Montag, 22. März 2021

Nirgends war der Zivilisationsbruch so radikal wie in Britannien.

aus FAZ.NET,

Finis Britanniae
Dabei sein, wenn die Invasoren kommen: Eine imaginäre Reise an die Schauplätze der Spätantike in England zeigt, dass nirgendwo der Zivilisationsbruch nach der Römerzeit so radikal war wie in Britannien. 

Strahlend geht die Sonne auf an diesem Augustmorgen des Jahres 491 nach Christus, der für die meisten Männer, die auf den Mauern des Römerkastells von Anderitum Wache stehen, der letzte sein wird. Ihre Frauen und Kinder, die sich in den mit Reet gedeckten Holzbauten im Inneren der Festung zusammendrängen, werden in die Hände der Sieger fallen, was für fast alle von ihnen Sklaverei und Erniedrigung und für einige wenige unverhofften Reichtum und sozialen Aufstieg in eine sächsische Herrschersippe bedeuten wird. Aber noch sieht das träumende Auge des Zeitreisenden den Kampf nicht beginnen, noch steht das Drama dieses Tages auf der Kippe, auch wenn es über seinen Ausgang keinen Zweifel geben kann.

Seit Wochen wird Anderitum belagert. Das Kastell, vor zweihundert Jahren auf einer Halbinsel in den Salzmarschen errichtet, ist die letzte Fluchtburg der britonischen Bevölkerung von Kent, die vor den fremden Kriegern von jenseits des Meeres aus Dover, Richborough, Portchester und den anderen Küstenbefestigungen in das ausgedehnte Waldgebiet südöstlich von London geflohen ist, dessen römische Schmelzöfen und Kohlenmeiler seit langem erloschen sind. Das Litus Saxonicum, die Sachsenküste, war die Antwort des Römischen Reiches auf die zunehmende Bedrohung Britanniens durch germanische Piraten, und Anderitum mit seinen fast zehn Meter hohen Mauern, Doppeltoren und zahlreichen Halbtürmen bildete das stärkste Glied in der Kette der Forts, die bis hinauf nach Yorkshire reichte.

Die Städte verfielen, die Einwanderer kamen

Doch seit dem Abzug der Römer zu Beginn des fünften Jahrhunderts konnten die Germanen die Küste nach und nach unter ihre Kontrolle bringen. Bewaffnete Banden, die ursprünglich als Söldner im Dienst der Städte im Landesinneren standen, haben sich mit ihren Familien in verlassenen Villae und vom Krieg verwüsteten Dörfern niedergelassen. Während der Handel erlosch, die großen Landgüter verfielen, die Magistrate sich auflösten und die dezimierte Stadtbevölkerung vor den Eindringlingen nach Norden und Westen flüchtete, landeten immer neue Schiffe mit Sippen und Stämmen aus Friesland, Jütland und der sächsischen Nordseeregion an den Stränden Südenglands.

Hier kamen die Neuen auf die Insel: Kreidefelsen von Dover

In Kent, das schon den römischen Heeren als Aufmarschzone diente, haben die Ankömmlinge seit der Jahrhundertmitte die Oberhand gewonnen, und Ælle, ihr Anführer, will in diesem Sommer den letzten, vernichtenden Streich gegen die romanobritischen Bewohner des Landes führen. Fällt Anderitum, gehört ihm ganz Kent.

Im Westen werden Hügelfestungen wiederbesiedelt

Alle europäischen Nationen sind Kinder des Chaos. Frankreich erstand aus dem Grauen der Völkerwanderung, Italien wurde von Goten, Hunnen, Langobarden, Sarazenen überschwemmt, Deutschland von Barbarenstämmen auf den Trümmern römischer Siedlungen gegründet. Aber nirgendwo war der Zivilisationsbruch nach der Römerzeit so radikal wie in Britannien. Weil der Völkerstrom aus dem Osten auf der Insel keinen Ausgang findet, staut sich seine Energie zu endlosen Kriegen auf. Stück für Stück, Stadt für Stadt, Flusstal für Flusstal werden die romanisierten Kelten aus dem fruchtbaren Südosten ins Hinterland gedrängt.

Fünfzig Jahre nach dem Abzug der letzten Legionäre sind die britannischen Städte verödet, ihre Straßen von Gras und Schilf überwuchert. In Londinium umschließen die intakten Mauern ein menschenleeres Trümmerfeld. In Eburacum (York), Lindum (Lincoln) und Camulodunum (Rochester) strömt das Wasser aus der zerbrochenen Kanalisation, Kröten und Otter hausen zwischen den Ruinen. Dafür werden im Westen, in Devon, Somerset und dem heutigen Wales, steinzeitliche Hügelfestungen wiederbesiedelt. In Deva (Chester) und Isca (Caerleon) regieren Kleinkönige hinter den Mauern der Legionslager. Jeder kämpft gegen jeden. Anarchie breitet sich aus.

Ein Mann namens Ambrosius Aurelius

Das Auge des Zeitreisenden betrachtet diese Katastrophe im überscharfen Licht der Unwirklichkeit. Es sieht die Krieger, die sich in dichten Haufen vor den zugeschütteten Wehrgräben von Anderitum sammeln, und die dünne Linie der Verteidiger auf den Mauern. Es sieht die zerfallende Stadt Calleva an der Römerstraße von London nach Winchester, die nie wieder aufgebaut, und das verlassene Durovernum, das hundert Jahre später von dem heiligen Missionar Augustinus als Canterbury neu gegründet werden wird. Es sieht auch, irgendwo im westlichen Hügelland, jenes andere Gefecht zwischen sächsischen Belagerern, belagerten Britonen und einer letztlich siegreichen Entsatzarmee, das als Schlacht am Mons Badonicus in die englische Mythenwelt eingeht.

Der Chef der Truppe, die dem bedrängten Hügelfort zu Hilfe eilte, sei ein römischstämmiger Adliger namens Ambrosius Aurelius gewesen, schreibt um 530 ein zorniger walisischer Mönch namens Gildas in seiner Jeremiade „De excidio et conquestu Britanniae“ (Von der Zerstörung und Eroberung Britanniens). Bei Geoffrey von Monmouth, im zwölften Jahrhundert, wird daraus der edle König Arthur, der die Britonen in ihrem Abwehrkampf gegen die sächsischen Invasoren angeführt hat.

Tatsächlich erkennt man im Getümmel um den Badon-Hügel eine Gestalt auf einem Schimmel, die einen ledernen Brustpanzer und den Kammbuschhelm eines Zenturios trägt, vermutlich ein Erbstück romanobritischer Vorfahren. Ist es Arthur oder Aurelius? Und ist die Burg von Tintagel an der Felsenküste Cornwalls, zu deren Füßen gerade ein Schiff mit Handelsware und Luxusgütern aus Konstantinopel anlegt, womöglich sein Herrschersitz, der Ort der berühmten Tafelrunde und der Vision des Heiligen Grals? „Nomina nuda tenemus“, hat ein anderer kluger Mönch geschrieben, und der klügste aller historischen Erzähler hat es ans Ende eines Klosterromans gestellt: Uns bleiben die nackten Namen, die Geschichte dahinter hüllt sich ins Dunkel.

Zurück nach Anderitum. Inzwischen haben die Angreifer mit Leitern die Mauerkrone erklommen, sie strömen über die Zinnen, und das Schicksal der Festung ist besiegelt. „491. Ælle und Cissa belagerten Andredesceaster und schlachteten alle ab, die darin waren, so dass keiner der Briten am Leben blieb“, meldet die Angelsächsische Chronik, die vierhundert Jahre später am Hof Alfreds des Großen entstand – und auch wenn auf dem Weg vom Ereignis zur Niederschrift vieles verlorenging oder verfälscht wurde, bleibt doch die Tatsache, dass nie wieder Britonen in Anderitum siedelten.

Im sechsten Jahrhundert lag hier ein sächsisches Dorf, und nach der normannischen Eroberung von 1066 entstand im südlichen Teil der Umwallung die Burg Pevensey, die noch zu Shakespeares Zeiten genutzt wurde. Im Zweiten Weltkrieg schließlich ließ die britische Marine Schießscharten in die Burgmauern sprengen, hinter denen Geschütze zur Abwehr einer drohenden deutschen Invasion aufgestellt wurden. Aber all das liegt an diesem spätantiken Sommertag, an dem der Rauch der brennenden Häuser aus der eroberten Festung in den Abendhimmel aufsteigt, in weiter Ferne. Das träumende Auge schließt sich.

 

Nota. - Aber was hatte die Sachsen nach Britannien getrieben? Dänen und Norweger waren Seeleute. Aber Sachsen und Angeln brachten ihre Familien mit. Was war da geschehen?

JE

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