Mittwoch, 2. Oktober 2019

Die Ostdeutschen waren schon im Hintertreffen, bevor es die DDR gab.


aus Spiegel-online

... Als Seismograph für die Situation in Deutschland eignet sich das Onlinelexikon Wikipedia. Darin gibt es Artikel über Zehntausende Deutsche wie den Tennisspieler Boris Becker oder die Schauspielerin Christiane Paul. Wer eine gewisse Bekanntheit erreicht, wird über kurz oder lang auf Wikipedia landen. In den meisten Fällen hängt dies mit der beruflichen Karriere der betreffenden Person zusammen.

Daten von 35.000 Personen analysiert

Eine SPIEGEL-Datenanalyse zeigt nun, dass Ostdeutsche auch im Onlinelexikon Wikipedia unterrepräsentiert sind. Liegt der Geburtsort einer Person in Westdeutschland, ist die Wahrscheinlichkeit deutlich höher, dass über diese Person ein eigener Wikipedia-Artikel existiert.

Die Datenanalyse umfasst alle Personenartikel in der deutschsprachigen Wikipedia mit einem Geburtsjahr von 1960 bis 1999 - und einem identifizierbaren Geburtsort innerhalb der Grenzen des heutigen Deutschlands. Dies sind fast 35.000 Personen. Um die regionale Wikipedia-Quote zu berechnen, wurde die Zahl der Personen mit Wikipedia-Artikel jeweils durch die Anzahl der in der Region Geborenen dividiert.

Die Auswertung zeigt: Westdeutsche sind auf Wikipedia deutlich präsenter als Ostdeutsche - vor allem in den Jahrgängen von 1960 bis 1985. Im Jahrgang 1960 gibt es über 12 von 10.000 in Westdeutschland Geborenen einen Personenartikel - unter den Ostdeutschen ist die Quote nur halb so hoch.

[um das Diagramm anzusehen, klicken Sie bitte hier.]

Ab dem Jahr 1990 sind die Quoten nahezu identisch. Allerdings sind aus diesen Jahrgängen nur relativ wenige Personen auf Wikipedia vertreten, weil sie mit ihrer Karriere noch ganz am Anfang stehen. 

Interessante Rückschlüsse erlaubt die separate Auswertung nach Bundesländern. Die Wikipedia-Quote wurde dabei über alle Jahrgänge von 1960 bis 1999 zusammen berechnet - siehe folgendes Diagramm:
Hamburg
19,7
Berlin
18,6
Bremen
13,9
Hessen
9,8
Bayern
9,7
Baden-Württemberg
9,4
Nordrhein-Westfalen
9,3
Rheinland-Pfalz
8,4
Saarland
8,2
Schleswig-Holstein
7,8
Niedersachsen
7,2
Thüringen
7,2
Sachsen
7,2
Mecklenburg-Vorpommern
6,8
Brandenburg
6,6
Sachsen-Anhalt
5,6
 
Auffällig sind dabei zwei Dinge:

  • Die höchsten Quoten erreichen die Stadtstaaten Hamburg, Berlin und Bremen. Berlin umfasst dabei Ost- und Westberlin, weil eine präzise Aufteilung der Personen in Ost und West nicht möglich war.
  • Auf den letzten Plätzen landen die fünf neuen Länder. Der Rückstand zu Niedersachsen und Schleswig-Holstein ist jedoch nur minimal.
Der Görlitzer Sozialwissenschaftler Raj Kollmorgen liefert eine interessante Erklärung für dieses Ranking: "Die unterdurchschnittliche Präsenz Ostdeutscher hat weniger mit der DDR als mit den Strukturen zu tun, die sich in Deutschland seit dem Mittelalter entwickelt haben." Der Osten Deutschlands sei deutlich stärker ländlich geprägt als der Westen. Daher seien großstädtische Sozialmilieus, die den "Humus moderner elitärer Kulturen" darstellten, deutlich weniger präsent.

[um das Diagramm anzusehen, klicken Sie bitte hier.] 

Für Kollmorgens These spricht, dass Niedersachsen, Schleswig-Holstein, das Saarland und Rheinland-Pfalz kaum besser abschneiden als die fünf neuen Länder. Überall dort, wo große Metropolen fehlen und ländliche Strukturen dominieren, gibt es weniger Menschen mit eigenem Wikipedia-Artikel.

"Gefeierte Erfinder, bekannte Künstler"

"Das ist ein soziodemografischer Effekt", meint Kollmorgen. Es seien vor allem die Bevölkerungen urbaner und großstädtischer Räume, deren Kinder gefeierte Erfinder würden, bekannte Künstler, Politiker oder erfolgreiche Unternehmer. "Daher muss Ostdeutschland mit seiner ländlichen Prägung schlechter abschneiden als Westdeutschland."

Wie sehr sich vor allem Großstädte vom Rest des Landes unterscheiden, zeigt der Blick auf die Wikipedia-Quoten der derzeit 15 größten Städte Deutschlands. Spitzenreiter ist demnach München mit 30 Wikipedia-Personen-Artikeln je 10.000 Geborene - für ganz Bayern beträgt die Quote 10.

München
29,9
Frankfurt am Main
25,2
Stuttgart
23,3
Hannover
21,0
Hamburg
19,7
Köln
19,3
Berlin
18,6
Düsseldorf
18,4
Dresden
14,8
Nürnberg
14,4
Leipzig
14,4
Bremen
13,9
Bochum
12,3
Essen
10,6
Duisburg
9,9
Dortmund
9,1


Dresden und Leipzig belegen im Städteranking die Plätze 9 und 11 (Quote 14 bis 15). Beide sächsischen Städte liegen damit vor Bremen, Bochum, Essen, Duisburg und Dortmund. Dass die Ruhrpottmetropolen vergleichsweise schlecht dastehen, liegt offenbar an ihrer besonderen sozialen Struktur. In den traditionellen Arbeiterstädten gibt es keine so starke bürgerliche Schicht wie in München, Köln oder Berlin.

Artikel über sich selbst angelegt?

Über welche Personen gibt es überhaupt Artikel auf Wikipedia? Schaut man sich die Beschreibungen genauer an, fällt auf, dass viele aus dem Bereich Unterhaltung, Medien und Sport stammen. Vergleichsweise selten sind hingegen Wissenschaftler, Politiker und Manager. Folgendes Diagramm zeigt die Verteilung der in der jeweiligen Kurzbeschreibung zuerst genannten Berufe beziehungsweise Tätigkeiten:

[um das Diagramm anzusehen, klicken Sie bitte hier.]


Praktisch in allen Berufen und Tätigkeiten kommen Westdeutsche auf eine deutlich höhere Wikipedia-Quote als Ostdeutsche - siehe folgendes Diagramm. Die einzigen Ausnahmen sind Sport - die DDR hat Leistungssport massiv gefördert - und Politik. 

West
Ost
Sport
3,3
3,4
Schauspiel
1,5
0,9
Journalismus/Autor
1,4
0,6
Politik
1,0
1,0
Musik
1,0
0,5
Geisteswiss.
0,5
0,1
Naturwiss./Medizin
0,4
0,1
Kunst
0,3
0,2
Wirtschaft
0,3
0,1

Personen-Artikel je 10.000 Geborene, Mehrfachnennungen bei Berufen möglich

...

Bloß keine Experimente!

Eine generelle Erklärung für die Ost-West-Unterschiede dürfte auch das größere Selbstvertrauen und die größere Risikofreude der westdeutschen Eliten darstellen. "Die Eltern Ostdeutscher raten nach ihren schlechten Erfahrungen in der Nachwendezeit dazu, sichere Wege zu gehen", erklärt Hildebrandt. Das Motto laute: Bloß keine Experimente! Um in Führungsjobs zu kommen, brauche man aber einen Schuss Risikolust.

Diese Risikofreude ist auch nötig, um künstlerische Berufe wie Schauspieler oder Musiker zu ergreifen, was im Westen laut den Wikipedia-Daten häufiger geschieht als im Osten. Womöglich spielt dabei auch die bessere finanzielle Absicherung über Eltern oder Partner eine Rolle. Dies lässt sich anhand der Wikipedia-Daten und wegen der Vielzahl der Personen jedoch kaum klären.

Die Potsdamer Bildungsforscherin Hildebrandt und ihr Görlitzer Kollege Kollmorgen sind sich auf jeden Fall einig darüber, dass dem Osten die Eliten fehlen, um präsenter in Spitzenjobs zu sein. Im Osten habe es keine bürgerliche Oberschicht gegeben, die selbst- und machtbewusst auftritt, sagt Kollmorgen. "Ein Elitenbewusstsein wurde in der DDR nicht gefördert, es passte nicht zur Ideologie des Arbeiter- und Bauernstaates." Den Ostdeutschen fehle vor allem der Stallgeruch der Macht, ein Habitus der Herrschaft.

Kollmorgen verweist zudem auf die massive Abwanderung aus Ostdeutschland nach 1945 - siehe folgendes Diagramm. Ein Großteil des Besitz- und Bildungsbürgertums sei damals in den Westen gegangen. "Es gab einen unglaublichen Abfluss kulturellen Kapitals." Folge: Die Kinder dieser ausgewanderten Ostdeutschen wurden dann im Westen geboren und machten dort Karriere.

[um das Diagramm anzusehen, klicken Sie bitte hier.] 

Letztlich, auch das zeigen die Wikipedia-Daten, gibt es nicht nur ein Ost-West-Gefälle in Deutschland. Sondern auch eines zwischen Nord und Süd, zwischen Stadt und Land sowie zwischen kriselnden und boomenden Regionen. Wer in Heidelberg, Köln oder München geboren wird, hat bessere Karrierechancen als Menschen aus Dessau, Gelsenkirchen oder Bremerhaven.


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