Eine runde Hälfte von einer runden Hälfte der sozialdemokratischen Mitglieder hat für eine Mannundfrauschaft gestimmt, von der gewiss nur ist, dass sie die gegenwärtige Regierung nicht fortsetzen will. Dass die sozialdemokra-tische Bundestagsfraktion ihr voraussichtlich nicht folgen wird, zieht den Jammer in die Länge.
Schlechter wäre nur gewesen, wenn der Vizekanzler Scholz mit einem ebenso dürftigen Ergebnis zum Weiterma- chen befugt worden wäre. Denn legitiniert wäre er so nicht, sonden im Gegenteil abgemeiert. Das wäre eine Dau-erqual geworden, während man unter den gegebenen Umständen immerhin hoffen darf, dass die Sozialdemokratie nun endlich überstanden ist.
So oder so ist sie gut beraten, sich ab Montag nach einem Käufer für ihre aufwendige Parteizentrale umzuschauen.
Starb der Neandertaler einfach so aus? Der
Neandertaler hat zwar Spuren in unseren Genen hinterlassen, ist sonst
aber ausgestorben. Und das, nachdem er Jahrhunderttausende vor uns
existiert hat. Warum? Sind wir schuld? von Jan Osterkamp
Der Neandertaler war ein intelligentes, robustes und sehr gut an seine Umwelt angepasstes
Wesen – und ist dann doch überraschend plötzlich ausgestorben. Der
Grund für den fatalen Niedergang ist unter Forschern umstritten, eine
prominente These nennt uns aber den Homo sapiens als Ursache:
Vordringende, irgendwie technologisch oder kulturell überlegene moderne
Menschen hätten die vergleichsweise kleine Neandertalerpopulation in
Europa und anderswo überflügelt, verdrängt und – gelegentliche Techtelmechtel nicht ausgeschlossen –
schließlich ausgerottet. Womöglich hätte es unter etwas glücklicheren
Umständen auch ganz anders ausgehen können, meinen Vertreter einer
anderen Sichtweise wie Krist Vaesen von der Eindhoven University of
Technology im Fachblatt »PLOS«.
Sie gehen davon aus: Der Neandertaler hatte schlicht demografisches
Pech; weil es im entscheidenden Augenblick einfach nicht genug von
ihnen gab.
In ihrer Studie haben Vaesen und Co mit
Computerhilfe verschiedene Szenarien der Populationsentwicklung
simuliert: Sie starteten dabei mit unterschiedlich großen Gründergrupen
von 50, 100, 500, 1000 oder 5000 Individuen und modellierten, wie sich
solche Gruppen in den folgenden Generationen entwickeln. Dabei rechneten
sie typische Einflussfaktoren ein, die auf das Schicksal gerade von
zunächst sehr kleinen Populationen nachweislich einwirken: Den
schädlichen Effekt von Inzucht, den Allee-Effekt,
der zu kleine, isolierte Populationen unterhalb einer Mindestgröße zum
Scheitern verurteilt, und weitere Störgrößen, die die Demografie einer
Gruppe stochastisch beeinflussen – zufallsbedingte Faktoren, die die
Entwicklung einer Population durch Geburten, Todesfälle und das
Geschlechterverhältnis prägen.
Das Ergebnis der Simulationen war
aufschlussreich, wenn man die Zahl der real existierenden Neandertaler –
Schätzungen gehen von mindestens 5000, höchstens 70 000 Individuen
aus – in den Blick nimmt: Es gab damit in jedem Fall zu wenige von
ihnen, so dass ihre Art allein auf Grund der einberechneten widrigen
demografischen Umstände innerhalb von rund 10 000 Jahren ausgestorben
wäre. Und dies völlig unabhängig davon, ob der Homo sapiens
sich in den Neandertalergebieten durchgeschlagen hätte oder nicht. Mit
realistischen Zahlen gefüttert sagt die Simulation voraus, was nach Lage
der Dinge tatsächlich geschehen ist. Ein Szenario, in dem eine kleine
Gruppe zwar für mehrere tausend Jahre überlebt, dabei aber jederzeit
zusammenbrechen kann – und es schließlich plötzlich auch tut.
Der
Einfluss von einwandernden modernen Menschen ist dabei, wie gesagt,
nicht einberechnet – und die Studie kann somit auch nicht ausschließen,
dass er zusätzlich gewirkt hat. Auffällig ist ja, dass Homo sapiens
offensichtlich nicht nur den Neandertaler, sondern alle anderen Arten
des menschlichen Stammbusches ausgestochen hat, worauf etwa Jean-Jacques
Hublin, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie
in Leipzig, auf Twitter hinweist:
Die Frage nach den Vorfahren der Germanen ist durch die NS-Ideologie
kontaminiert worden. Sie bleibt aber spannend. Führt eine Spur von der
Himmelsscheibe in Nebra zu den Germanen? Ein Gespräch mit Harald Meller.
Sie
sind oberster Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt. Was gibt es in Ihrem
Bundesland Neues von den Germanen? Was ist das Neueste?
Harald Meller: Das
Neueste sind kleine Figuren aus Bronze, die wir gefunden haben, bei
denen es sich offenbar um Götterdarstellungen handelt. Bronze ist ein
Werkstoff, mit dem die Germanen normalerweise nicht arbeiten. Sie haben
phantastische Gegenstände aus Silber, Eisen oder Holz hergestellt, mit
Bronze haben sie kaum agiert. Diese seltenen Bronzefiguren sind von
archaischer Anmutung, auch sehr klein und möglicherweise ein Reflex auf
die Götterbilder, die die Germanen im Römischen Reich kennenlernten.
Wurden diese Figuren neu erforscht oder neu gefunden?
Beides.
Manchmal liegt etwas im Museumsdepot, das man von seiner Bedeutung her
noch nicht einschätzen kann. Kommt nun ein passender Neufund hinzu, regt
er immer auch eine neue Forschung an. Zum Beispiel haben Sondengänger
in unserem Auftrag in letzter Zeit sehr viele römische Schuhnägel
gefunden, die beim Marsch der Soldaten vor Jahrhunderten verloren
gingen. Die Soldaten hinterlassen eine Spur wie Hänsel und Gretel im
Märchen. Wenn man die Nägel dann später findet, kann man den Weg der
römischen Soldaten durch Mitteldeutschland nachvollziehen. Wir wissen
ja, dass Drusus 9 vor Christus an die Elbe kommt, um Germanien zu
erobern. Drusus und Tiberius, die Kaisersöhne, haben das heutige
Süddeutschland eingenommen und wollen jetzt auch Germanien unterwerfen.
Doch das geht schief. Drusus wird beim Versuch, die Elbe zu überqueren,
zurückgeschlagen, muss sich zurückziehen und fällt dabei vom Pferd, er
bricht sich den Oberschenkel und stirbt. Tiberius wird dann später
Kaiser. Wo diese Schlachten stattfanden, welchen Verlauf die Züge
nahmen, versuchen wir mittels Bodenfunden zu analysieren – und da kommen
wir jedes Jahr ein Stück weiter.
Wir
haben gerade von den ungelenken bronzenen Götterfigürchen aus
germanischer Zeit gesprochen. In Halles Landesmuseum befindet sich auch
die weltberühmte bronzene Himmelsscheibe von Nebra. Dazu eine nicht
unproblematische Frage: Sehen Sie Kontinuitäten zwischen der Bronzezeit
und den Germanen, zwischen all den Funden, die in Ihrem Museum
versammelt sind?
Archäologen
haben in früherer Zeit immer wieder Kontinuitäten konstruiert. Sie haben
von Kelten zurückgeschlossen auf die Bronzezeit, von den Germanen
ausgehend taten sie dasselbe. Aber als Archäologen können wir
methodologisch so nicht vorgehen. Von Germanen können wir als
Archäologen erst sprechen – und ihre Völker so bezeichnen – wenn
tatsächlich von „Germanen“ die Rede ist. Letztlich seit Caesar oder
beginnend mit dem Auftreten der Kimbern und Teutonen. Wir können aber
nicht die Zeit von 2000 oder auch 1600 vor Christus mit den Germanen
verbinden. Doch inzwischen kann die Genetik helfen. Sie zeigt uns, dass
die von uns im Fundmaterial gesehenen gesellschaftlichen Brüche, wenn
sie ganz gravierend sind, tatsächlich mit Einwanderungen und Änderungen
in der genetischen Zusammensetzung der damaligen Menschen
übereinstimmen.
Es gibt mehrere
Brüche: Die Jäger und Sammler Mitteleuropas werden im Zuge einer
Einwanderung aus dem Vorderen Orient um 5500 vor Christus ersetzt. Die
Menschen in unserer Gegend werden um 3500 vor Christus verdrängt, und
zwar von solchen, die aus dem Norden kommen. Und diese Menschen wiederum
werden um 2800 vor Christus abermals verdrängt durch Menschen, die aus
der eurasischen Steppe stammen. 2500 vor Christus kommen erneut Menschen
aus der Steppe. Es kommt zu einer Vermischung; durch sie entsteht das,
was wir die Frühbronzezeit nennen.
Die
Aunjetitzer Kultur, in die die Himmelsscheibe von Nebra eingebettet
ist, reicht bis 1600 vor Christus. Von 1600 bis zu den Germanen und bis
in die heutige Zeit sehen wir keine dramatische genetische Veränderung
mehr. Es kommen später, im Mittelalter, noch Reitervölker wie die Ungarn
hinzu. Zudem gibt es in Europa etwas, das wir als mesolithische
Restbevölkerung bezeichnen können, die Basken etwa. Im Prinzip sprechen
wir aber alle Indoeuropäisch. Diese sprachhistorische Prägung bringen
wir heute, mit den archäologischen und genetischen Quellen, in
Zusammenhang mit der Einwanderung von Steppenvölkern aus Südrussland um
2500 vor Christus. Wir sprechen heute noch diese Sprachen, die Gene
tragen wir heute noch in uns, sodass wir mit einer gewissen Berechtigung
zwischen der Zeit um 2000 bis heute von einer Bevölkerungskontinuität
ausgehen können. Es handelt sich dabei auch nicht um so viele
Generationen. Wenn Sie für hundert Jahre fünf Generationen ansetzen,
kommen Sie seit Christi Geburt nur auf hundert Generationen, wenn Sie
weitere 2000 Jahre zurückgehen, sind es insgesamt zweihundert
Generationen. Das ist menschheitsgeschichtlich ein überschaubarer
Zeitraum.
Wie geht es auf sachsen-anhaltischem Gebiet nach der Aunjetitzer Kultur weiter?
Die Aunjetitzer
Kultur ist eine, in der die Super-Hierarchie und so etwas ähnliches wie
der Staat – zumindest nach der Definition Max Webers
– erfunden wird. Man hat ein Staatsterritorium, es gibt zum ersten Mal
eine Armee mit Soldaten unter der Führung eines einzigen Helden, des
Fürsten. Es handelt sich um ein elaboriertes System. Für den Einzelnen
war es sicherlich dadurch nachteilig, dass es letztlich auch
Unterdrückung bedeutete. Anders aber als in Ägypten kann man den Staat
geografisch nicht abriegeln. In Ägypten kann man den Nil dicht machen,
rechts und links liegt Wüste. In Mitteldeutschland ist das Gebiet offen,
jeder könnte in alle Richtungen weggehen. Aber die Böden sind
fruchtbar, es sind die besten Mitteleuropas für den Ackerbau, sodass die
Menschen bleiben, wenn die staatliche Steuerlast überschaubar ist.
Dieses Leben in Sicherheit, über vierhundert Jahre lang, ist der Preis
für das straffe System mit Militär und Fürsten. Nach dieser Zeit, um
1600, scheint es zu einem dramatischen Umschwung zu kommen, zu einer Art
Revolution. Als Hypothese bringen wir diese mit dem Thera-Ausbruch in
der Ägäis in Verbindung. Dort wird offenbar so viel Staub in die Luft
geschleudert, dass die Ernten schlechter werden. Und wenn der Fürst sich
göttlich legitimiert, wie es offenbar geschehen ist, dann ist er für
die Ernten verantwortlich. Auch haben wir festgestellt, dass am Ende
dieser Herrschaftszeit die Armen ärmer und die Reichen reicher werden.
Das führt offenbar zu einer derart großen Ungleichheit, dass die
Fürstenherrschaft für lange Zeit beendet wird.
In
der folgenden Mittelbronzezeit, von 1550 an, gibt es eher
Stammeshäuptlinge, das Gebiet der Aunjetitzer Kultur verliert politisch
an Einfluss und wird vergleichsweise unbedeutend. Das bleibt über viele
Jahrhunderte hinweg so bis zum Beginn dessen, was wir die Germanenzeit
nennen. Davor sind die Gesellschaften über einen langen Zeitraum hinweg
relativ egalitär. Es gibt große, befestigte Siedlungen, in denen
offenbar ein gesellschaftlicher Ausgleich geschaffen wird. Diesen
Gesellschaften gelingt es offenbar, die unglaubliche landwirtschaftliche
Produktivität und den Reichtum relativ einheitlich, möglicherweise
sogar gerecht zu verteilen. Und dieses System ist immerhin von 1600 vor
Christus bis Christi Geburt relativ stabil. Wir sehen hier keine
kriegerischen Aktivitäten, auch keine Darstellung der Männer als
Krieger, sondern eher im Familien- und Gruppenverband. Das ändert sich
dramatisch durch den Kontakt mit den Römern. Plötzlich entwickelt sich
das, was wir „Germanen“ nennen, es entwickeln sich große Stämme, die
immer größer und schlagkräftiger werden. Genetisch aber scheint es eine
Kontinuität zu geben von der Bronzezeit zu den Germanen. Trotz aller
kultureller Brüche, die archäologisch fassbar sind. Zumindest sieht es
nach heutigem Stand so aus.
Wie haben sich die Bestattungsriten entwickelt?
In der
Frühbronzezeit gibt es sehr reiche Gräber unter riesigen Grabhügeln. Der
größte Grabhügel Mitteleuropas ist der Bornhöck in der Nähe von Halle.
Zuletzt konnten wir nachweisen, dass er, mit Kalk überzogen, strahlend
weiß war. Er war sozusagen eine Pyramide des Nordens, unter dem Sie das
ganze Landesmuseum begraben könnten. Der Hügel maß 65 bis 70 Meter im
Durchmesser, das muss man sich vorstellen. Dort werden die Fürsten
körperbestattet, in gestreckter Lage. Die einfachen Menschen werden in
Hockstellung bestattet. In der Mittelbronzezeit werden die Menschen
immer noch unter Hügeln bestattet, in gestreckter Lage; in der
Spätbronzezeit, also von 1300 an, gibt es in Europa dann die
Brandbestattung. Ihre Verbreitung nimmt rasch zu, doch das Gebiet um
Halle ist eine Ausnahme, hier gibt es sowohl Brandbestattungen als auch
Körperbestattungen. Für uns Forscher ist das praktisch, weil wir dadurch
mit genetischen Daten arbeiten können. Bei den sogenannten Germanen nun
findet man in der Regel Brandbestattungen, mit Ausnahme der reichsten
und herausgehobensten Königs- und Fürstengräber, in denen Männer wie
Frauen bestattet werden. Dort gibt es wieder Körperbestattungen – eine
Konstante möglicherweise. In der Frühbronzezeit werden sicher nicht alle
Menschen bestattet, genauso wenig wie in der mittleren Bronzezeit. Bei
den Germanen haben wir aber den Eindruck, dass ein erheblicher Teil der
Bevölkerung bestattet wird. Das ist ein deutlicher Unterschied. Bei den
Germanen gibt es außerdem das Phänomen von Männerfriedhöfen und von
Gefolgschaftsgruppen in Männerfriedhöfen. Das ist spannend, weil es
bedeutet, dass die Kriegerideologie über der Idee der Familie steht. In
manchen Industrienationen, wenn Sie an Japan denken, ist die Arbeit auch
heute wichtiger als die Familie. Die germanische Grundideologie ist in
gewisser Weise perfekt für kapitalistische Wirtschaftssysteme, wie wir
sie heute haben.
Weisen die Grabbeigaben in der Bronze- und der Germanenzeit Ähnlichkeiten auf?
In
der Bronzezeit bekommen nur die ausgewiesensten Eliten Waffen mit ins
Grab. Bei den Germanen bekommen viele Männer Waffen ins Grab. In der
Bronzezeit finden sich Schmuckformen wie Hals- oder Armringe in Hort-,
also Opferfunden. Bei den Germanen werden die entsprechenden
Schmuckstücke mit ins Grab gegeben. Mit der Zeit, im zweiten und dritten
nachchristlichen Jahrhundert – zum Ende der germanischen Kultur –
kommen Waffen als Opfer in die Moore, sie wandern sozusagen aus den
Gräbern heraus, teilweise im Umfang der Waffenausrüstung ganzer Armeen,
so wie es aus Skandinavien bekannt ist.
Das
Interessante ist, dass die Germanen erst unter dem Druck der Römer in
der Form großer germanischer Stämme entstehen. Untereinander haben sie
weiträumige Kontakte. Die germanischen Fürsten sind eng vernetzt, sie
haben die gleichen Repräsentationsmittel in ihren Gräbern: römische
Weingefäße und ähnliches, die über teils große Entfernungen gehandelt
werden. Man muss bedenken, dass das Reisen im Römischen Reich sehr
einfach war. Zahlreiche Germanen haben sich als römische Söldner
verdingt und stiegen beim Militär zu teils hohen Rängen auf. Sie
bewegten sich überall im Römischen Reich, sodass man sicher sagen kann:
Germanen hielten sich in römischen Diensten zu großer Zahl im Schatten
der ägyptischen Pyramiden auf. Viele Germanen sind aber auch nach dem
Militärdienst im Römischen Reich in ihre alte Heimat zurückgekehrt und
haben dorthin ihr Wissen mitgebracht, wie wir es in den archäologischen
Quellen sehen können. Man muss damit rechnen, dass in Germanien römische
Handwerker, Wein- und Waffenhändler tätig waren. Es entstanden somit
ganz neue, auf das Römische Reich bezogene Netzwerke, die mit denen der
Bronzezeit nichts mehr zu tun hatten.
Was für ein Germanenbild vermitteln Sie in Ihren Ausstellungen? In dieser Interview-Reihe gab es mal einen Beitrag über Schulwandbilder aus dem Kaiserreich und der NS-Zeit,
die oft zum Großteil auf falschen Voraussetzungen beruhten. Sie
scheinen in Halle in der Veranschaulichung historischer Zusammenhänge
nicht sehr zurückhaltend zu sein, es gibt viele Illustrationen und
rekonstruierende Lebensbilder.
Wir sind
Archäologen. Wir haben Daten, und diese Daten müssen wir interpretieren.
Wir interpretieren, sofern man fundiert interpretieren kann, sofern
aufgrund des Forschungsstands eine plausible Deutung möglich ist. Wir
interpretieren, aber wir spekulieren nicht. Wir versuchen so weit zu
interpretieren, dass man insgesamt eine schlüssige Geschichte erzählen
kann.
Welches
Germanenbild wollten Sie in dem neuen Teil Ihrer Dauerausstellung mit
dem Titel „Barbarenmacht“ darstellen? Im vorhergehenden Teil hatten Sie
ganz methodenkritisch gezeigt, dass die Germanen eigentlich von den
Römern erfunden werden.
Unser
Germanenbild ist wahrscheinlich immer noch von der damaligen
Lebensrealität entfernt. Wir haben im Grunde zwei Ursprünge historischer
Quellen. Wir haben einerseits die Römer und andererseits die Griechen,
die in ihren literarischen Quellen umfangreich über die Germanen
berichten, aber natürlich aus der Sicht des Siegers. Nur zwei
Schriftsteller waren selbst in Germanien. Die anderen haben sicherlich
Germanen kennengelernt im Römischen Reich, sie haben sicherlich
recherchiert und mit Militärs gesprochen, die Germanien gut kannten,
viele dieser Informationen sind sicher nicht falsch. Man muss aber bei
allen schriftlichen Quellen berücksichtigen, dass sie eine Intention
verfolgen. Jedoch darf man die Intention auch nicht überbewerten.
Natürlich ist Cäsar zuweilen tendenziös, andererseits ist er auch ein
Militärschriftsteller, der in Rom seinen Feinden standhalten muss. Er
kann also nicht ungehemmt lügen. Es zeigt sich in der Archäologie daher
immer wieder, dass vieles in den antiken Schriftquellen einfach richtig
ist. Als Korrektiv haben wir in der Archäologie die Ausgrabungen, wir
haben die archäologischen und genetischen Befunde, die
naturwissenschaftlichen Untersuchungen – dies alles muss man
zusammenbringen, um ein konzises Bild zu entwickeln.
In der
Dauerausstellung zeigen wir in einem ersten Raum die Germanen aus Sicht
der Römer. Daher haben wir eine Schreibstube von Tacitus nachgeahmt. In
dem neuen, zweiten Raum zeigen wir die Germanen aus Sicht der
Archäologie, aus Sicht der Daten, die wir gewinnen können. Man kann
beides gut vereinen. Für mich sind die Germanen ein Konstrukt, und eine
Identität, die im Kontakt mit Rom erst entsteht. Es sind die
verschiedensten Bevölkerungsgruppen, die östlich des Limes im heutigen
Mittel- und Ostdeutschland, im heutigen Polen und Tschechien, im
heutigen Skandinavien leben. Sie sind vergleichsweise egalitär, Männer
und Frauen leben mit wenigen Unterschieden, sie sind nicht besonders
kriegerisch. Erst in der Auseinandersetzung mit Rom gewinnt das
Kriegertum eine große Bedeutung, die Kampfideologie entsteht,
martialische Götter gewinnen an Einfluss. Es entsteht im Krieg mit Rom
auch erheblicher Wohlstand durch Plünderungen und es etablieren sich
wesentlich größere soziale Unterschiede, plötzlich sieht man sehr
deutlich einen Unterschied zwischen Arm und Reich, stark stratifizierte
Gesellschaften bilden sich. Und man kann auch beobachten, dass es zu
immer größeren Bildungen von Stammeskonglomeraten kommt, weil sich in
der Auseinandersetzung mit Rom immer mehr Verbände zusammenschließen. Es
gibt dann auch zunehmend innergermanische Kriege. Wenn man diese
Situation auf die heutige Zeit überträgt, sieht man Ähnliches in
Afghanistan, wo zwei Großmächte den Eindruck hatten, sie könnten ganz
leicht dieses Land besiegen. Es kommt aber zu einer asymmetrischen
Kriegsführung, die keinen Sieger zulässt. Genau das passiert dem
Römischen Reich. Es kann die Germanen nicht besiegen, sie bleiben eine
permanente Bedrohung an der Nordostgrenze.
Das
Bild der Versammlungshalle, das Sie in der neuen Ausstellung etabliert
haben – warum haben Sie gerade dieses gewählt? Ist es nicht suggestiv,
welches Vorbild gab es?
Das
ist natürlich ein starkes Bild. Der Anlass für die Gestaltungsidee ist
aber völlig banal. In dem Raum gibt es mehrere Betonsäulen – und die
hätten sehr den Gesamteindruck gestört. Dann fragten mich die Gestalter,
ob es bei den Germanen nicht Versammlungshallen gegeben habe. Und die
kennen wir natürlich aus der jüngeren germanischen Mythologie. Eine
germanische Versammlungshalle gibt es aber auch in Uppåkra, einem Ort
bei Lund. Diese Versammlungshalle bestand lange, ist phantastisch
ergraben und von den schwedischen Kollegen perfekt dokumentiert. Zum
Beispiel gab es Goldfolien mit Menschen- und Götterbildern, die an die
hölzernen, sehr dicken Säulen genagelt waren. Diese Details, auch die
Stärke der Säulen, haben wir in der Ausstellung nachgeahmt. Die Vitrinen
haben wir in Eisenkonstruktionen eingelassen, weil das Eisen für die
Germanen das entscheidende Metall ist, aus dem sie Waffen und vieles
andere herstellen. Die Silber- und Goldfunde, die Sie in der Ausstellung
sehen, wurden fast ausnahmslos aus römischen Silber- und Goldschätzen
umgeschmolzen und gefertigt, häufig auch von römischen Handwerkern.
Wo war der für die neue Ausstellung zentrale Fund von Gommern bisher zu sehen?
Der Fund von
Gommern war bisher nur in Sonderausstellungen zu sehen. Es ist das
reichste Fürstengrab dieser Zeit, das wir kennen. Als junger Mann hat
dieser Fürst offenbar an Plünderungszügen teilgenommen und verfügt daher
über eine zusammengeraubte Silberausstattung. Als er König wird,
bekommt er von Rom eine phantastische komplette neue Ausstattung, sodass
die alte wertlos wird. Er lässt sie daher umarbeiten – ein Trinkgefäß
zum Beispiel in einen tollen silbernen Schildbuckel, bei dem man, wenn
man ihn umdreht, noch die römischen Punzierungen sieht.
Was fasziniert Sie an den Germanen?
Mich
faszinieren viele Perioden in der Urgeschichte. An den Germanen
fasziniert mich, dass sie zu den wenigen Gruppen gehören, die diesem
riesigen Römischen Reich und seinen Verlockungen widerstehen. Die
Kelten, die eine entwickelte gesellschaftliche Struktur haben und
bereits über Städte verfügen, erliegen Rom, wohl weil sie mit ihrer
Stadtkultur und ihrer stark gegliederten Gesellschaft sehr ähnlich sind.
Das Römische Reich kann den keltischen Eliten ein Angebot machen, das
sie nicht ausschlagen können. Kelten werden im Senat der Stadt wichtig
und partizipieren am römischen Reichtum. Und auch einzelne germanische
Fürsten erliegen sicher der Faszination des Römischen und möchten
möglicherweise Führer aller Germanen werden, aber die Stämme selbst, die
Menschen, haben eine große Resilienz gegen diese Kultur und wollen ihre
Identität nicht aufgeben. Und das führt dann letztlich und langfristig
zum Sturz des Römischen Reiches.
Was würden Sie noch gerne herausfinden über die Germanen?
Ich würde gerne
das Verhältnis zwischen Römern und Germanen in Germanien besser kennen.
Ich würde gerne den Ort finden, an dem Drusus die Elbe erreicht hat und
auch die römischen Marschlager auf dem Weg dorthin. Das müssen sehr
große Lager gewesen sein, Doppellegionslager. Dann würde ich gerne die
Zeugnisse dieser römischen Feldzüge tief nach Germanien hinein finden.
Die frühen Züge des Drusus archäologisch fassen zu können, fände ich
sehr spannend. Das ist aber ungeheuer schwer, weil sich die Marschlager –
die oft nur ein, zwei Tage bestehen – mit nur wenigen Funden
niederschlagen. Außerdem würde ich gerne das Verhältnis zwischen den
Germanen, die in Rom sind und denen, die zurückkehren, genauer
erforschen. Auch spannend finde ich, herauszufinden, welche Römer sich
in Germanien aufhielten: Handwerker, Militärberater, Waffenhändler,
Gold- und Feinschmiede, Kartographen. Sie müssen alle hier gewesen sein.
Die Fragen stellte Uwe Ebbinghaus
Prof. Dr. Harald Meller
studierte Vor- und Frühgeschichte, Provinzialrömische Archäologie und
Ethnologie in München und Berlin. Nach seiner Promotion arbeitete er als
wissenschaftlicher Angestellter im Bereich Großprojekte der
Bodendenkmalpflege und Gebietsreferent im Landesamt für Archäologie in
Sachsen. Seit 2001 ist er als Landesarchäologe und Direktor des
Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt und des
Landesmuseums für Vorgeschichte Halle tätig. Seit 2009 unterrichtet er
als Honorarprofessor am Institut für Kunstgeschichte und Archäologien
Europas an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Erbe der Steppenreiter In der Bronzezeit erlebten unsere Vorfahren einen enormen
Kulturschub. Plötzlich änderten sie ihre Handwerkstechniken, entdeckten
die Kernfamilie und das Eigentum für sich und bestatteten ihre Toten auf
neuartige Weise. Was aber war der Auslöser für diese Revolution im
Europa der Bronzezeit? Und welche Rolle spielen dabei die Reiternomaden
der eurasischen Steppe?
Schon länger ist klar, dass die Geschichte Europas von gleich
mehreren Wellen der Einwanderung geprägt ist. Erst kam vor rund 45.000
Jahren der Homo sapiens, dann brachten Bauern aus dem Mittelmeerraum die
Landwirtschaft mit. Doch in den letzten Jahren hat sich eine weitere,
dritte Migrationswelle als entscheidend für die Geschichte Europas
herauskristallisiert: Ein Einstrom der Jamnaja – halbnomadischer
Viehzüchter aus den Steppen des Ostens. In welchem Ausmaß diese
Steppenreiter unsere Kultur, aber auch unser Erbgut geprägt haben, tritt
inzwischen immer deutlicher zutage.
Kulturschub in der Bronzezeit Der große Wandel
Jahrtausendelang tat sich wenig in der Lebensweise unserer Vorfahren:
Nachdem vor gut 8000 Jahren die ersten Bauern aus dem Mittelmeerraum
eingewandert waren, wurden die ursprünglichen Jäger und Sammler immer
weiter zurückgedrängt, die Landwirtschaft wurde zur Lebensgrundlage der
jungsteinzeitlichen Mitteleuropäer.
Rekonstruktion einer jungsteinzeitlichen Siedlung der Linearbandkeramik-Kultur mit typischen Langhäusern.
Die Menschen lebten in dörflichen Gemeinschaften, bauten Emmer,
Einkorn, sowie Erbsen und Linsen auf gemeinschaftlich bewirtschafteten
Feldern an und begruben ihre Toten in Einzelgräbern auf Friedhöfen
außerhalb des Dorfes. Auch erste Nutztiere wie Rinder, Schweine, Schafe
und Ziegen hielten die Angehörigen der sogenannten Linearbandkeramik
bereits, diese Tiere spielten aber noch eine eher geringe Rolle für die
Nahrungsversorgung. Alles wird anders
Doch vor rund 5.000 Jahren wandelt sich das Bild: „Wir sehen nun
plötzlich Einzelhöfe von Familien statt der Gemeinschaftsdörfer“,
berichtet Kristian Kristiansen von der Universität Göteborg. „Es
entsteht eine sehr viel individualistischere Kultur, die um Kernfamilien
organisiert ist.“ Gleichzeitig beginnen die jungsteinzeitlichen Bauern
nun, vermehrt Rinder zu halten und züchten. Die Milch und das Fleisch
ihres Viehs nehmen einen größeren Anteil in ihrem Speiseplan ein.
Typisch für die sogenannte Schnurkeramik-Kultur sind zudem Tongefäße,
denen in den feuchten Ton eingedrückte Schnüre ein charakteristisches
Muster verleihen.
Im Grabhügel wurden die Toten in Hockstellung bestattet – hier eine ganze Familie.
Und noch etwas ändert sich: „Man sieht eine Veränderung in den
Begräbnisritualen“, erklärt Kristiansen. Statt in den zuvor üblichen
Einzelgräbern werden die Toten nun immer häufiger in Grabhügeln
bestattet, in denen Eltern und Kinder gemeinsam liegen. Die Toten in
diesen Hügelgräbern liegen in Hockstellung in einer zentralen, oft von
Holzbalken getragenen Kammer und sind oft mit Ocker bestäubt.
Auffallende Ähnlichkeiten
Was aber brachte diesen Wandel mit sich? Sind es einfach nur
Weiterentwicklungen innerhalb der bestehenden Kulturen oder gibt es
möglicherweise äußere Einflüsse? Tatsächlich machen vor allem die neuen
Grabhügel einige Archäologen stutzig: Sie gleichen in ihrer Anlage und
Form auffallend denen der Jamnaja – einer in der Bronzezeit in der
eurasischen Steppe verbreiteten Kultur von halbnomadischen Viehzüchtern.
Die Jamnaja sind ursprünglich in den weiten Steppen nördlich des
Schwarzen und Kaspischen Meeres heimisch. Auf der Suche nach
Weidegründen für ihre Herden ziehen sie in von Rindern und Pferden
gezogenen Karren über das Land und dringen in der frühen Bronzezeit bis
ins Donautal und das östliche Mitteleuropa vor.
Könnten diese Steppennomaden die Urheber des bronzezeitlichen
Kulturwandels in Europa gewesen sein? Während einige Archäologen dies
durchaus für wahrscheinlich halten, bleibt diese Hypothese zunächst
stark umstritten. Doch das hat sich inzwischen geändert. Gene verraten Herkunft unserer Vorfahren Die dritte Welle
In den letzten zehn Jahren haben moderne Biotechnologien auch unsere
Sicht auf die Vergangenheit dramatisch verändert. Denn neue Methoden
erlauben es nun, selbst aus Jahrtausende alten Knochen und anderen
menschlichen Überresten noch Erbgut zu gewinnen und zu analysieren. Dies
eröffnet völlig neue – und oft überraschende – Einblicke in das Leben
und die Welt unserer Vorfahren.
Bronzezeitliche
Grabhügel aus der Zeit um 3.500 vor Christus – von den Toten aus
solchen Gräbern haben Forscher DNA-Proben analysiert.
Spurensuche im Genom
Dies gilt auch für die Frage, wer oder was den großen kulturellen
Wandel vor rund 5.000 Jahren in Europa auslöste. „Wir wollten verstehen,
wie diese enormen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen zustande
kamen, die sich zu Beginn des dritten Jahrtausends vor Christus vom Ural
bis nach Skandinavien ausbreiteten“, erklärt Eske Willerslev von der
Universität Kopenhagen.
Für ihre Studie analysierten Willerslev und sein Team genetisches
Material von 101 menschlichen Überresten aus Europa und Vorderasien. Das
Alter der Gebeine reichte von etwa 6000 bis 900 vor Christus und
umspannte damit auch die Umbruchszeit vor rund 5.000 Jahren. Parallel
dazu führten Forscher um David Reich von der Harvard University ähnliche
Studien durch.
Abrupter Genaustausch
Das überraschende Ergebnis: Vor rund 5.000 Jahren wandelte sich nicht
nur die Kultur in Mitteleuropa, sondern auch die genetische
Zusammensetzung der Bevölkerung – das belegen beide Studien. „Wir waren
erstaunt, wie stark und schnell dieser genetische Wandel zwischen der
neolithischen und der Schnurkeramik-Kultur war“, sagt Willerslev.
Während zuvor eine Mischung von DNA der alten Jäger und Sammler und der
aus dem Mittelmeerraum stammenden Urzeitbauern vorherrschte, dominierten
nun plötzlich ganz andere Gene.
„Rund 75 Prozent der DNA der Schnurkeramiker in Deutschland lässt
sich auf die Jamnaja zurückführen“, berichten Reich und sein Team. Und
weiter nördlich, in Großbritannien, war der Wechsel sogar noch
dramatischer: Vor rund 4.5000 Jahren wurde dort die heimische
Bevölkerung, zu denen auch die Erbauer von Stonehenge gehören, zu fast
90 Prozent von neueinwandernden Populationen ersetzt, wie die
DNA-Analysen enthüllten. Innerhalb weniger hundert Jahre lösen die aus
den Steppenreitern hervorgegangenen Angehörigen der Glockenbecherkultur
die alte Bevölkerung ab.
Die
DNA-Analysen belegen, dass die Schnurkeramik nicht nur kulturell vom
Einfluss der Jamnaja geprägt war, sondern auch genetisch . „Eine Geschichte der Migration“
„Diese Ergebnisse werden viele Menschen erschüttern“, sagt Barry
Cunliffe von der University of Oxford. „Selbst für uns Archäologen ist
dies absolut überwältigend. Denn einen so hohen Anteil von Steppennomaden-DNA hätten wir uns zuvor selbst in
unseren kühnsten Träumen nicht vorstellen können.“ Sein Kollege Kristian
Kristiansen von der Universität Göteborg ergänzt: „Das ist
bahnbrechend. Die gesamte Geschichte muss nun umgeschrieben werden – zu
einer Geschichte der Mobilität und Migration.“
Der Blick in die Gene bestätigt damit, dass die Vorgeschichte der
Europäer drei großen Migrationswellen geprägt wurde. Den Anfang machte
vor rund 45.000 Jahren der Homo sapiens,
der aus Afrika nach Europa einwanderte und dort den seit
hunderttausenden Jahren etablierten Neandertaler ablöste. Die zweite
Welle folgte vor rund 8.000 Jahren, als Einwanderer aus dem
Mittelmeerraum die Kulturtechnik der Landwirtschaft nach Europa brachten
und damit die neolithische Revolution auslösten.
Die dritte große Welle war der Vorstoß der Jamnaja aus den
eurasischen Steppengebieten vor rund 5.000 Jahren. Der Einstrom dieser
Steppennomaden führte zu einem großen Wandel in den etablierten Kulturen
Europas und gab den Anstoß zu vielen Neuerungen, die das Leben unserer
Vorfahren für immer veränderten.
Was machte die Steppennomaden so erfolgreich?
Seuchen, Kampf und frische Milch
Doch auch wenn nun klar ist, dass eine bronzezeitliche Kultur von
Steppennomaden das Leben unserer Vorfahren für immer veränderte, bleibt
eine Frage offen: Wie gelang es diesen Neuankömmlingen aus der Steppe,
sich so radikal gegen die ortsansässigen Bauern durchzusetzen? Wie
schafften sie es, die heimische Bevölkerung sowohl kulturell als auch
genetisch so stark zu beeinflussen?
Schnurkeramikgefäß, Axt und Bernsteinscheiben (links) sowie Waffenspitzen aus Knochen und Bronze der Jamnaja Einer der Gründe könnten eingeschleppte Seuchen gewesen sein. Denn
etwa um die Zeit der Jamnaja-Einwanderung sank die Bevölkerungsdichte
unter den jungsteinzeitlichen Bauern in Mitteleuropa deutlich, wie
Genstudien belegen. Die Steppennomaden fanden demnach große Landstriche
vor, die fast verwaist waren – und konnten sich dort ungehindert
niederlassen.
Gleichzeitig fanden die Forscher bei der DNA-Analyse der
Jamnaja-Einwanderer Hinweise auf eine Infektion mit der Pest. Nähere
Analysen deuten darauf hin, dass der Erreger dieser Seuche damals unter
den Bewohner der eurasischen Steppe grassierte. Als diese dann nach
Mitteleuropa kamen, trafen sie auf eine Population, deren Immunsystem
kaum Abwehrkräfte gegen diesen neuen Erreger hatte.
„Die Seuchendynamik könnte ähnlich gewesen sein wie bei der
europäischen Eroberung der Neuen Welt nach Kolumbus“, erklärt Kristian
Kristiansen von der Universität Göteborg. „Die Jamnaja könnten die Pest
nach Europa gebracht und damit einen massiven Populationskollaps
ausgelöst haben.“
Jungmänner auf der Suche nach einer Existenz
Ein weiterer Grund für den Erfolg der Steppennomaden könnte die
Zusammensetzung der Neuankömmlinge gewesen sein: Während die ersten
Bauern meist mitsamt ihrer Familien in die neuen Gebiete aufbrachen,
waren es bei den Jamnaja vorwiegend Gruppen junger Männer,
die nach neuen Weidegründen in Europa suchten. Den DNA-Analysen, aber
auch archäologischen Funden zufolge kamen unter diesen Neuankömmlingen
auf zehn Jamnaja-Männer nur eine Frau.
„Diese große Dominanz der Männer lässt sich durch die alte
indoeuropäische Tradition der Kriegerbanden erklären“, sagt Kristiansen.
„Diese bestanden aus jungen Männern, die kein Erbe zu erwarten hatten
und daher eher dazu motiviert waren, ihr Glück anderswo zu suchen.“ Als
diese Gruppen dann im jungsteinzeitlichen Mitteleuropa die Chance auf
eine neue Existenz fanden, ergriffen sie sie. Sie wurden Teil der
jungsteinzeitlichen Gemeinschaften, suchten sich Frauen unter der
einheimischen Bevölkerung und gründeten Familien.
Wie effektiv sie dabei waren, belegt eine weitere DNA-Studie. Denn
sie weist nach, dass zwei Drittel der europäischen Männer von nur einer Handvoll Urvätern
abstammen – höchstwahrscheinlich den Jamnaja-Männern. Tatsächlich
könnten die Steppennomaden für die Frauen der heimischen Bevölkerung
attraktive Partner gewesen sein: Sie waren groß und gesund, besaßen
bessere Waffen, schnelle Pferde und brachten viele hilfreiche
Kulturtechniken mit – darunter Pferdewagen, Erfahrungen in der Viehzucht
und der Milchverarbeitung.
Wie heute noch bei den Nomaden der Mongolei spielte Milch eine wichtige Rolle für die Ernährung der Jamnaja. Laktosetoleranz als genetisches Mitbringsel
Und noch etwas brachten die Jamnaja mit: die Fähigkeit, den
Milchzucker Laktose abzubauen. Weil Milch und Käse bei den
Steppennomaden schon lange ein wichtiger Teil der Ernährung waren, hatte
bei ihnen eine genetische Selektion zugunsten der Laktosetoleranz
stattgefunden. Die meisten Jamnaja besaßen daher die Gene, die die
Produktion des milchzuckerabauenden Enzyms Laktase ermöglichten. Und als
die Jamnaja nach Mitteleuropa kamen und sich dort mit den heimischen
Bauern mischten, gaben sie diese Gene weiter.
„Zuvor war die gängige Ansicht, dass sich die Laktosetoleranz im
Nahen Osten oder auf dem Balkan entwickelt hat – in Verbindung mit dem
Aufkommen der Landwirtschaft“, erklärt Martin Sikora von der Universität
Kopenhagen. „Aber jetzt sehen wir, dass die Mutation dafür selbst in
der Bronzezeit in Europa noch sehr selten war.“ Die Forscher vermuten
daher, dass die genetische Basis für diese Fähigkeit erst mit den
Jamnaja nach Europa kam und sich dann allmählich ausbreitete.
Woher kamen die Jamnaja? Die vierte Welle.
Woher kamen die Jamnaja, das Volk von Steppennomaden, denen die
Europäer einen großen Teil ihres genetischen und kulturellen Erbes
verdanken? Klar scheint, dass diese Steppennomaden keine Asiaten waren,
sondern eher kaukasischer Herkunft. Obwohl sie bis nach Zentralasien
verbreitet waren, unterschieden sie sich rein äußerlich kaum von den
Europäern. Aber wo lagen ihre Ursprünge?
Mit Ocker bestäubter Schädel eines Jamnaja und eine Rekonstruktion seines Aussehens – er wirkte europäisch. „Die Frage, woher die Jamnaja kommen, war bisher ein Rätsel“, erklärt
Andrea Manica von der University of Cambridge. Ein Teil ihrer
genetischen Wurzeln lässt sich auf die „Westlichen Jäger und Sammler“
zurückführen – die Gruppe mittelsteinzeitlicher Populationen, die einst
von Spanien bis zum Ural verbreitet war. Doch der Rest des
Jamnaja-Erbguts passte in keine der bekannten Volksgruppen. „Die Jamnaja
besaßen eine große genetische Komponente, die wir nicht zuordnen
konnten“, sagt Manica.
Vorfahren aus dem Kaukasus
Im Jahr 2015 jedoch kamen den Forschern zwei Fossilfunde aus Georgien
zu Hilfe – ein 13.000 Jahre alter Schädel und ein 10.000 Jahre alter
Menschenzahn. Als Manica und sein Team die DNA dieser Funde
analysierten, entdeckten sie Überraschendes:
Diese Steinzeitmenschen schienen keiner der bisher bekannten
Jäger-und-Sammler-Gruppen anzugehören – besaßen aber auffallende
Übereinstimmungen mit dem Erbgut der Jamnaja.
Offenbar hatten sich Angehörige dieser Volksgruppe aus dem Kaukasus
einst mit den Vorfahren der Jamnaja vermischt und so ihre Gene in deren
Erbgut hinterlassen. „Damit bildet diese Steinzeit-Population aus dem
Kaukasus den vierten Hauptstrang der europäischen Ahnenreihe“, sagt
Manica. „Durch die Jamnaja hat diese urzeitliche Gruppe zu den meisten
modernen Populationen Europas beigetragen, vor allem im nördlichen Teil
des Kontinents.“
Blick aus der Satsurblia-Höhle in Georgien, hier wurde ein Schädelknochen des mysteriösen Kaukasusvolks entdeckt.
Sie kamen bis nach Indien
Und noch ein Rätsel könnte die während der gesamten letzten Eiszeit
im Kaukasus isolierte Population lösen: Woher der europäische Genanteil
in der nordindischen Bevölkerung stammt. Denn wie die genetischen
Vergleichsdaten enthüllten, gehen deren europäische DNA-Anteile
ebenfalls auf dieses Kaukasus-Volk zurück. Die Menschen dieser
Population müssen demnach irgendwann nach der Eiszeit sowohl in die
eurasische Steppe als auch nach Osten Richtung Asien gezogen sein.
Das wiederum wirft ein ganz neues Licht auf ein weiteres wichtiges Erbe der Vergangenheit – unsere Sprachen.
Woher kommt die Indoeuropäische Sprachfamilie? Das Rätsel unserer Sprache
Ob Deutsch, Italienisch, Griechisch oder Urdu und Sanskrit – all
diese Sprachen haben eine Gemeinsamkeit: Trotz ihrer Verbindung mit ganz
unterschiedlichen Kulturen gehören sie alle zur großen Sprachfamilie
des Indoeuropäischen. Sie besitzen eine gemeinsame Wurzel, die bis in
die Anfänge der Bronzezeit und darüber hinaus reicht.
Heutige Verbreitung der verschiedenen Gruppen der indoeuropäischen Sprachfamilie.
Gemeinsamkeiten auch mit Persisch und Sanskrit
Bei einigen indoeuropäischen Sprachen ist die gemeinsame Herkunft
relativ leicht erkennbar: Vor allem das Englische, Deutsche,
Niederländische und auch Skandinavische nutzen viele ähnliche Wörter.
Doch auch bei den romanischen Sprachen wie dem Italienischen,
Französischen oder Spanischen gibt es verwandte Begriffe – dazu gehören
beispielsweise die Bezeichnungen für enge Familienangehörige wie Bruder,
Schwester, Mutter und Vater, aber auch die meisten Zahlwörter oder und
viele Personalpronomen.
Aber wie sieht es mit Urdu, Sanskrit oder dem Iranischen aus? Bei
diesen im mittleren Osten und in Asien gesprochenen Sprachen finden sich
auf den ersten Blick kaum Gemeinsamkeiten mit den europäischen
Sprachen. Doch das täuscht. Selbst in Indien, im Iran oder in
Bangladesch haben die Menschen einige Wörter genutzt, die uns bekannt
vorkommen dürften: Der „Bruder “ ist im Altindischen „Bhrater“, im
Altiranischen ein „Bratar“. Das „Knie“ ist im Altindischen ein „Janu“
und damit dem französichen „Genu“ auffallend ähnlich, im Altiranischen
ist es ein „Zanu“.
Ist Indien die Wiege unserer Sprachen?
Diese Gemeinsamkeiten fielen schon Ende des 16. Jahrhunderts einem
florentinischen Kaufmann auf, der über die Seidenstraße nach Persien und
bis nach Indien reiste. Auch andere Gelehrte erkannten bald diese
Parallelen und kamen zu dem Schluss, dass es eine gemeinsame Ursprache
gegeben haben müsse – die indoeuropäische Ursprache. Doch wo hatte diese
Ursprache ihren Ursprung? Und auf welchem Wege breitete sie sich aus?
Lange galt Indien als Wiege der indoeuropäischen Sprache, denn dort
vermutete man die ältesten Wurzeln. Inzwischen jedoch haben die
Genstudien der Archäologen kombiniert mit neuen Methoden der Linguistik
ein neues Licht auf die Herkunft unserer Sprachen geworfen. Denn die
neuen Erkenntnisse zu den Migrationswellen der Jungsteinzeit und
Bronzezeit legen nahe, dass mit diesen Neuankömmlingen auch neue
Sprachen nach Europa kamen.
Ursprungsregionen der indoeuropäischen Ursprache nach der Anatolien- und nach der Steppen-Hypothese.
Ursprung in Anatolien?
Aber mit welchen? Brachten die jungsteinzeitlichen Bauern aus
Anatolien die indoeuropäische Sprache zu uns oder die später
eintreffenden Steppennomaden? Die Antwort ist bisher strittig – und
Studien haben widersprüchliche Ergebnisse erbracht.
Argumente
für eine jungsteinzeitlich-anatolische Wurzel der indoeuropäischen
Sprachen lieferte 2012 eine Studie von Quentin Atkinson von der
University of Auckland. In ihr analysierten die Forscher 6.000
sogenannte Kognate aus insgesamt 103 ausgestorbenen und noch
existierenden indoeuropäischen Sprachen. Kognate sind Wörter, die aus
einem gemeinsamen Ursprungsbegriff entstanden sind und die es so
erlauben, einen Stammbaum der Sprachen zu rekonstruieren.
Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass die indoeuropäischen Sprachen
ihren gemeinsamen Ursprung vor 8.000 bis 9.000 Jahren im heutigen
Anatolien haben müssen. Allerdings berücksichtigten sie für ihre Analyse
ausschließlich Wörter, nicht aber Sprachstruktur, Grammatik und andere
Sprachmerkmale, wie andere Linguisten kritisieren. Auch archäologische
Funde bezogen Atkinson und sein Team nicht mit ein.
…oder doch in der eurasischen Steppe?
Dem gegenüber stehen mehrere Studien, die eher für einen
Steppen-Ursprung der indoeuropäischen Sprachen sprechen – sowohl auf
linguistischer als auch auf genetischer Basis. So ergab eine ebenfalls
mithilfe von Kognaten durchgeführte Rekonstruktion
des Sprachstammbaums durch Linguisten um Will Chang von der University
of California in Berkeley, dass die indoeuropäische Ursprache erst rund
6.000 Jahre alt ist – zu jung für eine Einführung mit den ersten Bauern.
Angesichts der neuen Erkenntnisse zu den Jamnaja und ihren Wurzeln
könnte die Wiege der indoeuropäischen Sprache nach Ansicht vieler
Forscher im Kaukasus und den benachbarten Steppengebieten gelegen haben.
Als dann die Vorfahren der Jamnaja sich nach Westen und Osten
ausbreiteten, brachten sie Varianten dieser Ursprache nach Europa, aber
auch in de Mittleren Osten und nach Indien.
Allerdings: Eindeutig geklärt ist das Rätsel um unsere Ursprache noch
immer nicht – wie die Verfechter beider Hypothesen einräumen. Ob
demnach die Steppennomaden uns einst die indoeuropäische Sprache
mitbrachten oder schon vorher die jungsteinzeitlichen Bauern, bleibt
vorerst im Dunkel der Frühgeschichte verborgen.
7. Juni 2019 - Nadja Podbregar
Nota. -Haben Sie bemerkt, dass in amerikanischen Kriminalfilmen nie von weißen, sondern nur von kauka- sischen Verdächtigen die Rede ist? Als ob sie schon vor Jahr und Tag auf dem neuesten Stand der Wissenschaft gewesen wären! Das Gegenteil ist aber der Fall. Die Bezeichnung geht zurück auf den französischen Naturhistoriker Cuvier, der davon annahm, dass die modernen Menschen alle von der Arche Noah abstammten, die bekanntlich auf dem kaukasischen Ararat gelandet ist. Von da aus müsse die Gattung sich über die Erde verbreitet haben. Da aber die Völker, die rings um den Ararat siedeln, alle hellhäutig sind, müsse der ursprüngliche Mensch ein Weißer gewesen sein..,
Heute meint man - aus ganz andern Gründen - dasselbe. Unsere Vorfahren dürften unter dem Fell, das sie mit ihrem aufrechten Gang und ihrem Ausbruch in die offene Savanne verloren haben, ja wohl eine helle Haut gehabt haben und keine dunkle. Die in Afrika verbliebenen humanoiden und humanen Völker werden erst im Lauf der Jahrtausende eine dunkle Haut gegen die hohe UV-Strahlung entwickelt haben. Dies zur Unterhalttung. In größerem Ernste jenes: Es ist erwogen worden, ob die typische Ambivalenz und Zerrissenheit des deutschen Gemüts darauf zurückzuführen sei, dass die Vermischung der Vermischung von hereinbrechenden Steppennomaden und ansässigen Bauern, die ihrerseits aus dem Balkan und Antolien gekommen waren, nirgends so umfassend wie in Mittelauropa stattgefunden habe. Das ist weniger lächerlin, als es zunächst klingt, denn einen genetischen Unterschied in den Mentalitäten der Völkerschaften muss man gar nicht annehmen. Eine kulturell tradierte Gemütsverfassngs täts auch.
Amerika zieht sich zurück, China trumpft auf. Deutschland muss nicht
nur mehr für Sicherheit tun, sondern auch das eigene Wirtschaftssystem
infrage stellen, bevor es zu spät ist. Ein Gastbeitrag.
Von Hans Kundnani
Noch
vor zehn Jahren schien Deutschlands Platz in der Welt klar definiert zu
sein. Außenpolitische Debatten betrafen damals vor allem die
Beteiligung Deutschlands an den sogenannten Out-of-Area-Einsätzen der Nato.
Während der 1990er schien sich Deutschland in der Frage von
Militäreinsätzen allmählich in Richtung „Normalität“ zu bewegen, ein
Prozess, der in den Einsätzen in Serbien 1999 und Afghanistan ab 2001
kulminierte. Ab den 2000ern jedoch begann auch Deutschland
Militäreinsätze im Zuge der den gesamten Westen erfassenden Zweifel
gegenüber Militärinterventionen wieder zunehmend skeptischer zu sehen,
vor allem nach der fehlgeschlagenen Invasion des Irak 2003.
Mit Ausbruch der Eurokrise
2010 jedoch ist Deutschlands Zukunft zunehmend unsicher geworden. Die
Krise löste eine abermalige Debatte über die deutsche „Hegemonie“ in
Europa aus, die sich in Folge der Flüchtlingskrise 2015 intensivierte.
Seit der Wahl Donald Trumps
zum Präsidenten der Vereinigten Staaten 2016 ist die Zukunft der
transatlantischen Allianz und der „liberalen internationalen Ordnung“ an
sich ungewiss geworden. Wie wird Deutschland in einer Zeit agieren, in
der scheinbar alles in Bewegung geraten ist – und die Analysten wie
Wolfgang Streeck als ein Interregnum im Sinne Gramscis beschreiben?
Regelmäßig haben außenpolitischen Analysten die Probleme ignoriert, die im Verlauf der Eurokrise
aufgetaucht sind. Was allerdings nicht heißt, dass diese gelöst worden
wären. Zwar provozierte das britische Chaos ein erneuertes rhetorisches
Bekenntnis zum europäischen Projekt, aber die weitere Integration ist
zum Stehen gekommen. Derweil verharrt Deutschland in einer
problematischen Position der Halbhegemonie. In der Praxis bedeutet dies,
dass das Land zwar die Kraft zur Festlegung der Regeln hat, nicht aber,
um sie durchzusetzen. Andere Staaten sind derweil stark genug, um die
Regeln zu brechen, nicht aber sie zu ändern.
Die Serie von Krisen, denen sich die EU
seit 2010 gegenübersieht, hätten eine Chance sein können. Während der
Eurokrise warfen die Länder Südeuropas Deutschland mangelnde
„Solidarität“ vor. Aber in der Flüchtlingskrise forderte dann auf einmal
Deutschland „Solidarität“ von den anderen Mitgliedsstaaten. Dies hätte
durchaus eine Grundlage für einen umfassenden Deal sein können,
basierend auf einem gemeinsamen Verständnis von Rechten und Pflichten
zwischen EU Mitgliedsstaaten, die sowohl Teil des Euroraums als auch von
Schengen sind, also eines de facto „europäischen Kerns“. Doch statt sie
miteinander zu verbinden, suchte Deutschland beide Fragen zu
entkoppeln. Europa ist in der Falle, wie Claus Offe es formuliert hat.
Die Wahl Donald
Trumps könnte sich als der größte strategische Schock für ganz Europa
herausstellen. Für Berlin stellt er ein besonderes schwieriges Dilemma
dar. Deutschlands Position der Halbhegemonie innerhalb Europas war von
einer bestimmten Konfiguration der liberalen internationalen Ordnung
abhängig, in der Deutschland einen Freifahrtschein genoss. Gemeint sind
hierbei insbesondere die Sicherheitszusagen der Vereinigten Staaten, die
Fragen militärischer Macht in den innereuropäischen Beziehungen im
Prinzip irrelevant machten, und die Rolle Amerikas als endlos
verfügbarer Konsument zu nennen. Heute ist Washington hierzu weniger
willens und könnten die eigene Hegemoniestellung aufgeben.
Die
Unwägbarkeiten in Bezug auf die amerikanischen Sicherheitszusagen an
Europa führten zu einer Spaltung der strategischen Gemeinde in
Deutschland zwischen Atlantikern und Post-Atlantikern. Während
Atlantiker dazu neigen, die strukturelle Verschiebung in der
amerikanischen Außenpolitik zu unterschätzen, verkennen die
Post-Atlantiker das Ausmaß der Schwierigkeiten vor denen Europa bei der
Entwicklung strategischer Autonomie als Alternative zu den
amerikanischen Sicherheitsgarantien steht. Problematisch ist dabei, dass
selbst vorsichtige Schritte Europas in Richtung Unabhängigkeit das
amerikanische Engagement weiter schwächen könnten.
Die Deutschen fühlen sich einfach nicht bedroht
Während aber sowohl Atlantiker als auch
Post-Atlantiker über die Notwendigkeit sprechen, auf neue Gefahren in
einer zunehmend gefährlichen Welt zu reagieren, scheint die deutsche
Bevölkerung mehr über den potentiellen Verlust ihrer Identität als
Friedensmacht besorgt zu sein. Trotz der Unsicherheiten in Bezug auf die
amerikanischen Sicherheitsgarantien, fühlen sich die Deutschen einfach
nicht bedroht. Viele sähen heute die Übernahme größerer „Verantwortung“
und dabei insbesondere eine drastische Steigerung der
Verteidigungsausgaben, als ein Zugeständnis an Trump und seine Politik.
Die
zukünftigen Beziehungen Deutschlands zu China sind auch mit der Rolle
Deutschlands in Europa und der Beziehung zu den Vereinigten Staaten
verknüpft. Während der vergangenen Dekade ist Deutschland zunehmend
abhängig von China als Exportmarkt geworden – insbesondere nachdem im
Verlauf der Eurokrise die Nachfrage aus Europa zurückging. Es
entwickelte sich in der Folge eine enge politische Beziehung zwischen
Berlin und Peking. Die Krise hat den Westen in Überschuss- und
Defizitländer gespalten und China und Deutschland zusammengeführt.
Als China unter
Xi Jingping mittelständische Unternehmen aufzukaufen und zunehmend
autoritär zu werden begann, schien Deutschland chinaskeptischer und
offener für ein härteres Vorgehen basierend auf einer stärkeren
transatlantischen Koordination zu werden. Doch die Wahl Donald Trumps
gab der Vorstellung von Europa als einem eigenständigen Pol in einer
multipolaren Welt in einem Dreieck mit China und den Vereinigten Staaten
neuen Auftrieb. In China sehen viele insbesondere in Fragen des
Klimawandels den vielversprechenderen Partner – und jüngst schien die
deutsche Regierung sogar das Interesse an einer noch im Entstehen
begriffenen härteren europäischen Gangart zu verlieren.
Deutschland muss sein Wirtschaftsmodell überdenken
Hinter diesen verschränkten
außenpolitischen Herausforderungen steht Deutschlands ungebrochenes
Bekenntnis zu einem exportbasierten Wirtschaftsmodell, dass trotz seiner
im letzten Jahrzehnt sichtbar gewordenen Schwächen weithin als
erfolgreich angesehen wird. Dieses Wirtschaftsmodell hat eine Korrektur
der makroökonomischen Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone erschwert
und steht dem langfristigen Bestand einer gemeinsamen Währung im Weg.
Zudem hat es die Amerikaner erbost und Deutschland besonders verwundbar
für Trumps Angriffe und so abhängig von einem autoritären China gemacht.
Ein Überdenken
des eigenen Wirtschaftsmodells ist daher die vielleicht größte
Herausforderung, vor der Deutschland steht. Das wäre nicht nur für
Deutschlands Partner in der Nato und der EU gut, die von einer
steigenden Binnennachfrage profitieren würden, sondern auch für
Deutschland selbst. Deutschlands Wettbewerbsbesessenheit hat die
Ungleichheit und die politische Unsicherheit gefördert. Die bröselnde
Infrastruktur des Landes verlangt dringend Investitionen. Allerdings
verbietet der politische Konsens in Bezug auf Deutschlands Identität als
Exportnation ein solches Umdenken.
Die Frage ist,
ob Deutschland zum Umdenken fähig ist, bevor es zu spät ist. Ganz
allmählich ziehen sich die Vereinigten Staaten von ihrer Rolle als
Hegemon zurück, die sie seit dem Zweiten Weltkrieg innehatten. Zunehmend
scheinen sie nicht mehr zur Bereitstellung globaler Gemeinschaftsgüter
wie Sicherheit und ökonomischer Nachfrage willens zu sein – insbesondere
für Europa, von dem sie zu Recht glauben, dass es in der Lage sein
sollte, für sich selbst zu sorgen. Während alles um sie herum in
Bewegung gerät, scheinen die Deutschen zu glauben, sie könnten dennoch
einfach so weitermachen wie bisher.
Viele sehen
hierin einen Ausdruck von Deutschlands Bekenntnis zum Liberalismus – und
sogar zu einer deutschen Führungsrolle in einer Situation, wo sich das
Land zunehmend von „illiberalen“ Kräften umzingelt sieht. Solch ein
binäres Schwarz-Weiß-Denken ist jedoch ein Fehler. Will Deutschland die
liberale internationale Ordnung wirklich retten, muss das Land seine
eigene Rolle innerhalb dieser Ordnung ändern. Auf ökonomischer Ebene
würde dies eine Ankurbelung der Binnennachfrage und eine Minderung der
Exportabhängigkeit bedeuten. In Sicherheitsfragen bedeutete es, weit
mehr für die Sicherheit Europas zu tun, oder, sollte Deutschland hierzu
nicht bereit sein, sich die Frage zu stellen, welchen Preis das Land
bereit ist, anderen im Gegenzug für diese Sicherheit zu zahlen.
Die englische Version dieses Gastbeitrages ist in der diesjährigen Ausgabe von „The Berlin Pulse“ erschienen, dem Begleitheft zum Berliner Forum Außenpolitik der Körber-Stiftung.
Nota. - Das ist so gut, dass ich es in voller Länge wiedergeben muss. Die FAZ wird es mir hoffentlich nach- sehen. JE