Impfzentrum in Osnabrück
aus nzz.ch, 5. 3. 2021
In meiner Familie warten in diesen Tagen zwei Menschen auf einen Impftermin. Beide gehören laut der Verordnung des deutschen Gesundheitsministers, kurz CoronaImpfV, zur zweithöchsten Kategorie. Einer ist mein Vater, der nächstes Jahr 80 Jahre alt wird und das Virus nach einer Herzoperation zu Recht fürchtet. Der andere bin ich, weil ich bald selbst Vater werde und Mutter und Kind zuliebe ebenfalls «mit hoher Priorität Anspruch» auf eine Impfung habe. Im neusten Corona-Beschluss der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten konnten mein Vater und ich nun lesen, dass Menschen wie wir bereits in allen Bundesländern «im fliessenden Übergang» geimpft würden. Das hat uns beide überrascht. Bei der Berliner Impf-Hotline hatte eine so freundliche wie ratlose Mitarbeiterin gerade erst erklärt, dass der Übergang von den Höchst- zu den Hochpriorisierten noch «in der Abstimmung sei»; zwischen wem, wusste sie auch nicht so recht. Und in Niedersachsen empfahl man meinem Vater, er möge sich in zwei Wochen wieder «in Erinnerung bringen».
Diese persönliche Anekdote schildert keine Ausnahmesituation. Im Gegenteil, die Diskrepanz zwischen den Fortschritts- und Durchhalteparolen der deutschen Spitzenpolitiker und den individuellen Erfahrungen mit dem staatlichen Krisenmanagement haben inzwischen wohl fast alle Bürger kennengelernt – wenn nicht in der eigenen Familie, dann im Freundes- und Kollegenkreis. Dass beides nicht mehr zusammenpasst, zeigen auch die Meinungsumfragen. Vor allem Gesundheitsminister Jens Spahn steht im Zentrum der Kritik. Zu Recht?
Es liegt nahe, einzelne Politiker für das misslungene Pandemie-Management verantwortlich zu machen. Neben dem jungen Minister haben vor allem die Kanzlerin und die Präsidentin der Europäischen Kommission keine gute Figur gemacht. Aber die personalisierte Kritik erklärt nicht das tiefer liegende, genuin deutsche Problem. In der «Zeit» versuchten sich in dieser Woche gleich vier Autoren an einer alternativen Erklärung. Der Grund für die wachsenden Zweifel an der staatlichen Leistungsfähigkeit sei «etwas Grösseres, Systemisches», erklärten sie und beschrieben es als «Zuständigkeits-Diffusion» zwischen Bund und Ländern. Wenn alle verantwortlich seien, dann sei es keiner ganz.
Diese Analyse führt schon weiter, auch wenn die von den Autoren vorgeschlagene Alternative – mehr Zentralismus – Unsinn ist. Der eigentliche Grund für das deutsche Scheitern in der Krise ist eine Eigenart, die alle politischen Ebenen des Landes durchdringt, und das schon lange: Es ist die Lust an der Bürokratie. Vor der Pandemie war sie vor allem im Ausland ein Anlass für Witze, Ratgebertexte und Youtube-Videos. Jetzt, in der Krise, zeigt sich ihr zerstörerischer Charakter.
Bestes Beispiel ist der soeben vorgestellte «Fünf-Stufen-Plan» der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten. Den dritten der fünf Öffnungsschritte, heisst es da zum Beispiel, dürfe ein deutsches Bundesland oder eine Region künftig dann eröffnen, wenn dort eine «stabile» Sieben-Tage-Inzidenz von unter 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner herrsche. Im Einzelhandel gelte etwa: ein Kunde pro zehn Quadratmeter für die ersten 800 Quadratmeter Verkaufsfläche und ein weiterer für alle weiteren 20 Quadratmeter. Steige die Inzidenz an drei aufeinanderfolgenden Tagen wieder auf mehr als 50, dann gelte ab dem zweiten darauffolgenden Werktag «Ziffer 6b»: Einzelhändler dürfen jetzt nur noch einen Kunden «pro angefangene 40 Quadratmeter Verkaufsfläche nach vorheriger Terminbuchung für einen fest begrenzten Zeitraum mit Dokumentation für die Kontaktnachverfolgung» hereinlassen.
Wer, bitte, denkt sich so etwas aus? Ladenbesitzer, die ums wirtschaftliche Überleben kämpfen, hätten nach diesem Plan gar keine Zeit, sich um ihre zurückkehrenden Kunden zu kümmern. Sie müssten permanent mit einem Zollstock und einer Excel-Tabelle in der Hand durchs Geschäft rasen, um sich keinen Ärger mit dem Ordnungsamt oder der Polizei einzuhandeln. Denn während sich der staatliche Eifer bei der Beschaffung und Verteilung von Impfstoffen, beim Schutz von Altenheimen und bei der Bestellung von Schnelltests in Grenzen hält, ist er bei der Ahndung von Regelverstössen in Deutschland so ausgeprägt wie eh und je. Die Lokal- und Regionalmedien sind voll von entsprechenden Berichten. Mal stehen acht Polizisten in der Küche eines Mannes, der mit einem Freund gekocht hat, mal soll ein Sportverein 5000 Euro Strafe zahlen, weil zwei Kinder auf seinem Skatepark unterwegs waren, mal nehmen Beamte die Personalien von Spaziergängerinnen auf, deren Hunde sich zu nahe gekommen sind.
So gross die Regellust beim Bestrafen ist, so gross ist sie auch, wenn der deutsche Staat Gutes tun will. Ende Januar erhielten Millionen Bürger von der Bundesregierung mit der Post zwei Mal «Berechtigungsscheine» für «sechs Schutzmasken mit hoher Schutzwirkung zur Abholung in einer Apotheke». Eigenbeteiligung: jeweils zwei Euro. Die Scheine sahen sehr eindrucksvoll aus, in Farbe und mit Bundeswappen. Sie waren aber herausgeschmissenes (Steuer-)Geld. Nicht nur landeten viele von ihnen statt bei der anvisierten Zielgruppe aus Senioren und chronisch Kranken bei gesunden, jungen Menschen. Der freie Markt stellte solche Masken zum Zeitpunkt des Versands auch längst für kleines Geld bereit.
In den vergangenen Jahren war oft zu lesen, dass Deutschlands Ruf gelitten habe: wegen der stockenden Digitalisierung, der vielen Funklöcher, der überteuerten und fehlerhaften Grossbaustellen, der unzuverlässigen Bahn, der maroden Infrastruktur und so weiter. Das Gütesiegel «made in Germany» hatte, so schien es, an Wert verloren. Bei näherer Betrachtung sind es aber gar nicht die Macher, die versagen, es sind die Verwalter. Das deutsche Unternehmen Biontech hat der Welt in Rekordzeit einen Impfstoff geschenkt. Es ist der deutsche Staat, der den Ruf des Landes beschädigt: Statt Probleme aus dem Weg zu räumen, stellt er Regelwerke auf, die selbst zum Problem werden. Made in Germany? Für alles, was der Staat anfasst, gilt: late in Germany.
Dass es anders ginge, demonstriert eine Handvoll Landkreise, in denen die Verantwortlichen nicht auf die höheren Exekutivgewalten warten, sondern einfach handeln. In Tübingen etwa hat die Pandemiebeauftragte, eine Notfallärztin namens Lisa Federle, schon früh angefangen, die Bürger massenhaft auf das Coronavirus zu testen. Die Bilanz des Tübinger Modells: Die Zahl der Toten in den Altenheimen ist so gering wie fast nirgendwo sonst im Land. Das Gleiche gilt für den Inzidenzwert. Mitte dieser Woche betrug er 38. Der deutsche Durchschnitt ist fast doppelt so hoch. In Tübingen dürften sie froh sein, dass Frau Federle ihr Ding gemacht hat, statt mit den Pandemie-Experten der «Zeit» auf die Weisheit der Bundes zu setzen.
In dieser Woche war die Pandemiebeauftragte zu Gast beim Sender Phoenix. «Wo bleibt die Corona-Strategie?» lautete das Thema. Was Frau Federle in der Sendung über das deutsche Wesen sagte, traf den Nagel auf den Kopf: «Wir müssen einfach mal pragmatischer handeln», forderte sie im schönsten schwäbischen Singsang. «Wir bewegen alles x-mal, wir kontrollieren es noch zehnmal, schreiben es dann aus, lassen es noch mal prüfen, ob es überhaupt so schon geprüft ist, und haben dann noch irgendwelche rechtlichen Bedenken. Und das ist in der Krise vollkommen falsch.» Solche Worte gehören eingerahmt in jede Amtsstube, angefangen beim Kanzleramt.
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