktiven Immunisierung zur Vorbeugung der COVID-19-Krankheit bei Personen ab 18 Jahren» zugelassen wurden. Im Q2 2021 wird dann wohl auch CureVac in Zusammenarbeit mit Novartis ihre Produktion des COVID-19-Impfstoffkandidaten vorantreiben können. Dieser wird voraussichtlich einen entscheidenden Vorteil besitzen: Anders als die Impfstoffe von BioNTech und Moderna bleibt er bei einer Standard-Kühlschranktemperatur von +5°C mindestens drei Monate lang und bei Raumtemperatur bis zu 24 Stunden lang als gebrauchsfertiger Impfstoff stabil. Das macht ihn wesentlich breiter einsatzfähig. CureVac selbst spricht von «positiven Effekten auf Verteilung, Kosten und Materialverbrauch».

Neben den mRNA-Impfstoffen von BioNTech, Moderna und CureVac wurden unterdessen auch erfolgreiche Adenoviren-basierte Impfstoffe entwickelt (AstraZenica, Johnson & Johnson, der russische Sputnik V, der chinesische CanSino Biologics). Hier wird das entscheidende Gen zur Herstellung des Proteins gegen das Virus in eine genetisch modifizierte Version eines Erkältungsvirus (oft von Affen) eingesetzt, in einen sogenannten «adenoviralen Vektor». Diese Impfstoffe haben gegenüber denen von Moderna und BioNTech den Vorteil, dass sie stabiler sind als die mRNA-Varianten. Sie können (wie der Stoff von CureVac) einige Monate im Kühlschrank aufbewahrt werden, so dass sie als besser geeignet für den Einsatz in Ländern mit schwacher Infrastruktur gelten. Zudem ist ihre Herstellung günstiger. Die Nebenwirkungen von Adenoviren-basierten Impfstoffen sind ähnlich (gering) zu jenen der drei mRNA-Impfstoffe, wie Tests zeigen, ihre Wirksamkeiten dagegen etwas geringer.

Zu diesen beiden Formen gesellen sich noch Impfstoffe, die inaktivierte oder abgeschwächte Viren direkt als Wirkstoff enthalten (auf sie setzen einige chinesische Firmen), sowie Protein-basierte Impfstoffe, in denen direkt Eiweisse des Corona-Virus verabreicht werden, die den Körper dann zur Produktion von Antikörpern anregen sollen. Letztere werden von der US-Firma Novavax angestrebt, die zur Zeit in Grossbritannien und den USA klinische Studien (Phase-3) durchführt. Ein weiterer Protein-Impfstoffkandidat ist der von den Pharmaunternehmen Sanofi und GlaxoSmithKline. In ihn wurde lange viel Hoffnung gesetzt, er enttäuschte aber in den klinischen Studien und wird nun in neuen Varianten getestet.

Wie aber war es überhaupt möglich, dass das alles so schnell ging? Hören wir nicht immer wieder, dass die Herstellung neuer Impfstoffen Jahre oder gar Jahrzehnte dauert? Hier kommen gerade bei den mRNA-Impfstoffen die enormen Fortschritte der letzten Jahre in den lange so verteufelten Gentechnologien ins Spiel. Bereits vor der Covid-Pandemie zeichnete sich ab, dass «genetische Impfstoffe» wie die nun so prominent auftretenden mRNA-basierten Wirkstoffe einen bedeutenden Einfluss auf die allgemeine zukünftige Entwicklung von Impfstoffen haben werden. Auch (und gerade) in der Krebsbehandlung sah man in ihnen bereits vielversprechende Einsatzmöglichkeiten (so waren Uğur Şahin und Özlem Türeci, die Gründer von BioNTech, bereits vor der Corona-Zeit Experten bei der Identifizierung und Charakterisierung neuer Zielmoleküle (Antigene) für die Immuntherapie von Krebstumoren). In die mRNA-Wirkstoffe wird sozusagen die genetische Information zur Bekämpfung der Viren biotechnologisch «einprogrammiert», die dann nach Verabreichung von den eigenen Körperzellen des Patienten in die entsprechend wirksamen Proteine übersetzt wird. Aus den hergestellten mRNA-Sequenzen werden konkret die kleinsten Informationseinheiten (Dreier-Kombinationen von Nukleotiden zur Sequenzierung einer jeweiligen Aminosäure) zum Kampf gegen die Viren geeignet zusammengesetzt. Ist hier der Vergleich mit der Erstellung eines Computerprogramms zu weit hergeholt? Kaum, was sich im Übrigen gerade auch in der Macht des neuen Impfstoffs bei der Bekämpfung von auftretenden Virus-Mutationen zeigt. Hier sollte sich die «genetische Software» einfach geeignet umprogrammieren lassen, um die neuen Varianten zu bekämpfen. Genau dies haben die mRNA-Impfstoffhersteller bereits angekündigt.

Die zeitaufwendigste Etappe auf dem Weg zur globalen Wirksamkeit der Impfstoffe gegen die Pandemie ist ihre Herstellung in grossem Maßstab und ihre anschliessende großflächige Verabreichung. Wir befinden uns zur Zeit gerade in diesem Zwischenbereich des massiven Hochfahrens der Impfstoffherstellung mitsamt der parallel dazu vollzogenen Errichtung einer geeigneten Impfinfrastruktur, die unsere Geduld auf eine so derartig schwere Prüfung stellt, dass sich die Presse in einem Zustand nahe der Hysterie zu befinden scheint. Schon bald wird es Impfstoffe in jedem gewünschten Masse geben. Bei nüchterner Betrachtung ist ihre Entwicklung und Herstellung bisher mit einer erstaunlichen Geradlinigkeit und Vorhersagbarkeit verlaufen – dem wir doch endlich auch mal mit einem lautstarken «Bravo» an die Wissenschaftler entgegen sollten. Denn anders als im beruflichen Leben vieler Menschen sind Ergebnis und Erfolg wissenschaftlicher Arbeit kaum vorherbestimmt. Was die Wissenschaftler geschafft haben, ist also alles andere als selbstverständlich. Und nun sind wir aufgrund ihres Erfolges endlich bald über den Berg.

 

Nota. - Das einzige zu Recht unvergessene Werk von Andy Warhol ist der Satz, in unserer Zeit könne jeder für eine Viertelstunde berühmt sein. Ereignisse wie die Coronaseuche veranlas-sen Millionen Menschen, die Probe aufs Exempel zu machen und in die Öffentlichkeit hin-auszukrähen. Und wenn's dann mal klappt, merken sie erst, wie kurz so eine Viertelstunde ist.

In Millionen Viertelstunden geht mancher kluge Satz und dem entsprechend viel Zeit verlo-ren. Da müssen wir einfach durch, dagegen ist uns kein Kraut gewachsen. Bis zur nächsten Bundestagswahl ist noch ein bisschen Zeit, und bis dahin wird es öffentlich wohl eine Rolle spielen, welche Politiker ungerührt bei der Sache blieben, und welche ihre Fahnen in den Wind hielten.

JE 

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