Sonntag, 27. Oktober 2019

Auch die Ostler werden mit der Generation der Väter*innen abrechnen müssen.

Der Nischel in Chemnitz
aus nzz.ch, 26. 10. 2019

Wollen die Ossis an den Westen anschließen, müssen sie sich für die Welt öffnen
Die gegenwärtige Lage Ostdeutschlands ist paradox. Es geht den Ostdeutschen materiell so gut wie nie zuvor, und dennoch ist die Unzufriedenheit gross. Es zeigen sich gesellschaftspolitisch die Folgen einer Politik der Wohlstandssicherung, wo der ubiquitäre Primitivmarxismus ins Leere läuft.

von Mathias Brodkorb


Der Untergang der DDR kam mir vor wie eine Science-Fiction-Serie. Das lag an einer privilegierten Situation. Im Jahr 1977 in Rostock geboren, wanderte ich 1987 gemeinsam mit meinem Bruder zu meinem Vater nach Österreich aus. Wir verfolgten das Geschehen also bloss vom Fernseher aus und konnten es nicht fassen. Gebannt starrten wir jeden Tag nach der Schule stundenlang auf den Bildschirm und versuchten zu verstehen, was sich in der Heimat gerade abspielte. Es roch nach Freiheit. Die verschaffte sich für uns seit zwei Jahren vor allem in Unmengen an Haribo-Goldbären, Mamba-Kaubonbons und Tic Tac ihre kindliche Geltung.

Erst, als ich 1992 in meine Heimatstadt zurückkehrte, fielen mir die mentalitätsgeschichtlichen Parallelen zwischen Ostdeutschland und Österreich ins Auge. So, wie die Alpenrepublik mit dem Nazismus nichts zu tun gehabt haben wollte, hatte auch die DDR den Antifaschismus zur Staatsdoktrin erhoben. Es war das reinge- waschene Deutschland, während in der Bundesrepublik NSDAP-Altkader über Jahrzehnte hinweg in Spitzen- positionen aufrücken konnten. Um die Wiedervereinigung herum wollten die meisten Ostdeutschen nichts Besonderes, sondern wollten einfach nur Deutsche in einem freien Land sein und vor allem eines: dazugehören. Das änderte sich blitzschnell.


Die Gründe hierfür sind vielfältig: Über Nacht brach die zwar gehasste, aber gewohnte gesellschaftliche Ordnung zusammen. Der Konsumrausch der Ossis erzeugte dabei nicht nur im Westen eine Goldgräberstim- mung – immerhin konnten nun alle möglichen Güter zu überhöhten Preisen in die Zone verklappt werden –, sondern zog die einheimische Wirtschaft erst richtig in den Keller. Der Arbeitsmarkt kollabierte. In zahlreiche frei gewordene Schlüsselpositionen rückten westdeutsche Eliten auf. Unter ihnen fand sich auch ein erheblicher Teil der dritten Garde Westdeutschlands, aus der jenseits der Grenze nicht ohne Grund bisher nichts geworden war.

Und schliesslich wurde das einst volkseigene Vermögen privatisiert. Von diesem Ausverkauf der ostdeutschen Heimat profitierte vor allem Westdeutschlands Mittel- und Oberschicht. Denn wovon hätten sich die Ossis Mehrfamilienhäuser in städtischer Bestlage oder Betriebsanlagen leisten können? Dass diesem Vermögen auch gigantische Schulden gegenüberstanden, die gesamtdeutsch sozialisiert wurden, wird in der ostdeutschen Opferperspektive dabei gerne übersehen. 

Die neuen Nehmerländer

Erst in dieser Gemengelage wurde aus dem Ostdeutschen mit gesamtdeutscher Sehnsucht der «Ossi». Die 1990er Jahre waren voll von antiwestdeutschen Emotionen. Diese Antipathie war personifiziert und nahm bisweilen ethnokulturelle Züge an. Ein Teil dieser Stimmung entlud sich in regelmässig steigenden Wahlergebnissen der SED-Nachfolgepartei. Auch ich wurde für ein paar Jahre ihr Mitglied. Für die heranwachsende Generation gab es unter diesen Voraussetzungen nur zwei Möglichkeiten: Entweder man packte nach der Schule seine Klamotten und ging in den Westen. Oder man quälte sich durchs Abitur. Nicht, weil man studieren wollte, sondern, weil auch einfachste Ausbildungsberufe anders nicht zu haben waren. In meiner Abiturientengeneration standen nur für die Hälfte der Schulabsolventen Ausbildungsplätze zur Verfügung.

Ab dem Jahr 2000 entspannte sich die Lage. Nicht, weil sie deutlich besser geworden wäre. Aber man hatte sich an die neue Ordnung und ihre Regeln gewöhnt. Wer etwas werden wollte, ging in den Westen und kam meist auch nicht zurück. So war das eben. Dieser demografische Aderlass verstärkte eine Katastrophe, die sich bereits rund um die Wende abgespielt hatte. Die Zahl der Geburten brach seinerzeit innerhalb weniger Jahre auf bis zu ein Drittel ein und erholte sich davon nur mässig. So etwas hatte es in Europa nicht einmal zu Kriegszeiten gegeben. Während die Wirtschaft in einem Überangebot an gut qualifizierten Nachwuchskräften baden und so die Löhne niedrig halten konnte, verschärfte die dramatische Geburtenentwicklung in Kombination mit Abwanderungswellen die Situation für die öffentliche Hand.

Alle ostdeutschen Länder sind bis heute aufgrund zu geringer eigener Steuereinnahmen «Nehmerländer» im sogenannten Länderfinanzausgleich. Sie erhalten Zuschüsse vor allem anhand der Einwohnerzahl. Ausbleibende Geburten und die Abwanderung von Fachkräften führten folglich zu massiven Finanzverlusten. Als dann Anfang der 2000er Jahre infolge einer Wirtschaftskrise und der rot-grünen Steuerreform die öffentlichen Finanzen kollabierten, leiteten alle ostdeutschen Länder rund zehn Jahre nach der Wende eine zweite Phase der Transformation ein. Während in der ersten Phase durch Etablierung der Marktwirtschaft die gesamte Gesellschaft durcheinandergewirbelt wurde, schnitt nun der Staat nochmals brutal in seine Strukturen ein und passte sie an die neue Realität an. Allein in Mecklenburg-Vorpommern wurde innerhalb weniger Jahre ein Viertel aller Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen. 

«Prekariat» wählt AfD

Im dritten Jahrzehnt nach der Wende allerdings begann sich der Wind zu drehen und die demografische Situation vollständig umzukehren. Nunmehr schieden jährlich weit mehr Menschen aus dem Erwerbsleben aus, als Nachwuchskräfte nachrücken konnten. Heute ist die Zahl der Schulabgänger nicht mehr doppelt so hoch wie die Zahl der Lehrstellen. Es ist genau umgekehrt. Die Folgen davon werden Jahr für Jahr deutlich spürbarer. Es fehlt nicht an Unternehmen, nicht an Kapital – es fehlt an Arbeitskräften. Der in Europa allseits beklagte Fachkräftemangel erreicht im Osten Deutschlands und in Osteuropa aufgrund des Zusammenbruchs der Geburtenzahlen rund um das Jahr 1990 völlig andere Dimensionen.

Der jungen Generation stehen heute alle Türen offen. Wer sich anstrengt und zielstrebig ist, muss nicht mehr in den Westen gehen, sondern kann ebenso gut im Osten seinen Weg machen. Aber nicht alle können das. Ein erheblicher Teil ist in Familien gross geworden, die nach der Wende arbeitslos und gesellschaftlich depriviert waren. Zwar erhielt der Sozialstaat die Konsumströme aufrecht, aber vielen wurde mit ihrem Arbeitsplatz ihre Würde und Selbstachtung genommen. Und dies blieb auch für die Kinder dieser Familien nicht ohne Folgen. Man nennt sie heute das «Prekariat». Und viele von ihnen wählen die AfD.

Die Entwicklungen nach der Wende blieben mentalitätsgeschichtlich nicht ohne Folgen. Zwar gibt es sie noch immer, die Wessi-Witze, aber während sie in den 1990er Jahren von einer geradezu ethnokulturellen Verachtung Zeugnis ablegten, gehören sie heute eher zur Folklore. Die Ostidentität ist keine aggressive Anti-Wessi-Identität mehr. Das sieht man vor allem an den jüngeren Generationen. Wer nach der Wende geboren wurde, weiss ohnehin nicht mehr, wovon eigentlich die Rede ist. Eine repräsentative Umfrage der Otto-Brenner-Stiftung über die Nachwendegeneration belegt dies. Ob wirtschaftliche Lage, Lebensgefühl, politische Orientierung oder Zustimmung zur Demokratie – in allen wesentlichen Fragen sind sich die ost- und die westdeutsche Nachwendegeneration einig.

Wollen die Ostdeutschen weiterhin unter sich bleiben, wird dies nur um den Preis wirtschaftlicher Stagnation möglich sein. Strassenszene in Görlitz. (Bild: Sean Gallup / Getty)
Wollen die Ostdeutschen weiterhin unter sich bleiben, wird dies nur um den Preis wirtschaftlicher Stagnation möglich sein. Strassenszene in Görlitz.

Ostdeutsche Identität

Es gibt nur zwei wichtige Ausnahmen. Die Frage, ob es in der Wende gerecht zugegangen sei, beantwortet die ostdeutsche Nachwendegeneration auffallend häufiger mit einem Nein. Und ihre Identität ist deutlich häufiger «ostdeutsch» geprägt als die der Altersgenossen «westdeutsch». Überraschen kann das allerdings kaum, dürften sich hierin doch vor allem die Erfahrungen ihrer eigenen Eltern widerspiegeln. Dafür spricht, dass in ostdeutschen Elternhäusern Nachwendeerfahrungen deutlich häufiger thematisiert werden als in westdeutschen. Wer allerdings glaubt, dass der Ost-West-Mentalitätsunterschied durch die jüngeren Generationen in überschaubarer Zeit verschwinden werde, irrt. Die nachwachsenden Altersjahrgänge sind zahlenmässig so schwach vertreten, dass noch auf lange Zeit die älteren Generationen das kollektive Gedächtnis dominieren werden.

Auch sollte man die jüngsten AfD-Wahlergebnisse im Osten nicht als Anzeichen für ein Revival des alten Ost-West-Konflikts interpretieren. Es gibt auch westdeutsche Länder, in deren Landtagen die AfD mit Wahlergebnissen von bis zu 15 Prozent vertreten ist. In Wahrheit schlummert hinter den Wahlergebnissen der AfD in Ostdeutschland eine Verachtung des Staates sowie seiner Institutionen und Eliten. Auslöser hierfür war die Flüchtlingskrise des Jahres 2015 mit der von vielen Menschen empfundenen Unfähigkeit des Staates, der Lage noch Herr zu werden. Und dem AfD wählenden Ossi ist es dabei ganz gleichgültig, aus welchem Landstrich die von ihm verachteten Eliten stammen. Die AfD wird nicht in erster Linie als rechte Partei gewählt, sondern als Partei des Anti-Establishments. Deshalb stört es umgekehrt auch nicht, wenn an der Spitze ostdeutscher AfD-Landesverbände Wessis stehen.

Die heutige Lage Ostdeutschlands ist paradox. Es geht ihm materiell so gut wie nie zuvor, und dennoch ist die Unzufriedenheit gross. Es erweist sich als Fehler, Politik allein oder vor allem als eine Form der Wohlstandssicherung zu praktizieren. Dieser ubiquitäre Primitivmarxismus läuft ins Leere. Der Mensch lässt sich offenbar nicht auf die Funktion eines Konsumautomaten reduzieren. Und dennoch dürfte ausgerechnet die wirtschaftliche Entwicklung zum grössten Hemmschuh des nächsten Jahrzehnts werden. Während die Chancen für diejenigen, die sie wahrnehmen können und wollen, heute grösser sind als jemals zuvor, droht Ostdeutschland insgesamt die wirtschaftliche Schrumpfung.

Lösen lässt sich dieses Problem nicht dadurch, dass die ostdeutschen Länder weitere Almosen vom Bund verlangen und sich im Modus des Jammer-Ossis einrichten. Erforderlich wäre stattdessen eine Modernisierungsstrategie, die sich mit Macht nicht auf die Ausweitung sozialer Wohltaten, sondern auf die Stabilisierung der Fachkräftesituation stürzt. Ohne gezielte Zuwanderung wird sich die wirtschaftliche Entwicklung nicht stabilisieren lassen. Die Ossis müssen sich also entscheiden: Wollen sie unter sich bleiben, wird dies nur um den Preis wirtschaftlicher Stagnation möglich sein. Wollen sie wirtschaftlich an den Westen anschliessen oder zumindest nicht zurückfallen, müssen sie sich für die Welt öffnen. Die nachwachsende Generation Ostdeutschlands hat die dafür erforderlichen mentalen Voraussetzungen. Aber hat sie auch den Mut, den Konflikt mit den eigenen Eltern und Grosseltern zu suchen?

Mathias Brodkorb (SPD) ist Abgeordneter des Landtages von Mecklenburg- Vorpommern und war 2016–2019 Finanzminister von Mecklenburg-Vorpommern.


Nota. - Die Quintessenz steht, wie es sich gehört, im Schlusssatz. Die Bundesrepublik ist das geworden, was sie im Moment des Beitritts der Ost-Länder war, im Jahre 1968. Da hat der mehrheitliche Teil der Deutschen mit der Generation der Väter abgerechnet - schlecht und recht, gewiss, aber immerhin. Wenn der beigetretene Teil zur gemeinsamen Nation gehören will, muss er nachholen, was ihre Eltern sich ersparen konnten; und nun fällt's ihnen doppelt schwer, aber da müssen sie durch.
JE


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