Samstag, 30. November 2019

Das zweitschlechtest mögliche Ergebnis.

Käufer gesucht

Eine runde Hälfte von einer runden Hälfte der sozialdemokratischen Mitglieder hat für eine Mannundfrauschaft gestimmt, von der gewiss nur ist, dass sie die gegenwärtige Regierung nicht fortsetzen will. Dass die sozialdemokra- tische Bundestagsfraktion ihr voraussichtlich nicht folgen wird, zieht den Jammer in die Länge.

Schlechter wäre nur gewesen, wenn der Vizekanzler Scholz mit einem ebenso dürftigen Ergebnis zum Weiterma- chen befugt worden wäre. Denn legitiniert wäre er so nicht, sonden im Gegenteil abgemeiert. Das wäre eine Dau- erqual geworden, während man unter den gegebenen Umständen immerhin hoffen darf, dass die Sozialdemokratie nun endlich überstanden ist.

So oder so ist sie gut beraten, sich ab Montag nach einem Käufer für ihre aufwendige Parteizentrale umzuschauen.




Warum die Neanderthaler ausgestorben sind.

Neandertalernase  
aus spektrum.de, 28.11.2019

Starb der Neandertaler einfach so aus?
Der Neandertaler hat zwar Spuren in unseren Genen hinterlassen, ist sonst aber ausgestorben. Und das, nachdem er Jahrhunderttausende vor uns existiert hat. Warum? Sind wir schuld?
 
von Jan Osterkamp

Der Neandertaler war ein intelligentes, robustes und sehr gut an seine Umwelt angepasstes Wesen – und ist dann doch überraschend plötzlich ausgestorben. Der Grund für den fatalen Niedergang ist unter Forschern umstritten, eine prominente These nennt uns aber den Homo sapiens als Ursache: Vordringende, irgendwie technologisch oder kulturell überlegene moderne Menschen hätten die vergleichsweise kleine Neandertalerpopulation in Europa und anderswo überflügelt, verdrängt und – gelegentliche Techtelmechtel nicht ausgeschlossen – schließlich ausgerottet. Womöglich hätte es unter etwas glücklicheren Umständen auch ganz anders ausgehen können, meinen Vertreter einer anderen Sichtweise wie Krist Vaesen von der Eindhoven University of Technology im Fachblatt »PLOS«. Sie gehen davon aus: Der Neandertaler hatte schlicht demografisches Pech; weil es im entscheidenden Augenblick einfach nicht genug von ihnen gab.

In ihrer Studie haben Vaesen und Co mit Computerhilfe verschiedene Szenarien der Populationsentwicklung simuliert: Sie starteten dabei mit unterschiedlich großen Gründergrupen von 50, 100, 500, 1000 oder 5000 Individuen und modellierten, wie sich solche Gruppen in den folgenden Generationen entwickeln. Dabei rechneten sie typische Einflussfaktoren ein, die auf das Schicksal gerade von zunächst sehr kleinen Populationen nachweislich einwirken: Den schädlichen Effekt von Inzucht, den Allee-Effekt, der zu kleine, isolierte Populationen unterhalb einer Mindestgröße zum Scheitern verurteilt, und weitere Störgrößen, die die Demografie einer Gruppe stochastisch beeinflussen – zufallsbedingte Faktoren, die die Entwicklung einer Population durch Geburten, Todesfälle und das Geschlechterverhältnis prägen.

Das Ergebnis der Simulationen war aufschlussreich, wenn man die Zahl der real existierenden Neandertaler – Schätzungen gehen von mindestens 5000, höchstens 70 000 Individuen aus – in den Blick nimmt: Es gab damit in jedem Fall zu wenige von ihnen, so dass ihre Art allein auf Grund der einberechneten widrigen demografischen Umstände innerhalb von rund 10 000 Jahren ausgestorben wäre. Und dies völlig unabhängig davon, ob der Homo sapiens sich in den Neandertalergebieten durchgeschlagen hätte oder nicht. Mit realistischen Zahlen gefüttert sagt die Simulation voraus, was nach Lage der Dinge tatsächlich geschehen ist. Ein Szenario, in dem eine kleine Gruppe zwar für mehrere tausend Jahre überlebt, dabei aber jederzeit zusammenbrechen kann – und es schließlich plötzlich auch tut.

Der Einfluss von einwandernden modernen Menschen ist dabei, wie gesagt, nicht einberechnet – und die Studie kann somit auch nicht ausschließen, dass er zusätzlich gewirkt hat. Auffällig ist ja, dass Homo sapiens offensichtlich nicht nur den Neandertaler, sondern alle anderen Arten des menschlichen Stammbusches ausgestochen hat, worauf etwa Jean-Jacques Hublin, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, auf Twitter hinweist:




Donnerstag, 28. November 2019

Waren die Germanen von hier?

aus FAZ.NET, 30.10.2019

Eine Kontinuität ist schon erkennbar
Die Frage nach den Vorfahren der Germanen ist durch die NS-Ideologie kontaminiert worden. Sie bleibt aber spannend. Führt eine Spur von der Himmelsscheibe in Nebra zu den Germanen? Ein Gespräch mit Harald Meller.

Sie sind oberster Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt. Was gibt es in Ihrem Bundesland Neues von den Germanen? Was ist das Neueste?

Harald Meller: Das Neueste sind kleine Figuren aus Bronze, die wir gefunden haben, bei denen es sich offenbar um Götterdarstellungen handelt. Bronze ist ein Werkstoff, mit dem die Germanen normalerweise nicht arbeiten. Sie haben phantastische Gegenstände aus Silber, Eisen oder Holz hergestellt, mit Bronze haben sie kaum agiert. Diese seltenen Bronzefiguren sind von archaischer Anmutung, auch sehr klein und möglicherweise ein Reflex auf die Götterbilder, die die Germanen im Römischen Reich kennenlernten.

Wurden diese Figuren neu erforscht oder neu gefunden?

Beides. Manchmal liegt etwas im Museumsdepot, das man von seiner Bedeutung her noch nicht einschätzen kann. Kommt nun ein passender Neufund hinzu, regt er immer auch eine neue Forschung an. Zum Beispiel haben Sondengänger in unserem Auftrag in letzter Zeit sehr viele römische Schuhnägel gefunden, die beim Marsch der Soldaten vor Jahrhunderten verloren gingen. Die Soldaten hinterlassen eine Spur wie Hänsel und Gretel im Märchen. Wenn man die Nägel dann später findet, kann man den Weg der römischen Soldaten durch Mitteldeutschland nachvollziehen. Wir wissen ja, dass Drusus 9 vor Christus an die Elbe kommt, um Germanien zu erobern. Drusus und Tiberius, die Kaisersöhne, haben das heutige Süddeutschland eingenommen und wollen jetzt auch Germanien unterwerfen. Doch das geht schief. Drusus wird beim Versuch, die Elbe zu überqueren, zurückgeschlagen, muss sich zurückziehen und fällt dabei vom Pferd, er bricht sich den Oberschenkel und stirbt. Tiberius wird dann später Kaiser. Wo diese Schlachten stattfanden, welchen Verlauf die Züge nahmen, versuchen wir mittels Bodenfunden zu analysieren – und da kommen wir jedes Jahr ein Stück weiter.



Römische Vorstöße an Elbe und Saale, markiert anhand von Münz- und Schuhnägelfunden (nach Vorlage M. Barkowski)
Römische Vorstöße an Elbe und Saale, markiert anhand von Münz- und Schuhnägelfunden (nach Vorlage M. Barkowski) : Bild: Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt
Wir haben gerade von den ungelenken bronzenen Götterfigürchen aus germanischer Zeit gesprochen. In Halles Landesmuseum befindet sich auch die weltberühmte bronzene Himmelsscheibe von Nebra. Dazu eine nicht unproblematische Frage: Sehen Sie Kontinuitäten zwischen der Bronzezeit und den Germanen, zwischen all den Funden, die in Ihrem Museum versammelt sind? 

Archäologen haben in früherer Zeit immer wieder Kontinuitäten konstruiert. Sie haben von Kelten zurückgeschlossen auf die Bronzezeit, von den Germanen ausgehend taten sie dasselbe. Aber als Archäologen können wir methodologisch so nicht vorgehen. Von Germanen können wir als Archäologen erst sprechen – und ihre Völker so bezeichnen – wenn tatsächlich von „Germanen“ die Rede ist. Letztlich seit Caesar oder beginnend mit dem Auftreten der Kimbern und Teutonen. Wir können aber nicht die Zeit von 2000 oder auch 1600 vor Christus mit den Germanen verbinden. Doch inzwischen kann die Genetik helfen. Sie zeigt uns, dass die von uns im Fundmaterial gesehenen gesellschaftlichen Brüche, wenn sie ganz gravierend sind, tatsächlich mit Einwanderungen und Änderungen in der genetischen Zusammensetzung der damaligen Menschen übereinstimmen.

Es gibt mehrere Brüche: Die Jäger und Sammler Mitteleuropas werden im Zuge einer Einwanderung aus dem Vorderen Orient um 5500 vor Christus ersetzt. Die Menschen in unserer Gegend werden um 3500 vor Christus verdrängt, und zwar von solchen, die aus dem Norden kommen. Und diese Menschen wiederum werden um 2800 vor Christus abermals verdrängt durch Menschen, die aus der eurasischen Steppe stammen. 2500 vor Christus kommen erneut Menschen aus der Steppe. Es kommt zu einer Vermischung; durch sie entsteht das, was wir die Frühbronzezeit nennen.

Die Aunjetitzer Kultur, in die die Himmelsscheibe von Nebra eingebettet ist, reicht bis 1600 vor Christus. Von 1600 bis zu den Germanen und bis in die heutige Zeit sehen wir keine dramatische genetische Veränderung mehr. Es kommen später, im Mittelalter, noch Reitervölker wie die Ungarn hinzu. Zudem gibt es in Europa etwas, das wir als mesolithische Restbevölkerung bezeichnen können, die Basken etwa. Im Prinzip sprechen wir aber alle Indoeuropäisch. Diese sprachhistorische Prägung bringen wir heute, mit den archäologischen und genetischen Quellen, in Zusammenhang mit der Einwanderung von Steppenvölkern aus Südrussland um 2500 vor Christus. Wir sprechen heute noch diese Sprachen, die Gene tragen wir heute noch in uns, sodass wir mit einer gewissen Berechtigung zwischen der Zeit um 2000 bis heute von einer Bevölkerungskontinuität ausgehen können. Es handelt sich dabei auch nicht um so viele Generationen. Wenn Sie für hundert Jahre fünf Generationen ansetzen, kommen Sie seit Christi Geburt nur auf hundert Generationen, wenn Sie weitere 2000 Jahre zurückgehen, sind es insgesamt zweihundert Generationen. Das ist menschheitsgeschichtlich ein überschaubarer Zeitraum.


Harald Meller
Harald Meller
Wie geht es auf sachsen-anhaltischem Gebiet nach der Aunjetitzer Kultur weiter?

Die Aunjetitzer Kultur ist eine, in der die Super-Hierarchie und so etwas ähnliches wie der Staat – zumindest nach der Definition Max Webers – erfunden wird. Man hat ein Staatsterritorium, es gibt zum ersten Mal eine Armee mit Soldaten unter der Führung eines einzigen Helden, des Fürsten. Es handelt sich um ein elaboriertes System. Für den Einzelnen war es sicherlich dadurch nachteilig, dass es letztlich auch Unterdrückung bedeutete. Anders aber als in Ägypten kann man den Staat geografisch nicht abriegeln. In Ägypten kann man den Nil dicht machen, rechts und links liegt Wüste. In Mitteldeutschland ist das Gebiet offen, jeder könnte in alle Richtungen weggehen. Aber die Böden sind fruchtbar, es sind die besten Mitteleuropas für den Ackerbau, sodass die Menschen bleiben, wenn die staatliche Steuerlast überschaubar ist. Dieses Leben in Sicherheit, über vierhundert Jahre lang, ist der Preis für das straffe System mit Militär und Fürsten. Nach dieser Zeit, um 1600, scheint es zu einem dramatischen Umschwung zu kommen, zu einer Art Revolution. Als Hypothese bringen wir diese mit dem Thera-Ausbruch in der Ägäis in Verbindung. Dort wird offenbar so viel Staub in die Luft geschleudert, dass die Ernten schlechter werden. Und wenn der Fürst sich göttlich legitimiert, wie es offenbar geschehen ist, dann ist er für die Ernten verantwortlich. Auch haben wir festgestellt, dass am Ende dieser Herrschaftszeit die Armen ärmer und die Reichen reicher werden. Das führt offenbar zu einer derart großen Ungleichheit, dass die Fürstenherrschaft für lange Zeit beendet wird.

In der folgenden Mittelbronzezeit, von 1550 an, gibt es eher Stammeshäuptlinge, das Gebiet der Aunjetitzer Kultur verliert politisch an Einfluss und wird vergleichsweise unbedeutend. Das bleibt über viele Jahrhunderte hinweg so bis zum Beginn dessen, was wir die Germanenzeit nennen. Davor sind die Gesellschaften über einen langen Zeitraum hinweg relativ egalitär. Es gibt große, befestigte Siedlungen, in denen offenbar ein gesellschaftlicher Ausgleich geschaffen wird. Diesen Gesellschaften gelingt es offenbar, die unglaubliche landwirtschaftliche Produktivität und den Reichtum relativ einheitlich, möglicherweise sogar gerecht zu verteilen. Und dieses System ist immerhin von 1600 vor Christus bis Christi Geburt relativ stabil. Wir sehen hier keine kriegerischen Aktivitäten, auch keine Darstellung der Männer als Krieger, sondern eher im Familien- und Gruppenverband. Das ändert sich dramatisch durch den Kontakt mit den Römern. Plötzlich entwickelt sich das, was wir „Germanen“ nennen, es entwickeln sich große Stämme, die immer größer und schlagkräftiger werden. Genetisch aber scheint es eine Kontinuität zu geben von der Bronzezeit zu den Germanen. Trotz aller kultureller Brüche, die archäologisch fassbar sind. Zumindest sieht es nach heutigem Stand so aus.


Das astronomische Wissen, das auf der in Halle ausgestellten Himmelsscheibe von Nebra gespeichert ist, ging bis zu den Germanen ebenso verloren wie Fertigkeiten in der Bronzebehandlung.
Das astronomische Wissen, das auf der in Halle ausgestellten Himmelsscheibe von Nebra gespeichert ist, ging bis zu den Germanen ebenso verloren wie Fertigkeiten in der Bronzebehandlung. 
Wie haben sich die Bestattungsriten entwickelt?

In der Frühbronzezeit gibt es sehr reiche Gräber unter riesigen Grabhügeln. Der größte Grabhügel Mitteleuropas ist der Bornhöck in der Nähe von Halle. Zuletzt konnten wir nachweisen, dass er, mit Kalk überzogen, strahlend weiß war. Er war sozusagen eine Pyramide des Nordens, unter dem Sie das ganze Landesmuseum begraben könnten. Der Hügel maß 65 bis 70 Meter im Durchmesser, das muss man sich vorstellen. Dort werden die Fürsten körperbestattet, in gestreckter Lage. Die einfachen Menschen werden in Hockstellung bestattet. In der Mittelbronzezeit werden die Menschen immer noch unter Hügeln bestattet, in gestreckter Lage; in der Spätbronzezeit, also von 1300 an, gibt es in Europa dann die Brandbestattung. Ihre Verbreitung nimmt rasch zu, doch das Gebiet um Halle ist eine Ausnahme, hier gibt es sowohl Brandbestattungen als auch Körperbestattungen. Für uns Forscher ist das praktisch, weil wir dadurch mit genetischen Daten arbeiten können. Bei den sogenannten Germanen nun findet man in der Regel Brandbestattungen, mit Ausnahme der reichsten und herausgehobensten Königs- und Fürstengräber, in denen Männer wie Frauen bestattet werden. Dort gibt es wieder Körperbestattungen – eine Konstante möglicherweise. In der Frühbronzezeit werden sicher nicht alle Menschen bestattet, genauso wenig wie in der mittleren Bronzezeit. Bei den Germanen haben wir aber den Eindruck, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung bestattet wird. Das ist ein deutlicher Unterschied. Bei den Germanen gibt es außerdem das Phänomen von Männerfriedhöfen und von Gefolgschaftsgruppen in Männerfriedhöfen. Das ist spannend, weil es bedeutet, dass die Kriegerideologie über der Idee der Familie steht. In manchen Industrienationen, wenn Sie an Japan denken, ist die Arbeit auch heute wichtiger als die Familie. Die germanische Grundideologie ist in gewisser Weise perfekt für kapitalistische Wirtschaftssysteme, wie wir sie heute haben.
Weisen die Grabbeigaben in der Bronze- und der Germanenzeit Ähnlichkeiten auf?

In der Bronzezeit bekommen nur die ausgewiesensten Eliten Waffen mit ins Grab. Bei den Germanen bekommen viele Männer Waffen ins Grab. In der Bronzezeit finden sich Schmuckformen wie Hals- oder Armringe in Hort-, also Opferfunden. Bei den Germanen werden die entsprechenden Schmuckstücke mit ins Grab gegeben. Mit der Zeit, im zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert – zum Ende der germanischen Kultur – kommen Waffen als Opfer in die Moore, sie wandern sozusagen aus den Gräbern heraus, teilweise im Umfang der Waffenausrüstung ganzer Armeen, so wie es aus Skandinavien bekannt ist.


Das Grabinventar eines germanischen Stammesfürsten aus Gommern aus dem Ende des 3. Jahrhunderts wird im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle in der erweiterten Dauerausstellung „Barbarenmacht“ gezeigt.
Das Grabinventar eines germanischen Stammesfürsten aus Gommern aus dem Ende des 3. Jahrhunderts wird im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle in der erweiterten Dauerausstellung „Barbarenmacht“ gezeigt.
Das Interessante ist, dass die Germanen erst unter dem Druck der Römer in der Form großer germanischer Stämme entstehen. Untereinander haben sie weiträumige Kontakte. Die germanischen Fürsten sind eng vernetzt, sie haben die gleichen Repräsentationsmittel in ihren Gräbern: römische Weingefäße und ähnliches, die über teils große Entfernungen gehandelt werden. Man muss bedenken, dass das Reisen im Römischen Reich sehr einfach war. Zahlreiche Germanen haben sich als römische Söldner verdingt und stiegen beim Militär zu teils hohen Rängen auf. Sie bewegten sich überall im Römischen Reich, sodass man sicher sagen kann: Germanen hielten sich in römischen Diensten zu großer Zahl im Schatten der ägyptischen Pyramiden auf. Viele Germanen sind aber auch nach dem Militärdienst im Römischen Reich in ihre alte Heimat zurückgekehrt und haben dorthin ihr Wissen mitgebracht, wie wir es in den archäologischen Quellen sehen können. Man muss damit rechnen, dass in Germanien römische Handwerker, Wein- und Waffenhändler tätig waren. Es entstanden somit ganz neue, auf das Römische Reich bezogene Netzwerke, die mit denen der Bronzezeit nichts mehr zu tun hatten.

Was für ein Germanenbild vermitteln Sie in Ihren Ausstellungen?  In dieser Interview-Reihe gab es mal einen Beitrag über Schulwandbilder aus dem Kaiserreich und der NS-Zeit, die oft zum Großteil auf falschen Voraussetzungen beruhten. Sie scheinen in Halle in der Veranschaulichung historischer Zusammenhänge nicht sehr zurückhaltend zu sein, es gibt viele Illustrationen und rekonstruierende Lebensbilder.

Wir sind Archäologen. Wir haben Daten, und diese Daten müssen wir interpretieren. Wir interpretieren, sofern man fundiert interpretieren kann, sofern aufgrund des Forschungsstands eine plausible Deutung möglich ist. Wir interpretieren, aber wir spekulieren nicht. Wir versuchen so weit zu interpretieren, dass man insgesamt eine schlüssige Geschichte erzählen kann.


Blick in die Ausstellung „Barbarenmacht“ mit ihren an eine germanische Versammlungshalle angelehnten Säulen 
Blick in die Ausstellung „Barbarenmacht“ mit ihren an eine germanische Versammlungshalle angelehnten Säulen 
Welches Germanenbild wollten Sie in dem neuen Teil Ihrer Dauerausstellung mit dem Titel „Barbarenmacht“ darstellen? Im vorhergehenden Teil hatten Sie ganz methodenkritisch gezeigt, dass die Germanen eigentlich von den Römern erfunden werden.

Unser Germanenbild ist wahrscheinlich immer noch von der damaligen Lebensrealität entfernt. Wir haben im Grunde zwei Ursprünge historischer Quellen. Wir haben einerseits die Römer und andererseits die Griechen, die in ihren literarischen Quellen umfangreich über die Germanen berichten, aber natürlich aus der Sicht des Siegers. Nur zwei Schriftsteller waren selbst in Germanien. Die anderen haben sicherlich Germanen kennengelernt im Römischen Reich, sie haben sicherlich recherchiert und mit Militärs gesprochen, die Germanien gut kannten, viele dieser Informationen sind sicher nicht falsch. Man muss aber bei allen schriftlichen Quellen berücksichtigen, dass sie eine Intention verfolgen. Jedoch darf man die Intention auch nicht überbewerten. Natürlich ist Cäsar zuweilen tendenziös, andererseits ist er auch ein Militärschriftsteller, der in Rom seinen Feinden standhalten muss. Er kann also nicht ungehemmt lügen. Es zeigt sich in der Archäologie daher immer wieder, dass vieles in den antiken Schriftquellen einfach richtig ist. Als Korrektiv haben wir in der Archäologie die Ausgrabungen, wir haben die archäologischen und genetischen Befunde, die naturwissenschaftlichen Untersuchungen – dies alles muss man zusammenbringen, um ein konzises Bild zu entwickeln.

In der Dauerausstellung zeigen wir in einem ersten Raum die Germanen aus Sicht der Römer. Daher haben wir eine Schreibstube von Tacitus nachgeahmt. In dem neuen, zweiten Raum zeigen wir die Germanen aus Sicht der Archäologie, aus Sicht der Daten, die wir gewinnen können. Man kann beides gut vereinen. Für mich sind die Germanen ein Konstrukt, und eine Identität, die im Kontakt mit Rom erst entsteht. Es sind die verschiedensten Bevölkerungsgruppen, die östlich des Limes im heutigen Mittel- und Ostdeutschland, im heutigen Polen und Tschechien, im heutigen Skandinavien leben. Sie sind vergleichsweise egalitär, Männer und Frauen leben mit wenigen Unterschieden, sie sind nicht besonders kriegerisch. Erst in der Auseinandersetzung mit Rom gewinnt das Kriegertum eine große Bedeutung, die Kampfideologie entsteht, martialische Götter gewinnen an Einfluss. Es entsteht im Krieg mit Rom auch erheblicher Wohlstand durch Plünderungen und es etablieren sich wesentlich größere soziale Unterschiede, plötzlich sieht man sehr deutlich einen Unterschied zwischen Arm und Reich, stark stratifizierte Gesellschaften bilden sich. Und man kann auch beobachten, dass es zu immer größeren Bildungen von Stammeskonglomeraten kommt, weil sich in der Auseinandersetzung mit Rom immer mehr Verbände zusammenschließen. Es gibt dann auch zunehmend innergermanische Kriege. Wenn man diese Situation auf die heutige Zeit überträgt, sieht man Ähnliches in Afghanistan, wo zwei Großmächte den Eindruck hatten, sie könnten ganz leicht dieses Land besiegen. Es kommt aber zu einer asymmetrischen Kriegsführung, die keinen Sieger zulässt. Genau das passiert dem Römischen Reich. Es kann die Germanen nicht besiegen, sie bleiben eine permanente Bedrohung an der Nordostgrenze.


Die germanische Welt in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts nach Christus (Zeichnung: Karol Schauer, Kartierung: Rald Schwarz).Die germanische Welt in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts nach Christus  
Das Bild der Versammlungshalle, das Sie in der neuen Ausstellung etabliert haben – warum haben Sie gerade dieses gewählt? Ist es nicht suggestiv, welches Vorbild gab es?

Das ist natürlich ein starkes Bild. Der Anlass für die Gestaltungsidee ist aber völlig banal. In dem Raum gibt es mehrere Betonsäulen – und die hätten sehr den Gesamteindruck gestört. Dann fragten mich die Gestalter, ob es bei den Germanen nicht Versammlungshallen gegeben habe. Und die kennen wir natürlich aus der jüngeren germanischen Mythologie. Eine germanische Versammlungshalle gibt es aber auch in Uppåkra, einem Ort bei Lund. Diese Versammlungshalle bestand lange, ist phantastisch ergraben und von den schwedischen Kollegen perfekt dokumentiert. Zum Beispiel gab es Goldfolien mit Menschen- und Götterbildern, die an die hölzernen, sehr dicken Säulen genagelt waren. Diese Details, auch die Stärke der Säulen, haben wir in der Ausstellung nachgeahmt. Die Vitrinen haben wir in Eisenkonstruktionen eingelassen, weil das Eisen für die Germanen das entscheidende Metall ist, aus dem sie Waffen und vieles andere herstellen. Die Silber- und Goldfunde, die Sie in der Ausstellung sehen, wurden fast ausnahmslos aus römischen Silber- und Goldschätzen umgeschmolzen und gefertigt, häufig auch von römischen Handwerkern.

Wo war der für die neue Ausstellung zentrale Fund von Gommern bisher zu sehen?

Der Fund von Gommern war bisher nur in Sonderausstellungen zu sehen. Es ist das reichste Fürstengrab dieser Zeit, das wir kennen. Als junger Mann hat dieser Fürst offenbar an Plünderungszügen teilgenommen und verfügt daher über eine zusammengeraubte Silberausstattung. Als er König wird, bekommt er von Rom eine phantastische komplette neue Ausstattung, sodass die alte wertlos wird. Er lässt sie daher umarbeiten – ein Trinkgefäß zum Beispiel in einen tollen silbernen Schildbuckel, bei dem man, wenn man ihn umdreht, noch die römischen Punzierungen sieht.


Germanische Aneignung: Dieser Schildbuckel aus dem „Fund von Gommern“ war ursprünglich ein römisches Trinkgefäß 
Germanische Aneignung: Dieser Schildbuckel aus dem „Fund von Gommern“ war ursprünglich ein römisches Trinkgefäß
Was fasziniert Sie an den Germanen?

Mich faszinieren viele Perioden in der Urgeschichte. An den Germanen fasziniert mich, dass sie zu den wenigen Gruppen gehören, die diesem riesigen Römischen Reich und seinen Verlockungen widerstehen. Die Kelten, die eine entwickelte gesellschaftliche Struktur haben und bereits über Städte verfügen, erliegen Rom, wohl weil sie mit ihrer Stadtkultur und ihrer stark gegliederten Gesellschaft sehr ähnlich sind. Das Römische Reich kann den keltischen Eliten ein Angebot machen, das sie nicht ausschlagen können. Kelten werden im Senat der Stadt wichtig und partizipieren am römischen Reichtum. Und auch einzelne germanische Fürsten erliegen sicher der Faszination des Römischen und möchten möglicherweise Führer aller Germanen werden, aber die Stämme selbst, die Menschen, haben eine große Resilienz gegen diese Kultur und wollen ihre Identität nicht aufgeben. Und das führt dann letztlich und langfristig zum Sturz des Römischen Reiches.

Was würden Sie noch gerne herausfinden über die Germanen?

Ich würde gerne das Verhältnis zwischen Römern und Germanen in Germanien besser kennen. Ich würde gerne den Ort finden, an dem Drusus die Elbe erreicht hat und auch die römischen Marschlager auf dem Weg dorthin. Das müssen sehr große Lager gewesen sein, Doppellegionslager. Dann würde ich gerne die Zeugnisse dieser römischen Feldzüge tief nach Germanien hinein finden. Die frühen Züge des Drusus archäologisch fassen zu können, fände ich sehr spannend. Das ist aber ungeheuer schwer, weil sich die Marschlager – die oft nur ein, zwei Tage bestehen – mit nur wenigen Funden niederschlagen. Außerdem würde ich gerne das Verhältnis zwischen den Germanen, die in Rom sind und denen, die zurückkehren, genauer erforschen. Auch spannend finde ich, herauszufinden, welche Römer sich in Germanien aufhielten: Handwerker, Militärberater, Waffenhändler, Gold- und Feinschmiede, Kartographen. Sie müssen alle hier gewesen sein.

Die Fragen stellte Uwe Ebbinghaus

Prof. Dr. Harald Meller studierte Vor- und Frühgeschichte, Provinzialrömische Archäologie und Ethnologie in München und Berlin. Nach seiner Promotion arbeitete er als wissenschaftlicher Angestellter im Bereich Großprojekte der Bodendenkmalpflege und Gebietsreferent im Landesamt für Archäologie in Sachsen. Seit 2001 ist er als Landesarchäologe und Direktor des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt und des Landesmuseums für Vorgeschichte Halle tätig. Seit 2009 unterrichtet er als Honorarprofessor am Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Mittwoch, 27. November 2019

Jamnaja - das Erbe der Steppenreiter.

aus scinexx

Erbe der Steppenreiter
In der Bronzezeit erlebten unsere Vorfahren einen enormen Kulturschub. Plötzlich änderten sie ihre Handwerkstechniken, entdeckten die Kernfamilie und das Eigentum für sich und bestatteten ihre Toten auf neuartige Weise. Was aber war der Auslöser für diese Revolution im Europa der Bronzezeit? Und welche Rolle spielen dabei die Reiternomaden der eurasischen Steppe?

Schon länger ist klar, dass die Geschichte Europas von gleich mehreren Wellen der Einwanderung geprägt ist. Erst kam vor rund 45.000 Jahren der Homo sapiens, dann brachten Bauern aus dem Mittelmeerraum die Landwirtschaft mit. Doch in den letzten Jahren hat sich eine weitere, dritte Migrationswelle als entscheidend für die Geschichte Europas herauskristallisiert: Ein Einstrom der Jamnaja – halbnomadischer Viehzüchter aus den Steppen des Ostens. In welchem Ausmaß diese Steppenreiter unsere Kultur, aber auch unser Erbgut geprägt haben, tritt inzwischen immer deutlicher zutage.

Kulturschub in der Bronzezeit
Der große Wandel

Jahrtausendelang tat sich wenig in der Lebensweise unserer Vorfahren: Nachdem vor gut 8000 Jahren die ersten Bauern aus dem Mittelmeerraum eingewandert waren, wurden die ursprünglichen Jäger und Sammler immer weiter zurückgedrängt, die Landwirtschaft wurde zur Lebensgrundlage der jungsteinzeitlichen Mitteleuropäer.
 

Rekonstruktion einer jungsteinzeitlichen Siedlung der Linearbandkeramik-Kultur mit typischen Langhäusern. 

Die Menschen lebten in dörflichen Gemeinschaften, bauten Emmer, Einkorn, sowie Erbsen und Linsen auf gemeinschaftlich bewirtschafteten Feldern an und begruben ihre Toten in Einzelgräbern auf Friedhöfen außerhalb des Dorfes. Auch erste Nutztiere wie Rinder, Schweine, Schafe und Ziegen hielten die Angehörigen der sogenannten Linearbandkeramik bereits, diese Tiere spielten aber noch eine eher geringe Rolle für die Nahrungsversorgung.
 
Alles wird anders

Doch vor rund 5.000 Jahren wandelt sich das Bild: „Wir sehen nun plötzlich Einzelhöfe von Familien statt der Gemeinschaftsdörfer“, berichtet Kristian Kristiansen von der Universität Göteborg. „Es entsteht eine sehr viel individualistischere Kultur, die um Kernfamilien organisiert ist.“ Gleichzeitig beginnen die jungsteinzeitlichen Bauern nun, vermehrt Rinder zu halten und züchten. Die Milch und das Fleisch ihres Viehs nehmen einen größeren Anteil in ihrem Speiseplan ein. Typisch für die sogenannte Schnurkeramik-Kultur sind zudem Tongefäße, denen in den feuchten Ton eingedrückte Schnüre ein charakteristisches Muster verleihen.

Im Grabhügel wurden die Toten in Hockstellung bestattet – hier eine ganze Familie.

Und noch etwas ändert sich: „Man sieht eine Veränderung in den Begräbnisritualen“, erklärt Kristiansen. Statt in den zuvor üblichen Einzelgräbern werden die Toten nun immer häufiger in Grabhügeln bestattet, in denen Eltern und Kinder gemeinsam liegen. Die Toten in diesen Hügelgräbern liegen in Hockstellung in einer zentralen, oft von Holzbalken getragenen Kammer und sind oft mit Ocker bestäubt.

Auffallende Ähnlichkeiten

Was aber brachte diesen Wandel mit sich? Sind es einfach nur Weiterentwicklungen innerhalb der bestehenden Kulturen oder gibt es möglicherweise äußere Einflüsse? Tatsächlich machen vor allem die neuen Grabhügel einige Archäologen stutzig: Sie gleichen in ihrer Anlage und Form auffallend denen der Jamnaja – einer in der Bronzezeit in der eurasischen Steppe verbreiteten Kultur von halbnomadischen Viehzüchtern.

Die Jamnaja sind ursprünglich in den weiten Steppen nördlich des Schwarzen und Kaspischen Meeres heimisch. Auf der Suche nach Weidegründen für ihre Herden ziehen sie in von Rindern und Pferden gezogenen Karren über das Land und dringen in der frühen Bronzezeit bis ins Donautal und das östliche Mitteleuropa vor.

Könnten diese Steppennomaden die Urheber des bronzezeitlichen Kulturwandels in Europa gewesen sein? Während einige Archäologen dies durchaus für wahrscheinlich halten, bleibt diese Hypothese zunächst stark umstritten. Doch das hat sich inzwischen geändert.
 
Gene verraten Herkunft unserer Vorfahren
Die dritte Welle

In den letzten zehn Jahren haben moderne Biotechnologien auch unsere Sicht auf die Vergangenheit dramatisch verändert. Denn neue Methoden erlauben es nun, selbst aus Jahrtausende alten Knochen und anderen menschlichen Überresten noch Erbgut zu gewinnen und zu analysieren. Dies eröffnet völlig neue – und oft überraschende – Einblicke in das Leben und die Welt unserer Vorfahren.


Bronzezeitliche Grabhügel aus der Zeit um 3.500 vor Christus – von den Toten aus solchen Gräbern haben Forscher DNA-Proben analysiert.

Spurensuche im Genom

Dies gilt auch für die Frage, wer oder was den großen kulturellen Wandel vor rund 5.000 Jahren in Europa auslöste. „Wir wollten verstehen, wie diese enormen wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen zustande kamen, die sich zu Beginn des dritten Jahrtausends vor Christus vom Ural bis nach Skandinavien ausbreiteten“, erklärt Eske Willerslev von der Universität Kopenhagen.

Für ihre Studie analysierten Willerslev und sein Team genetisches Material von 101 menschlichen Überresten aus Europa und Vorderasien. Das Alter der Gebeine reichte von etwa 6000 bis 900 vor Christus und umspannte damit auch die Umbruchszeit vor rund 5.000 Jahren. Parallel dazu führten Forscher um David Reich von der Harvard University ähnliche Studien durch.

Abrupter Genaustausch

Das überraschende Ergebnis: Vor rund 5.000 Jahren wandelte sich nicht nur die Kultur in Mitteleuropa, sondern auch die genetische Zusammensetzung der Bevölkerung – das belegen beide Studien. „Wir waren erstaunt, wie stark und schnell dieser genetische Wandel zwischen der neolithischen und der Schnurkeramik-Kultur war“, sagt Willerslev. Während zuvor eine Mischung von DNA der alten Jäger und Sammler und der aus dem Mittelmeerraum stammenden Urzeitbauern vorherrschte, dominierten nun plötzlich ganz andere Gene.

„Rund 75 Prozent der DNA der Schnurkeramiker in Deutschland lässt sich auf die Jamnaja zurückführen“, berichten Reich und sein Team. Und weiter nördlich, in Großbritannien, war der Wechsel sogar noch dramatischer: Vor rund 4.5000 Jahren wurde dort die heimische Bevölkerung, zu denen auch die Erbauer von Stonehenge gehören, zu fast 90 Prozent von neueinwandernden Populationen ersetzt, wie die DNA-Analysen enthüllten. Innerhalb weniger hundert Jahre lösen die aus den Steppenreitern hervorgegangenen Angehörigen der Glockenbecherkultur die alte Bevölkerung ab.


Die DNA-Analysen belegen, dass die Schnurkeramik nicht nur kulturell vom Einfluss der Jamnaja geprägt war, sondern auch genetisch
. 
„Eine Geschichte der Migration“

„Diese Ergebnisse werden viele Menschen erschüttern“, sagt Barry Cunliffe von der University of Oxford. „Selbst für uns Archäologen ist dies absolut überwältigend. Denn einen so hohen Anteil von Steppennomaden-DNA hätten wir uns zuvor selbst in unseren kühnsten Träumen nicht vorstellen können.“ Sein Kollege Kristian Kristiansen von der Universität Göteborg ergänzt: „Das ist bahnbrechend. Die gesamte Geschichte muss nun umgeschrieben werden – zu einer Geschichte der Mobilität und Migration.“

Der Blick in die Gene bestätigt damit, dass die Vorgeschichte der Europäer drei großen Migrationswellen geprägt wurde. Den Anfang machte vor rund 45.000 Jahren der Homo sapiens, der aus Afrika nach Europa einwanderte und dort den seit hunderttausenden Jahren etablierten Neandertaler ablöste. Die zweite Welle folgte vor rund 8.000 Jahren, als Einwanderer aus dem Mittelmeerraum die Kulturtechnik der Landwirtschaft nach Europa brachten und damit die neolithische Revolution auslösten.

Die dritte große Welle war der Vorstoß der Jamnaja aus den eurasischen Steppengebieten vor rund 5.000 Jahren. Der Einstrom dieser Steppennomaden führte zu einem großen Wandel in den etablierten Kulturen Europas und gab den Anstoß zu vielen Neuerungen, die das Leben unserer Vorfahren für immer veränderten.

Was machte die Steppennomaden so erfolgreich?
Seuchen, Kampf und frische Milch

 Doch auch wenn nun klar ist, dass eine bronzezeitliche Kultur von Steppennomaden das Leben unserer Vorfahren für immer veränderte, bleibt eine Frage offen: Wie gelang es diesen Neuankömmlingen aus der Steppe, sich so radikal gegen die ortsansässigen Bauern durchzusetzen? Wie schafften sie es, die heimische Bevölkerung sowohl kulturell als auch genetisch so stark zu beeinflussen?

Schnurkeramikgefäß, Axt und Bernsteinscheiben (links) sowie Waffenspitzen aus Knochen und Bronze der Jamnaja
 
Einer der Gründe könnten eingeschleppte Seuchen gewesen sein. Denn etwa um die Zeit der Jamnaja-Einwanderung sank die Bevölkerungsdichte unter den jungsteinzeitlichen Bauern in Mitteleuropa deutlich, wie Genstudien belegen. Die Steppennomaden fanden demnach große Landstriche vor, die fast verwaist waren – und konnten sich dort ungehindert niederlassen.

Gleichzeitig fanden die Forscher bei der DNA-Analyse der Jamnaja-Einwanderer Hinweise auf eine Infektion mit der Pest. Nähere Analysen deuten darauf hin, dass der Erreger dieser Seuche damals unter den Bewohner der eurasischen Steppe grassierte. Als diese dann nach Mitteleuropa kamen, trafen sie auf eine Population, deren Immunsystem kaum Abwehrkräfte gegen diesen neuen Erreger hatte.

„Die Seuchendynamik könnte ähnlich gewesen sein wie bei der europäischen Eroberung der Neuen Welt nach Kolumbus“, erklärt Kristian Kristiansen von der Universität Göteborg. „Die Jamnaja könnten die Pest nach Europa gebracht und damit einen massiven Populationskollaps ausgelöst haben.“

Jungmänner auf der Suche nach einer Existenz

Ein weiterer Grund für den Erfolg der Steppennomaden könnte die Zusammensetzung der Neuankömmlinge gewesen sein: Während die ersten Bauern meist mitsamt ihrer Familien in die neuen Gebiete aufbrachen, waren es bei den Jamnaja vorwiegend Gruppen junger Männer, die nach neuen Weidegründen in Europa suchten. Den DNA-Analysen, aber auch archäologischen Funden zufolge kamen unter diesen Neuankömmlingen auf zehn Jamnaja-Männer nur eine Frau.

„Diese große Dominanz der Männer lässt sich durch die alte indoeuropäische Tradition der Kriegerbanden erklären“, sagt Kristiansen. „Diese bestanden aus jungen Männern, die kein Erbe zu erwarten hatten und daher eher dazu motiviert waren, ihr Glück anderswo zu suchen.“ Als diese Gruppen dann im jungsteinzeitlichen Mitteleuropa die Chance auf eine neue Existenz fanden, ergriffen sie sie. Sie wurden Teil der jungsteinzeitlichen Gemeinschaften, suchten sich Frauen unter der einheimischen Bevölkerung und gründeten Familien.

Wie effektiv sie dabei waren, belegt eine weitere DNA-Studie. Denn sie weist nach, dass zwei Drittel der europäischen Männer von nur einer Handvoll Urvätern abstammen – höchstwahrscheinlich den Jamnaja-Männern. Tatsächlich könnten die Steppennomaden für die Frauen der heimischen Bevölkerung attraktive Partner gewesen sein: Sie waren groß und gesund, besaßen bessere Waffen, schnelle Pferde und brachten viele hilfreiche Kulturtechniken mit – darunter Pferdewagen, Erfahrungen in der Viehzucht und der Milchverarbeitung.

Wie heute noch bei den Nomaden der Mongolei spielte Milch eine wichtige Rolle für die Ernährung der Jamnaja.
 
Laktosetoleranz als genetisches Mitbringsel

Und noch etwas brachten die Jamnaja mit: die Fähigkeit, den Milchzucker Laktose abzubauen. Weil Milch und Käse bei den Steppennomaden schon lange ein wichtiger Teil der Ernährung waren, hatte bei ihnen eine genetische Selektion zugunsten der Laktosetoleranz stattgefunden. Die meisten Jamnaja besaßen daher die Gene, die die Produktion des milchzuckerabauenden Enzyms Laktase ermöglichten. Und als die Jamnaja nach Mitteleuropa kamen und sich dort mit den heimischen Bauern mischten, gaben sie diese Gene weiter.

„Zuvor war die gängige Ansicht, dass sich die Laktosetoleranz im Nahen Osten oder auf dem Balkan entwickelt hat – in Verbindung mit dem Aufkommen der Landwirtschaft“, erklärt Martin Sikora von der Universität Kopenhagen. „Aber jetzt sehen wir, dass die Mutation dafür selbst in der Bronzezeit in Europa noch sehr selten war.“ Die Forscher vermuten daher, dass die genetische Basis für diese Fähigkeit erst mit den Jamnaja nach Europa kam und sich dann allmählich ausbreitete.  

Woher kamen die Jamnaja?
Die vierte Welle.

Woher kamen die Jamnaja, das Volk von Steppennomaden, denen die Europäer einen großen Teil ihres genetischen und kulturellen Erbes verdanken? Klar scheint, dass diese Steppennomaden keine Asiaten waren, sondern eher kaukasischer Herkunft. Obwohl sie bis nach Zentralasien verbreitet waren, unterschieden sie sich rein äußerlich kaum von den Europäern. Aber wo lagen ihre Ursprünge?


Mit Ocker bestäubter Schädel eines Jamnaja und eine Rekonstruktion seines Aussehens – er wirkte europäisch.
 
„Die Frage, woher die Jamnaja kommen, war bisher ein Rätsel“, erklärt Andrea Manica von der University of Cambridge. Ein Teil ihrer genetischen Wurzeln lässt sich auf die „Westlichen Jäger und Sammler“ zurückführen – die Gruppe mittelsteinzeitlicher Populationen, die einst von Spanien bis zum Ural verbreitet war. Doch der Rest des Jamnaja-Erbguts passte in keine der bekannten Volksgruppen. „Die Jamnaja besaßen eine große genetische Komponente, die wir nicht zuordnen konnten“, sagt Manica.

Vorfahren aus dem Kaukasus

Im Jahr 2015 jedoch kamen den Forschern zwei Fossilfunde aus Georgien zu Hilfe – ein 13.000 Jahre alter Schädel und ein 10.000 Jahre alter Menschenzahn. Als Manica und sein Team die DNA dieser Funde analysierten, entdeckten sie Überraschendes: Diese Steinzeitmenschen schienen keiner der bisher bekannten Jäger-und-Sammler-Gruppen anzugehören – besaßen aber auffallende Übereinstimmungen mit dem Erbgut der Jamnaja.

Offenbar hatten sich Angehörige dieser Volksgruppe aus dem Kaukasus einst mit den Vorfahren der Jamnaja vermischt und so ihre Gene in deren Erbgut hinterlassen. „Damit bildet diese Steinzeit-Population aus dem Kaukasus den vierten Hauptstrang der europäischen Ahnenreihe“, sagt Manica. „Durch die Jamnaja hat diese urzeitliche Gruppe zu den meisten modernen Populationen Europas beigetragen, vor allem im nördlichen Teil des Kontinents.“

Blick aus der Satsurblia-Höhle in Georgien, hier wurde ein Schädelknochen des mysteriösen Kaukasusvolks entdeckt.

Sie kamen bis nach Indien

Und noch ein Rätsel könnte die während der gesamten letzten Eiszeit im Kaukasus isolierte Population lösen: Woher der europäische Genanteil in der nordindischen Bevölkerung stammt. Denn wie die genetischen Vergleichsdaten enthüllten, gehen deren europäische DNA-Anteile ebenfalls auf dieses Kaukasus-Volk zurück. Die Menschen dieser Population müssen demnach irgendwann nach der Eiszeit sowohl in die eurasische Steppe als auch nach Osten Richtung Asien gezogen sein.

Das wiederum wirft ein ganz neues Licht auf ein weiteres wichtiges Erbe der Vergangenheit – unsere Sprachen.

Woher kommt die Indoeuropäische Sprachfamilie? 
Das Rätsel unserer Sprache

Ob Deutsch, Italienisch, Griechisch oder Urdu und Sanskrit – all diese Sprachen haben eine Gemeinsamkeit: Trotz ihrer Verbindung mit ganz unterschiedlichen Kulturen gehören sie alle zur großen Sprachfamilie des Indoeuropäischen. Sie besitzen eine gemeinsame Wurzel, die bis in die Anfänge der Bronzezeit und darüber hinaus reicht.


Heutige Verbreitung der verschiedenen Gruppen der indoeuropäischen Sprachfamilie.

Gemeinsamkeiten auch mit Persisch und Sanskrit

Bei einigen indoeuropäischen Sprachen ist die gemeinsame Herkunft relativ leicht erkennbar: Vor allem das Englische, Deutsche, Niederländische und auch Skandinavische nutzen viele ähnliche Wörter. Doch auch bei den romanischen Sprachen wie dem Italienischen, Französischen oder Spanischen gibt es verwandte Begriffe – dazu gehören beispielsweise die Bezeichnungen für enge Familienangehörige wie Bruder, Schwester, Mutter und Vater, aber auch die meisten Zahlwörter oder und viele Personalpronomen.

Aber wie sieht es mit Urdu, Sanskrit oder dem Iranischen aus? Bei diesen im mittleren Osten und in Asien gesprochenen Sprachen finden sich auf den ersten Blick kaum Gemeinsamkeiten mit den europäischen Sprachen. Doch das täuscht. Selbst in Indien, im Iran oder in Bangladesch haben die Menschen einige Wörter genutzt, die uns bekannt vorkommen dürften: Der „Bruder “ ist im Altindischen „Bhrater“, im Altiranischen ein „Bratar“. Das „Knie“ ist im Altindischen ein „Janu“ und damit dem französichen „Genu“ auffallend ähnlich, im Altiranischen ist es ein „Zanu“.

Ist Indien die Wiege unserer Sprachen?

Diese Gemeinsamkeiten fielen schon Ende des 16. Jahrhunderts einem florentinischen Kaufmann auf, der über die Seidenstraße nach Persien und bis nach Indien reiste. Auch andere Gelehrte erkannten bald diese Parallelen und kamen zu dem Schluss, dass es eine gemeinsame Ursprache gegeben haben müsse – die indoeuropäische Ursprache. Doch wo hatte diese Ursprache ihren Ursprung? Und auf welchem Wege breitete sie sich aus?

Lange galt Indien als Wiege der indoeuropäischen Sprache, denn dort vermutete man die ältesten Wurzeln. Inzwischen jedoch haben die Genstudien der Archäologen kombiniert mit neuen Methoden der Linguistik ein neues Licht auf die Herkunft unserer Sprachen geworfen. Denn die neuen Erkenntnisse zu den Migrationswellen der Jungsteinzeit und Bronzezeit legen nahe, dass mit diesen Neuankömmlingen auch neue Sprachen nach Europa kamen.

Ursprache
Ursprungsregionen der indoeuropäischen Ursprache nach der Anatolien- und nach der Steppen-Hypothese.

Ursprung in Anatolien?

Aber mit welchen? Brachten die jungsteinzeitlichen Bauern aus Anatolien die indoeuropäische Sprache zu uns oder die später eintreffenden Steppennomaden? Die Antwort ist bisher strittig – und Studien haben widersprüchliche Ergebnisse erbracht.

Argumente für eine jungsteinzeitlich-anatolische Wurzel der indoeuropäischen Sprachen lieferte 2012 eine Studie von Quentin Atkinson von der University of Auckland. In ihr analysierten die Forscher 6.000 sogenannte Kognate aus insgesamt 103 ausgestorbenen und noch existierenden indoeuropäischen Sprachen. Kognate sind Wörter, die aus einem gemeinsamen Ursprungsbegriff entstanden sind und die es so erlauben, einen Stammbaum der Sprachen zu rekonstruieren.

Die Forscher kamen zu dem Schluss, dass die indoeuropäischen Sprachen ihren gemeinsamen Ursprung vor 8.000 bis 9.000 Jahren im heutigen Anatolien haben müssen. Allerdings berücksichtigten sie für ihre Analyse ausschließlich Wörter, nicht aber Sprachstruktur, Grammatik und andere Sprachmerkmale, wie andere Linguisten kritisieren. Auch archäologische Funde bezogen Atkinson und sein Team nicht mit ein.

…oder doch in der eurasischen Steppe?

Dem gegenüber stehen mehrere Studien, die eher für einen Steppen-Ursprung der indoeuropäischen Sprachen sprechen – sowohl auf linguistischer als auch auf genetischer Basis. So ergab eine ebenfalls mithilfe von Kognaten durchgeführte Rekonstruktion des Sprachstammbaums durch Linguisten um Will Chang von der University of California in Berkeley, dass die indoeuropäische Ursprache erst rund 6.000 Jahre alt ist – zu jung für eine Einführung mit den ersten Bauern.

Angesichts der neuen Erkenntnisse zu den Jamnaja und ihren Wurzeln könnte die Wiege der indoeuropäischen Sprache nach Ansicht vieler Forscher im Kaukasus und den benachbarten Steppengebieten gelegen haben. Als dann die Vorfahren der Jamnaja sich nach Westen und Osten ausbreiteten, brachten sie Varianten dieser Ursprache nach Europa, aber auch in de Mittleren Osten und nach Indien.

Allerdings: Eindeutig geklärt ist das Rätsel um unsere Ursprache noch immer nicht – wie die Verfechter beider Hypothesen einräumen. Ob demnach die Steppennomaden uns einst die indoeuropäische Sprache mitbrachten oder schon vorher die jungsteinzeitlichen Bauern, bleibt vorerst im Dunkel der Frühgeschichte verborgen.

Dienstag, 26. November 2019

Deutschlands Dilemma als halber Hegemon.


aus FAZ.NET, 25.11.2019

Amerika zieht sich zurück, China trumpft auf. Deutschland muss nicht nur mehr für Sicherheit tun, sondern auch das eigene Wirtschaftssystem infrage stellen, bevor es zu spät ist. Ein Gastbeitrag.

Von Hans Kundnani

Noch vor zehn Jahren schien Deutschlands Platz in der Welt klar definiert zu sein. Außenpolitische Debatten betrafen damals vor allem die Beteiligung Deutschlands an den sogenannten Out-of-Area-Einsätzen der Nato. Während der 1990er schien sich Deutschland in der Frage von Militäreinsätzen allmählich in Richtung „Normalität“ zu bewegen, ein Prozess, der in den Einsätzen in Serbien 1999 und Afghanistan ab 2001 kulminierte. Ab den 2000ern jedoch begann auch Deutschland Militäreinsätze im Zuge der den gesamten Westen erfassenden Zweifel gegenüber Militärinterventionen wieder zunehmend skeptischer zu sehen, vor allem nach der fehlgeschlagenen Invasion des Irak 2003.

Mit Ausbruch der Eurokrise 2010 jedoch ist Deutschlands Zukunft zunehmend unsicher geworden. Die Krise löste eine abermalige Debatte über die deutsche „Hegemonie“ in Europa aus, die sich in Folge der Flüchtlingskrise 2015 intensivierte. Seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten 2016 ist die Zukunft der transatlantischen Allianz und der „liberalen internationalen Ordnung“ an sich ungewiss geworden. Wie wird Deutschland in einer Zeit agieren, in der scheinbar alles in Bewegung geraten ist – und die Analysten wie Wolfgang Streeck als ein Interregnum im Sinne Gramscis beschreiben?

Regelmäßig haben außenpolitischen Analysten die Probleme ignoriert, die im Verlauf der Eurokrise aufgetaucht sind. Was allerdings nicht heißt, dass diese gelöst worden wären. Zwar provozierte das britische Chaos ein erneuertes rhetorisches Bekenntnis zum europäischen Projekt, aber die weitere Integration ist zum Stehen gekommen. Derweil verharrt Deutschland in einer problematischen Position der Halbhegemonie. In der Praxis bedeutet dies, dass das Land zwar die Kraft zur Festlegung der Regeln hat, nicht aber, um sie durchzusetzen. Andere Staaten sind derweil stark genug, um die Regeln zu brechen, nicht aber sie zu ändern.

Die Serie von Krisen, denen sich die EU seit 2010 gegenübersieht, hätten eine Chance sein können. Während der Eurokrise warfen die Länder Südeuropas Deutschland mangelnde „Solidarität“ vor. Aber in der Flüchtlingskrise forderte dann auf einmal Deutschland „Solidarität“ von den anderen Mitgliedsstaaten. Dies hätte durchaus eine Grundlage für einen umfassenden Deal sein können, basierend auf einem gemeinsamen Verständnis von Rechten und Pflichten zwischen EU Mitgliedsstaaten, die sowohl Teil des Euroraums als auch von Schengen sind, also eines de facto „europäischen Kerns“. Doch statt sie miteinander zu verbinden, suchte Deutschland beide Fragen zu entkoppeln. Europa ist in der Falle, wie Claus Offe es formuliert hat.

Die Wahl Donald Trumps könnte sich als der größte strategische Schock für ganz Europa herausstellen. Für Berlin stellt er ein besonderes schwieriges Dilemma dar. Deutschlands Position der Halbhegemonie innerhalb Europas war von einer bestimmten Konfiguration der liberalen internationalen Ordnung abhängig, in der Deutschland einen Freifahrtschein genoss. Gemeint sind hierbei insbesondere die Sicherheitszusagen der Vereinigten Staaten, die Fragen militärischer Macht in den innereuropäischen Beziehungen im Prinzip irrelevant machten, und die Rolle Amerikas als endlos verfügbarer Konsument zu nennen. Heute ist Washington hierzu weniger willens und könnten die eigene Hegemoniestellung aufgeben.

Die Unwägbarkeiten in Bezug auf die amerikanischen Sicherheitszusagen an Europa führten zu einer Spaltung der strategischen Gemeinde in Deutschland zwischen Atlantikern und Post-Atlantikern. Während Atlantiker dazu neigen, die strukturelle Verschiebung in der amerikanischen Außenpolitik zu unterschätzen, verkennen die Post-Atlantiker das Ausmaß der Schwierigkeiten vor denen Europa bei der Entwicklung strategischer Autonomie als Alternative zu den amerikanischen Sicherheitsgarantien steht. Problematisch ist dabei, dass selbst vorsichtige Schritte Europas in Richtung Unabhängigkeit das amerikanische Engagement weiter schwächen könnten.

Die Deutschen fühlen sich einfach nicht bedroht

Während aber sowohl Atlantiker als auch Post-Atlantiker über die Notwendigkeit sprechen, auf neue Gefahren in einer zunehmend gefährlichen Welt zu reagieren, scheint die deutsche Bevölkerung mehr über den potentiellen Verlust ihrer Identität als Friedensmacht besorgt zu sein. Trotz der Unsicherheiten in Bezug auf die amerikanischen Sicherheitsgarantien, fühlen sich die Deutschen einfach nicht bedroht. Viele sähen heute die Übernahme größerer „Verantwortung“ und dabei insbesondere eine drastische Steigerung der Verteidigungsausgaben, als ein Zugeständnis an Trump und seine Politik.

Die zukünftigen Beziehungen Deutschlands zu China sind auch mit der Rolle Deutschlands in Europa und der Beziehung zu den Vereinigten Staaten verknüpft. Während der vergangenen Dekade ist Deutschland zunehmend abhängig von China als Exportmarkt geworden – insbesondere nachdem im Verlauf der Eurokrise die Nachfrage aus Europa zurückging. Es entwickelte sich in der Folge eine enge politische Beziehung zwischen Berlin und Peking. Die Krise hat den Westen in Überschuss- und Defizitländer gespalten und China und Deutschland zusammengeführt.

Als China unter Xi Jingping mittelständische Unternehmen aufzukaufen und zunehmend autoritär zu werden begann, schien Deutschland chinaskeptischer und offener für ein härteres Vorgehen basierend auf einer stärkeren transatlantischen Koordination zu werden. Doch die Wahl Donald Trumps gab der Vorstellung von Europa als einem eigenständigen Pol in einer multipolaren Welt in einem Dreieck mit China und den Vereinigten Staaten neuen Auftrieb. In China sehen viele insbesondere in Fragen des Klimawandels den vielversprechenderen Partner – und jüngst schien die deutsche Regierung sogar das Interesse an einer noch im Entstehen begriffenen härteren europäischen Gangart zu verlieren.

Deutschland muss sein Wirtschaftsmodell überdenken

Hinter diesen verschränkten außenpolitischen Herausforderungen steht Deutschlands ungebrochenes Bekenntnis zu einem exportbasierten Wirtschaftsmodell, dass trotz seiner im letzten Jahrzehnt sichtbar gewordenen Schwächen weithin als erfolgreich angesehen wird. Dieses Wirtschaftsmodell hat eine Korrektur der makroökonomischen Ungleichgewichte innerhalb der Eurozone erschwert und steht dem langfristigen Bestand einer gemeinsamen Währung im Weg. Zudem hat es die Amerikaner erbost und Deutschland besonders verwundbar für Trumps Angriffe und so abhängig von einem autoritären China gemacht.

Ein Überdenken des eigenen Wirtschaftsmodells ist daher die vielleicht größte Herausforderung, vor der Deutschland steht. Das wäre nicht nur für Deutschlands Partner in der Nato und der EU gut, die von einer steigenden Binnennachfrage profitieren würden, sondern auch für Deutschland selbst. Deutschlands Wettbewerbsbesessenheit hat die Ungleichheit und die politische Unsicherheit gefördert. Die bröselnde Infrastruktur des Landes verlangt dringend Investitionen. Allerdings verbietet der politische Konsens in Bezug auf Deutschlands Identität als Exportnation ein solches Umdenken.

Die Frage ist, ob Deutschland zum Umdenken fähig ist, bevor es zu spät ist. Ganz allmählich ziehen sich die Vereinigten Staaten von ihrer Rolle als Hegemon zurück, die sie seit dem Zweiten Weltkrieg innehatten. Zunehmend scheinen sie nicht mehr zur Bereitstellung globaler Gemeinschaftsgüter wie Sicherheit und ökonomischer Nachfrage willens zu sein – insbesondere für Europa, von dem sie zu Recht glauben, dass es in der Lage sein sollte, für sich selbst zu sorgen. Während alles um sie herum in Bewegung gerät, scheinen die Deutschen zu glauben, sie könnten dennoch einfach so weitermachen wie bisher.

Viele sehen hierin einen Ausdruck von Deutschlands Bekenntnis zum Liberalismus – und sogar zu einer deutschen Führungsrolle in einer Situation, wo sich das Land zunehmend von „illiberalen“ Kräften umzingelt sieht. Solch ein binäres Schwarz-Weiß-Denken ist jedoch ein Fehler. Will Deutschland die liberale internationale Ordnung wirklich retten, muss das Land seine eigene Rolle innerhalb dieser Ordnung ändern. Auf ökonomischer Ebene würde dies eine Ankurbelung der Binnennachfrage und eine Minderung der Exportabhängigkeit bedeuten. In Sicherheitsfragen bedeutete es, weit mehr für die Sicherheit Europas zu tun, oder, sollte Deutschland hierzu nicht bereit sein, sich die Frage zu stellen, welchen Preis das Land bereit ist, anderen im Gegenzug für diese Sicherheit zu zahlen.

Die englische Version dieses Gastbeitrages ist in der diesjährigen Ausgabe von „The Berlin Pulse“ erschienen, dem Begleitheft zum Berliner Forum Außenpolitik der Körber-Stiftung.


Nota. - Das ist so gut, dass ich es in voller Länge wiedergeben muss. Die FAZ wird es mir hoffentlich nach- sehen.
JE